Am Ende der Welt
Hier ist die Natur weit größer als der Mensch. Und wie! Im hohen Norden befindet sich eine der abgelegensten Gegenden Islands. Das rund dreißig Kilometer lange Tal Flateyjardalur bahnt sich in atemberaubender Schönheit seinen Weg in den Atlantik. Gerade in dieser schwer zugänglichen Region kämpften Generationen von Isländern mit den Gesetzen der Natur. Ein hartes, mühsames und entbehrungsreiches Leben. Bis zu sechs Bauernhöfe wurden noch vor hundert Jahren bewirtschaftet, bis alle aufgaben. Der hier aufgewachsene Schriftsteller Theodor Fridriksson notierte 1944: “Mir geht es nicht aus dem Sinn, wie meine alten Eltern sich totgearbeitet haben, nur um in der Einöde in einer Hütte zu leben”. Im Winter fiel so viel Schnee, dass Sohn Fridriksson einmal die Hütte seiner Eltern nicht mehr fand. Zufällig stieß er beim Suchen mit seinem Skistock gegen den Dachfirst. Er fand seinen Hof erst, als er auf ihm stand.
Der Bauernhof Vargsnes befand sich an einer dieser unzugänglichen Buchten, an einem hohen Hang, der steil zum Meer abfiel. Aus der Wohnstube konnte man in den Zwanziger Jahren plötzlich Johann Sebastian Bach hören. Das kam so: Bauer Sigurbjörn erkannte das Talent seiner zehnjährige Sigridur. Sie träumte von einer Orgel. Der Vater machte sich auf und konnte im weit entfernten Husavik tatsächlich ein gebrauchtes Exemplar auftreiben. Er verpackte das gute Stück sorgfältig in eine Kiste, verschiffte die Orgel mit seinem Boot an den Strand von Vargsnes. Doch dann kam die eigentliche Herausforderung. Selbst mit Hilfe seiner herbeigerufenen Brüder war der steile, steinige Pfad zum Hof kaum zu überwinden.
“Jeder hält die Kiste an einer Ecke, und immer wieder müssen sie sie drehen, die Seile etwas lösen, die Kiste auf dem Rücken zurechtsetzen, während sie sich durch einen Felsspalt nach dem nächsten zwängen. Mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung von Kristjan kamen sie auch hier herum, dann konnte er unter seinem Orgelkasten aufstehen, und so brachten sie die Orgel heim”. So beschreibt der Schriftsteller Thor Vilhjálmsson den mühsamen Transport. Sigridur wurde Organistin, spielte ihren geliebten Bach bis ins hohe Alter. Für Landeskenner Halldor Gudmundsson (Biograf des isländischen Nobelpreisträgers Halldor Laxness) war dieses Konzert ein magischer Moment, als er die alte Dame im Jahre 2000 noch leibhaftig erleben durfte.
Die Geschichte vom Orgeltransport am Ende der Welt ist nur eine von dreißig Episoden aus der Feder von Islands kenntnisreichstem Geschichtensucher Halldor Gudmundsson. Seine Botschaft: Auch am Außenposten der Welt gedeihen seit vielen Jahrhunderten Kultur und Literatur. Man muss nur genau hinschauen. Dank der eindrucksvollen Fotos von Dagur Gunnarsson lädt der neue Bildband in Pandemiezeiten ein, wenigstens mit dem Kopf bis ans Ende der Welt zu reisen. Übrigens: Die Isländer teilen die Deutschen in zwei Gruppen auf: Diejenigen, die schon einmal auf ihrer Insel waren, und diejenigen, die unbedingt einmal dorthin möchten.
Island. Insel aus Geschichten. Ab dem 27. April 2021 im Buchhandel. Wirkungsvoller Impfstoff gegen Corona-Frust. Einzige Nebenwirkung: Fernweh.