Willkommen in der „Sperma-Lotterie“
Ist jeder seines Glückes Schmied? Ist Leistung Voraussetzung für Erfolg, Reichtum und Wohlergehen. Nein, andere Faktoren sind entscheidend. Hilfreich ist ein Sechser im Lotto. Noch besser aber ist ein Hauptgewinn in der „Sperma-Lotterie“. Das bedeutet das Glück der privilegierten Geburt. Die 34-jährige Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas spricht vom Glück in der Erbengesellschaft, die richtigen Eltern zu haben. In der Regel sind das die Väter. Deutsche Millionäre sind im Durchschnitt 94% westdeutsch, 86% weiß, 77% über fünfzig Jahre alt und zu 69% männlich. Davon profitieren die Erbenkinder von Heilbronn bis Hildesheim.
Martynas Grundthese: Die bundesdeutsche Leistungsgesellschaft hat sich längst in eine Erbengesellschaft verwandelt. Der materielle Reichtum wird in den Familien vererbt. Wer nichts hat, aus dem wird auch nichts mehr. Das mutet wie ein Naturgesetz an. Ist es aber nicht, sagt die FU-Frau in ihrem soeben erschienenen Buch „Unverdiente Ungleichheit“. Ihr aufsehenerregender Befund: In kaum einem anderen westlichen Land sei Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland – Tendenz steigend. „Entgegen der Behauptung, jede/r könne es mit genug Anstrengung zu viel bringen, entscheidet vor allem die Geburt in die richtige Familie darüber, ob man als kleine, superreiche Elite aufwachsen und leben kann.“ Oder eben nicht. Wie sagt der Volksmund so treffend: „Moral ist gut. Erbschaft ist besser.“

Die reichsten 252 Männer haben mehr Vermögen als alle 1 Milliarde Frauen und Mädchen in Afrika, Lateinamerika und der Karibik zusammen. | Quelle: Oxfam 2022. (aus Linartas. Ungleichheit.de)
Martyna Linartas weiß, wovon sie spricht. 1992 landete sie mit Bruder und ihren polnischen Eltern erst einmal in einem Obdachlosenheim. In ihrer neuen deutschen Heimat lernte sie Armut kennen, aber auch, dass sich Aufstiegswillen lohnt. Ihre Eltern setzten sich durch. Tochter Martyna auch. Zugleich erlebte sie den Arm-Reich-Gegensatz in der eigenen Familie. Ein Teil davon lebt in Mexiko. Ihr Onkel gehört dort zu den Superreichen. So wurde sie vom familieneigenen Chauffeur durch Mexiko-City kutschiert. Aus dem Fenster konnte sie echte Armut aus nächster Nähe erleben
Die junge Forscherin will die müde und erschöpfte Bundesrepublik wachrütteln. Für sie es ein Skandal, dass Menschen unverdient und ohne eigenes Zutun immer reicher werden. Und das nur, weil sie bei ihrer Geburt in der richtigen Wiege liegen. Sie schreibt: „Diese Erbengesellschaft, in der sich vor allem die reichsten zehn Prozent ihre Anteile an Betriebsvermögen untereinander weiterreichen, wird begünstigt durch eine extrem ungerechte Steuerpolitik. Gerade sehr hohe Erbschaften von zwei- oder dreistelligen Millionensummen können fast steuerfrei weitervererbt werden.“ Auch die neue Merz-Klingbeil-Koalition ändere nichts an der unsozialen Steuerpolitik, genau wie die Ampel-Vorgängerregierung. Das verstärke den Frust. Die Wissenschaftlerin hat besonders die SPD im Visier: „Beim Koalitionsvertrag wird nur nach unten getreten, zum Beispiel in der Bürgergeldfrage und nicht ein einziges Mal nach oben geschaut.“
Martyna Linartas fordert höhere Erbschafts- und Vermögenssteuern. Und noch etwas: ein „Grunderbe für alle“. Das soll bei 190.000 Euro pro Kopf liegen, das entspreche 60 % des Durchschnittsvermögens. Ist das nun Umverteilung, Rückverteilung, gar Gleichmacherei wie im Sozialismus? Nein, widerspricht Martyna in ihren Interviews leidenschaftlich. Wenn es gewollt sei, sagt sie, dass nur die Rechte der Stärkeren geschützt und die Schwächeren schikaniert werden, dann „fallen wir zurück ins Dunkle“. Der braune Boden sei fruchtbar. Die Ungleichheitsforscherin ist überzeugt: „Armut ist das Risiko für die Demokratie.“
Martyna Linartas. Unverdiente Ungleichheit. Rowohlt. 2025.