Geschlossene Gesellschaft
Ganz im Süden von Manhattan. Richtung One World Center. Wo einst zwei Türme standen, ragt ein schlanker Superturm noch kühner in den Himmel. Zu seinen Füßen Greenwich Village. Gleich nebenan das Viertel um die High Line. Ein schickes neues Stadtviertel entlang einer stillgelegten Hochbahn. Früher der Schlachthof New Yorks – heute Szeneviertel mit Restaurants, Clubs, Cafés. Wohnen als Investment oder Ausdruck der Zugehörigkeit zu den zahlungskräftigen Happy Few. Hier ist alles sündhaft teuer. Das Sandwich an der Ecke ist nicht unter zehn Dollar zu haben. Aber bitte mit Avocado! Der In-Frucht des New Yorkers.
Ein paar Ecken weiter das legendäre White Horse Tavern. Kneipe. Und Mythos. Hier feierte der Waliser Dylan Thomas seinen größten Triumph. Und sein Ende. Anfang November 1953 fand in der Nähe die szenische Premiere von Unter dem Milchwald statt. Zwanzig Jahre hatte Dylan am Text gearbeitet, geschwitzt, an jedem Wort gefeilt. Ein Stück für siebzig Stimmen. Im Mittelpunkt ein Tag im Leben einer kleinen walisischen Hafenstadt.
Eine Nahaufnahme von einfachen Bürgern, arm und reich, kleinen wie großen Glücksuchern. Von der Hafenhure Rosie Probert bis zum Bach-Fan Orgel-Morgan. Der Dylan-Sound geht so: „Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der Kleinen Stadt. Sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See. Die Zeit vergeht. Horch, die Zeit vergeht.“
Im White Horse Tavern logierte Dylan Thomas. Drei Tage und Nächte feierte das Team die Premiere. So viele Pints, so viele Schnäpse, so viel neue Pläne. Am 9. November 1953 dem dritten Tag war Dylan Thomas tot. Der geniale Dichter und grandiose Trunkenbold. Er wurde gerade einmal 39 Jahre alt. Aufgewachsen in der tiefsten Provinz, gefeiert und gestorben in New York. Die eigentliche Premiere erlebte er nicht mehr. Ein gewisser Robert Zimmermann verehrte ihn. Damals wie heute. Er nannte sich nach seinem Vorbild – heute hat Bob Dylan den Preis, den Dylan Thomas verdient hätte: den Nobelpreis für Literatur.
Der berühmte Theaterkritiker Friedrich Luft schrieb anlässlich der „eigentlichen“ Uraufführung in Edinburgh, 1955: „Seine quellende Sprache senkt sich wie ein warmer Regen über eine Landschaft des Alltags. Und siehe, nun blühen die Kleinstadtfiguren, werden spektakulär, werden in all ihrer Spießigkeit interessant, rund, tragisch oder komisch.“
Ich wollte auf den Großen Meister im White Horse Tavern anstoßen. Doch der alte Pub ist geschlossen. Für immer? Nein, die Kneipe soll nur renoviert werden, verspricht ein kleiner Zettel am Eingang. Ein paar „Upgrades“, heißt es, man wolle das „Erbe“ einer der „besten Kneipen in der Geschichte New Yorks“ nicht verspielen. Also keine Gentrifzierung wie nebenan mit Lofts für Millionen Dollar. Eine Nachbarin winkt ab. „Ob die je wieder aufmachen? Wir werden sehen.“
Dylans Milchwald spielt im fiktiven Llarregub. Rückwärts gelesen bedeutet es Bugger all = Rein gar nichts. Die Nichtsnutze. An der Kneipentür stand bis zur angekündigten Renovierung „Drink till late“. Was sollte man auch sonst tun? Die großartige Geschichte vom Milchwald schmuggelte sich auch in meine brandenburgischen Dorfgeschichte So viel Anfang war nie.
Es war in diesem Mai eine große Ehre das Buch vom kleinen Herzdorf im großen New York vorzustellen. Das geladene Publikum im Deutschen Generalkonsulat spitzte die Ohren. Am Ende waren alle mitgebrachten Bücher weg. Es hätten mehr sein können. Dummerweise sind Bücher schön, aber schwer. Den Abend zu feiern, muss nun verschoben werden. Ob es ein Comeback des alten White Horse Tavern gibt?
Das Theaterstück Unter dem Milchwald hingegen kommt wieder. Ende Juni 2019 steht es auf dem Spielplan des Theatersommers Netzeband – ein echtes Kultereignis seit über zwanzig Jahren. Nur eine gute Autostunde von Berlin entfernt – in der tiefsten und schönsten Provinz, die ich kenne.