Alles bleibt anders
Keine Sorge: Berlin bleibt sich treu. Die Hauptstadt liefert weiter Schlagzeilen, die blankes Erstaunen, Kopfschütteln oder Heiterkeit auslösen. Franziska Giffey, die nach der Pannenwahl in der Wiederholungswahl ihre Wiederwahl verpasst hat, bleibt trotz des Wahldebakels – schlechtestes Berliner SPD-Ergebnis aller Zeiten – voraussichtlich im Amt. Nicht als Regierende, vielmehr als Mitregierende in einer schwarz-roten Koalition. Die will gerne eine ganz Große sein, wird wohl aber eher eine halbstarke Regierungskoalition werden. Der wahrscheinliche, neue CDU/SPD-Senat vertritt 46,6% des Wählerwillens, wobei die größte Gruppe, die der Nichtwähler, gar nicht berücksichtigt ist. Doch das haben wir gelernt. Am Ende zählt nur eines: Mehrheit ist Mehrheit.
Was ist zu tun? Eine Menge. Wohnen, Verwaltung, Bildung, Sicherheit, Verkehr, Umwelt und noch mehr. Wird sich etwas ändern? Wohl kaum. Im Alltag der knapp 4-Millionen-Stadt fehlt es häufig an einfachsten Voraussetzungen für eine bessere und „progressive“ Politik. Ein Beispiel von vielen: Wie hat sich auf Berlins Straßen der Verkehr im Winter 2023 entwickelt? Sind mehr oder weniger Autos unterwegs als im Vorjahr? Wäre gut zu wissen. Das Problem: Die Langzeit-Messstellen, die vorbeifahrende Fahrzeuge aufzeichnen, sind seit Oktober 2022 defekt. Nach Angaben der grün geführten Verkehrsverwaltung hat „die Solartechnik mit sehr alten Batterien“ den Geist aufgegeben. Neue Technik werde installiert. Wo sind die bislang gesammelten Messwerte? Antwort: „Mutmaßlich verloren“. Wenigstens der Berliner Mutterwitz kehrt zurück. Nur ein Beispiel: „Liegt ein Skelett auf dem Flur des Bürgeramtes. Was steht auf der Tür? – Bin gleich zurück!“
Die Berliner Verwaltung ist bis zur Unkenntlichkeit kaputtgespart worden. Ihr Hoheitszeichen ist das gute, alte Fax-Gerät. Ohne dieses Kommunikationsgerät geht in Berlin nichts. Trotz x-fach angekündigter Digital-Offensiven. Jetzt „im Frühjahr 2023“ soll das digitale Ummelden des Wohnsitzes tatsächlich wahr werden. Wirklich? Der Berliner Alltag liefert wunderbare Possen. Wenn Bürger Stadtbäume spenden wollen, kann die Realisierung bis zu zwei Jahre dauern. Begründung: „Keine Leute“. Die 2006 versprochene Sanierung einer DDR-Plattenschule in Berlin-Lichtenberg, deren Fenster aus Sicherheitsgründen verschweißt werden mussten, lässt auch 2023 auf sich warten. Die Installierung einer „Lichtzeichenanlage“, volkstümlich Ampel genannt, benötigte in Berlin-Mahlsdorf rekordverdächtige 25 Jahre. Nach einem Vierteljahrhundert Planungs- und Projektierungsphase blinkt sie jetzt. Für Ampelfans die genauen Daten: Hultschiner Damm/Ecke Rahnsdorferstraße.
Wenn genervte Bürger zur Selbsthilfe greifen, erinnert sich Berlin jedoch seiner preußischen Vergangenheit. Unerlaubtes freiwilliges Engagement stößt auf staatlichen Ordnungssinn. Wer etwa in tristen Innenstadtstraßen Baumscheiben mit frischem Grün bepflanzt, muss mit Maßnahmen des zuständigen Grünflächenamtes rechnen. Ungenehmigtes Grün wird sogleich mit Stumpf und Stiel entfernt. Motto: „Da kann ja jeder kommen“. Dieses behördliche Grundgesetz bekam auch ein Rentner zu spüren. Der Mann begann verwahrloste Parkbänke eigenverantwortlich zu streichen und selbsttätig Schlaglöcher zu füllen. Das ging dann doch zu weit. Der Mann wurde mit einer Ordnungsstrafe belegt.
Keine Sorge. Berlin wächst weiter. Wird größer und weiter attraktiv bleiben. Trotz oder vielleicht wegen seiner Schwächen. „Um Berlin in seiner jetzigen Verfassung zu malen, müsste man den göttlichen Dante Alighieri bemühen, welcher die Hölle und das Fegefeuer zu schildern wusste“, schrieb Alfred Kerr, ein scharfer Beobachter des Berliner Stadtlebens. Das war 1896. Da regierte noch der Kaiser. Und das ist schon ziemlich lange her.
Da hilft nur: Vergessen wie. Der neue Berlin-Sound von Peter Fox.