Links vom Vanguard im Hintergrund das One World Center. Mai 2019

„Top of the world“

Eine lange Schlange vor dem Jazz-Club Village Vanguard. Anstehen für das zweite Konzert. Warten auf Ben Wendel. Ein Kanadier in New York. Am Ende der Straße leuchtet das One World Center. Errichtet auf den Trümmern des World Trade Center. Manhattan kurz vor halb elf abends. Gelbe Taxen huschen vorbei, hupen, halten. Starten durch. Die Menge verharrt geduldig. Der erste Durchgang ist vorbei. Das Halb-neun-Publikum strömt die Stufen aus dem Basement nach oben, verlässt den Club, wird verschluckt vom unablässigen Strom der Menschen, Autos, Busse, Bahnen.

Unten im Bauch des Vanguard viel roter Plüsch an den Wänden. Schwarz-Weiß-Fotos von Jazz-Größen. Sparsame Beleuchtung. Es ist klein, eng, dunkel und voll. Jeder Zentimeter ist verplant. Fleißige Kellnerinnen servieren das Fläschchen Bier zum Preis von acht Dollar. Der Hausherr startet routiniert seine Ansage. Rauchen, Fotografieren, alles nicht erlaubt. Strengstes Handyverbot. Aber ansonsten „Let us entertain you“ und natürlich „Have Fun“. Das Licht wird weiter heruntergedimmt. Am Nachbartisch hat ein Pärchen auf diesen Moment gewartet. Es geht in den Nahkampf über.

 

Spot an. Ben Wendel und sein Quartett entern aus dem dunklen Nichts die winzige Bühne. Der Saxophonist gilt als neuer Stern am Jazz-Himmel. In den USA handeln ihn die Medien als Mann der Zukunft, als Shooting Star. Er sei ein Talent von großer Bandbreite. Mit Kent Nagano gab er klassische Konzerte. Mit Pop-Größen wie Prince stand er auf der Bühne. Mit seiner eigenen Band Kneebody war der 46-jährige bereits für den Jazz-Grammy nominiert.

 

Wendel im feinen Sakko erinnert an den jungen Brian Ferry von Roxy Music. Sein New Yorker Publikum begrüßt er mit dem der Stadt angemessenen Selbstbewusstsein. „Welccome in the Greatest Club of the World“. Einige wenige lachen, die meisten klatschen. Natürlich bestreitet er den Abend mit der „Greatest Band of the World“. Was sonst? Und los geht es. Wendel zelebriert einen abgeklärt-sehnsuchtsvollen Saxophonsound, immer wieder gebrochen durch überraschende Wechsel, aufgeladen mit dynamisch-pulsierenden Rhythmen. Wow! Jazz vom Feinsten. Innovativ, spannend und mit sehr viel Gefühl.

 

 

Ein hochmusikalischer Abend. Die Band spielt sich in Fahrt. Doch nach einer guten Stunde ist plötzlich Schluss. Zugabe? – Fehlanzeige. Das Licht geht an. Der Beifall verstummt sofort. Die Kassiererin eilt von Tisch zu Tisch, sammelt flink ihre Dollars ein. Das Publikum erhebt sich, kontrolliert kollektiv die aus den Taschen gezauberten Smart-Phones. Nun dimmert es überall blau. Das Pärchen von nebenan ist längst verschwunden. Professionell bittet das Personal die Besucher den Club zu verlassen. „The next show will start soon.“

Time is money. Also raus auf die Straßen von Manhattan. Hinein in den flutenden Strom von Flaneuren, Vergnügungssüchtigen, Wartenden, Ewig-Suchenden, Einzelgängern, Pärchen, chinesischen Reisegruppen und deutschen Besuchern, die versuchen sich in ihren Reim auf das Erlebte zu machen.

 

 

Apropos Europa. Ben Wendel ist im Sommer auf Tournee quer durch den alten Kontinent. Zum Beispiel am 15. und 16. Juli 2019 ab 21:00 Uhr im Jazz Dock in Prag. Ben Wendel with The Jazz Dock Orchestra. Möglicherweise gibt es dort Zugaben. Der Mann hätte es verdient.

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