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Einer wie keiner

Der Gundermann auch Erd-Efeu ist eine krautige, in Europa weit verbreitete Pflanze. Aufgrund der ätherischen Öle und Bitterstoffe ist der Gundermann früher als Gewürzpflanze verwendet worden. Die Pflanze fand bei den germanischen Völkern als Heil- und Zauberpflanze Verwendung. Ende des 20. Jahrhunderts verzauberte ein Liedermacher namens Gundermann seine Mitmenschen mit mutmachenden Liedern. Gundermanns Verbreitungsgebiet beschränkte sich besonders auf die Lausitz, ein armer Landstrich im Südosten der DDR. Ein kleines Land, das es nicht mehr gibt. Sein vollständiger Name: Gerhard Gundermann, genannt Gundi. In diesen Tagen wird in der Heimatstadt Hoyerswerda sein 70. Geburtstag gefeiert. Der Singer-Songwriter wurde 43 Jahre alt.

 

Gerhard „Gundi“ Gundermann. (21. Februar 1955 – 21. Juni 1998)

 

Im Sommer 1998 wollte oder konnte Gundi nicht mehr. Eine Woche vor seinem Tod am 21. Juni zitierte er bei seinem letzten Konzert eines seiner Lieder:

„Meine Mutter ist so tot wie auch mein Vater, so muss ich einsam durch die Lande ziehen.

Zum Geldverdienen spiele ich Theater, die Leute nennen mich den Harlekin.“

Heute ist Gundermann im Osten Kult, im Westen weiter nur in wenigen Feinkostabteilungen der Musikszene bekannt. Der Baggerfahrer, der rastlos mit Fleischerhemd, Hosenträger und Klampfe unterwegs war. Ein Musiker mit bittersüßen Liedern über Heimat, Verlust und Vergänglichkeit. Mit seiner Band Seilschaft tourte er vor vollen Sälen im gebeutelten Nachwendeland. Die Medien nannten ihn Springsteen des Ostens. Dylan des Tagebaus oder Rio (Reiser) des Ostens.

 

Gundermann im Lausitzer Revier. Er lieferte den Soundtrack der Vorwende- und Nachwende-Depression.

 

„Irritation“ wäre wohl ein passender, zweiter Vorname. Gundermann war zu Lebzeiten ein wandelnder Widerspruch auf zwei Beinen: Baggerfahrer und Liedermacher. Offiziersschüler und Befehlsverweigerer. Spitzel und Bespitzelter. Ein zerrissener Weltverbesserer und unverbesserlicher Idealist. Er wollte verändern und eckte ständig an.

„Immer wieder wächst das Gras/Wild und hoch und grün/bis die Sensen ohne Hass/ihre Kreise ziehn

Immer wieder wächst das Gras/klammert all die Wunden zu/manchmal stark und manchmal blass“/so wie ich und du.“

 

 

2018 adelte Regisseur Andreas Dresen mit seinem Spielfilm Gundermann den Mann aus dem Lausitzer Tagebau. Auf einen Schlag wurde Gundi bundesweit bekannt. In der Hauptrolle Alexander Scheer. Er setzte sich sogar Gundis starke Kassengestell-Brille auf, wird heute noch erzählt, um jede Faser seines realen Vorbildes nachempfinden zu können.  Selbst der Spiegel schwärmte damals: „Gundermann“ ist einer der reichsten, differenziertesten, tollsten Filme über die DDR. Und vielleicht der beste, den Dresen je gemacht hat, weil sich dessen Menschenfreundlichkeit hier am Ende nicht auf dem Parkplatz der Versöhnung abstellen lässt.“ Seit dem großen Erfolg covern Alexander Scheer und Andreas Dresen mit ihrer Band Gundis Songs. Die Konzerte sind regelmäßig ausverkauft.

 

 

Mittlerweile sind Gundermanns Songtexte in Schulbüchern verewigt. So leben seine Geschichten von Menschen aus den „Braunkohle-Badlands“ weiter. Seine sehr poetische wie politische Annäherung an Arbeitslose und Abgehängte, an Enttäuschte und Verzweifelte aus der abgewickelten DDR. Besonders diesen Menschen wollte er mit seinen Liedern Mut machen. Auffallend, wie zeitlos aktuell seine Texte sind.

Happy Birthday zum 70ten, Gundi!

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„Mein Opa war Nazi“

EU-Spitzenkandidat Maximilian Krah der AfD veröffentlichte im Sommer 2023 ein Video, im dem er sinngemäß sagte: „Krieg’ mal raus, was Oma, Opa, Uroma und Uropa alles Tolles gemacht haben, denn die waren keine Verbrecher…“ Fast jeder zweite junge Deutsche zwischen 16 und 25 Jahren hat sich laut einer Umfrage noch nie mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Heute kennen wir die „Omas gegen rechts.“ Aber was ist, wenn die eigene Oma rechts war? Und der Opa Nazi? Oder der Uropa. Nicht nur Normalos, auch Prominente entdecken die Geschichte ihrer Vorfahren und Großeltern. Da gibt es dicke Überraschungen.

 

Der Uropa von Robert Habeck: SS-Brigadeführer Walter Gramzow. Drei Jahre im britischen Kriegsgefangenenlager Fallingbostel interniert. Sein Vermögen wurde eingezogen. Die Akte Walter Gramzow umfasst im Bundesarchiv 170 Seiten.

 

Robert Habeck (*1969). Vizekanzler. Sein Uropa Walter Gramzow (1887-1952) war ein verurteilter Kriegsverbrecher. Er gehörte als SS-Brigadeführer, NSDAP-Ministerpräsident in Mecklenburg-Schwerin und Reichstagsabgeordneter quasi zum inneren Führungszirkel des Hitler-Regimes. Urgroßvater Gramzow verwaltete das Gut Severin und richtete dort 1931 die Hochzeit des späteren Propagandaministers Joseph Goebbels mit Magda Quandt aus. Auch Habecks Großvater Kurt Gramzow (1912-1952) war als Obersturmführer der SA nicht nur ein einfacher Mitläufer. Habeck hat sich seiner Familiengeschichte gestellt. Als die Hamas Israel im Oktober 2023 überfiel, sagte der grüne Kanzlerkandidat: „Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.“

NS-Militärjurist, SS-Mitglied und Oberstabs-Richter Hans Weidel. Großvater von Alice Weidel.

Alice Weidel. (*1979) Kanzlerkandidatin der AfD. Ihr Großvater Hans Weidel (1903-1985) war promovierter Jurist und NS-Funktionär. 1932 Eintritt in die NSDAP, ab Januar 1933 Mitglied der SS. Im Krieg war er ab 1941 einer von dreitausend Heeresrichtern. 1943 wurde er zum Ober-Stabsrichter befördert. Er setzte NS-Recht in Warschau und anderen besetzten Gebieten durch. Nach dem Krieg arbeitete er als Rechtsanwalt in Gütersloh. Seine Enkelin Alice Weidel sagt, die habe „aufgrund familiärer Dissonanzen keinen Kontakt zum Großvater gehabt und nichts von seiner Vergangenheit gewusst“. Alice Weidel bezeichnet Hitler als Kommunisten.

Jens-Christian Wagner. (*1966) Historiker. Er gehört gleichfalls zu den sogenannten Täter-Enkelkindern. Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten KZ Buchenwald und KZ-Mittelbau Dora hatte zwei Großväter, die beide Nazis waren. Er offenbarte das Familiengeheimnis bisher ausschließlich in Seminaren und hat „es nicht offensiv vor sich hergetragen.“

Was bleibt, ist eine einfache Sache: „Es ist nicht deine Schuld, wie die Welt ist. Es ist deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Dieser Songtext der Ärzte trifft den Nagel auf den Punkt. Es geht nicht um „Schuldkult“, sondern um die Geschichte der eigenen Familie. Und die sollte man kennen.

 

 

Transparenzhinweis

Mein sehr geschätzter Großvater war im Dritten Reich NSDAP-Mitglied. Ein einfacher Volksgenosse ohne Amt, wie mein Vater (*1928) stets betonte. Erfahren habe ich diese Geschichte erst lange nach seinem Tod in den achtziger Jahren. Seitdem beschäftigt mich die Frage: Was hat ihn bewogen, als Musikdirektor und Bach-Liebhaber in Hitlers Partei einzutreten?

 

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Schlaflose Nächte können magisch sein

Wer kennt sie nicht? Schlaflose Nächte. Wenn Geist und Seele einfach nicht zur Ruhe kommen wollen, obwohl Kopf und Körper komplett erschöpft sind. Jede/r kennt dieses Gefühl. Die Stille der Nacht, die Einsamkeit und dieses vermaledeite Grübeln. Die Gedankenlöcher, die man gräbt und die immer tiefer werden; und die doch niemals zugeschüttet werden können. „Der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehen für die Uhr“, sagt Philosoph Arthur Schopenhauer. Wenn kluge Sprüche nicht mehr helfen, kann Musik mehr bewegen. Der Songwriter Michael Moravek hat sein soeben erschienenes Album Night Songs genannt. Seine balladenhaften Lieder erzählen genau von diesen Stunden, aus der Mitte der Nacht.

 

Songs aus der Nacht. Michael Moravek. Ein deutscher Singer-Songwriter zum Entdecken. Foto: Hans Bürkle

 

Michael Moravek ist ein Liedermacher aus dem oberschwäbischen Ravensburg. Er sagt, er kenne seit Jahren schlaflose Nächte und habe sich damit weitestgehend arrangiert. Moravek: „Manchmal gibt es Nächte, in denen ich es fast genieße, mich im Wohnzimmer auf das alte Sofa zu setzen, gegen drei oder vier Uhr einen Kaffee zu machen, weil der Schlaf nicht mehr in Reichweite scheint, etwas zu lesen und über Dinge nachzudenken. Die späten Stunden der Nacht und der frühe Morgen können eine besondere, fast magische Atmosphäre bieten. Das ganze Haus schläft, die Welt draußen ist still. Gedanken und Gefühle treten intensiver in den Vordergrund, manchmal übermächtig.“

 

 

Moravek ist ein Mann der leisen Töne. Seine Vorbilder sind Bruce Springsteen und Bob Dylan. „Ich bin seit jeher fasziniert von Springsteens Nebraska, das eigentlich als eine Sammlung von Demos gedacht und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Aber die Demoaufnahmen aus einem Schlafzimmer in New Jersey hatten etwas ganz Besonderes.“ Das Dylan-Album Blood On The Tracks sei ähnlich entstanden. „Die Studiomusiker, die für die Aufnahmen engagiert waren, beschwerten sich, dass sie keine Zeit und auch kein Notenmaterial zur Verfügung hatten, um sich vorzubereiten. Kaum hatten sie die Struktur und Harmonien eines Songs einigermaßen begriffen, wechselte Dylan zu einer völlig anderen Tonart oder änderte die Struktur und einer dieser Takes war dann die Aufnahme, die veröffentlicht wurde. Auf manchen hört man Fehler, und doch sind sie zu berühmten Aufnahmen geworden.“

 

 

So vereinbarte Moravek im Tonstudio, dass er seine fertigen Songs allein und direkt einspielt. „Ganz zum Schluss, als alle Songs geschrieben und aufgenommen waren, kam meine Band ins Studio und nahm an einem einzigen Nachmittag die zusätzlichen Instrumente auf, die hier und da die Intensität und Intimität der Aufnahmen noch verstärkten.“

So entführen die Night Songs in die Zwischenwelt von Dahindämmern und Gedankenkaskaden. In die Stunden zwischen Schlaflosigkeit und Morgendämmerung. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist das Rettende nah, beruhigte bereits Hölderlin alle unruhigen Geister. Und: „Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe.“

 

Songs zum Runterkommen – zwischen Nacht und Tag.

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„Hör zu!“

Bundestag. Eine hitzige Redeschlacht um das sog. „Zustrombegrenzungsgesetz“, das nach langer Debatte überraschend abgelehnt wird. Es geht um Migration und Integration. Um Sicherheit und Ordnung. Um Humanität und Kontrolle. Es geht giftig, gallig, gruselig zu. Es wird gebrüllt, gescholten und gegenseitig ausgelacht. Das Land steht vor dem Untergang, heißt es von rechts. Der Faschismus klopft wieder an die Tür, von links. Wer die Stunden im Reichstag verfolgt hat, kann im Wust der Angriffe und Unterstellungen zumindest einen roten Faden erkennen: Zuhören ist ein Fremdwort. Logisch, es ist Wahlkampf. Die Zeit der Fensterreden und Versprechen. So flattern Floskeln durch den Bundestag. Schlagworte purzeln: historischer Tabubruch, einstürzende Brandmauern, Remigration oder demokratische versus Kartellparteien.

 

 

Wie erreiche ich diejenigen, die einfach nicht mehr zuhören?

 

Was die Kameras manchmal in Nahaufnahme zeigen: Abgeordnete, die auf ihr Handy starren. Wer gerade persönlich attackiert wird, schaut wie gebannt auf sein/ihr Smartphone. Als würde dieses kleine Gerät die große Weltformel hervorzaubern können. Aber wie wäre es mit Zuhören? Mit Argumenten und Suche nach Lösungen? Fehlanzeige. Fensterreden gab es im Reichstag auch vor hundert Jahren. Nur: Heute verfügen wir über modernste Kommunikationstools in Echtzeit. Das Ergebnis: noch heftigere Empörungsrituale.

Google und andere Technikgiganten versprachen eine bessere Welt. Dieser Debattentag im Deutschen Bundestag wirkt ernüchternd. Wieder droht die politische Mitte auseinanderzufallen. Wieder könnten Extreme die Herrschaft übernehmen, wie am Ende der Weimarer Republik. Nur heutzutage mithilfe von TikTok, Algorithmen und YouTube-Propagandafilmchen.

 

 

Wer zuhört, hat mehr vom Leben? Unbedingt, meint Bernhard Pörksen, der Streiter für bessere Kommunikation. Zuhören sei mittlerweile eine Kernkompetenz, viel beschworen, nur ständig vernachlässigt. Die Leitfrage seines neuen Buches: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Existiert ein Gegenmittel gegen Ignoranz und Weghören? Wie geht geistige Offenheit in einer 24-Stunden-Onlinewelt? Der Medienwissenschaftler hat sich zehn Jahre mit diesen Fragen beschäftigt. „Es ist mein Thema.“

 „Jeder Skandal beginnt mit fehlendem Zuhören im System“. Pörksen bringt Beispiele, auch aus seinem eigenen Leben: Der lange vertuschte Missbrauch am Reformprojekt Odenwald-Schule. Ein „Seelenmord“ an Jugendlichen, schreibt Pörksen. Er selbst habe einen sadistischen Klassenlehrer an der Waldorfschule ertragen müssen. Wurde zugehört? Hat sich etwas geändert? Nein. Pörksen argumentiert u.a. mit der Situation in der Ukraine (Wem hört man im Krieg noch zu?) oder beschäftigt sich mit den Heilsversprechen der Jungs aus Silicon Valley. (mehr Kommunikation, mehr Austausch?) Ein typischer Fall für dieses Nicht-mehr-Zuhören-Wollen ist nach Pörksen eine Störaktion propalästinensischer Aktivisten bei einer Hannah-Arendt-Lesung in Berlin. Thema: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Was geschah? Die Aktivisten-Gruppe klagte an und brüllte alles nieder, statt Argumente auszutauschen und zuzuhören. Die Lesung der kubanischen Performance-Künstlerin Tania Bruguera musste abgebrochen werden. Pörksen: „Wir sind Profis der Ignoranz. Weghören stabilisiert uns.“

 

„It’s hard to listen while you preach“. Ein Song von U2. Every breaking wave.

 

Was tun? Der Professor aus Tübingen lobt die Kunst des Schweigens und der Stille. Besser eine Welt ohne X und Telegram? Unrealistisch, so Pörksen, aber vor der Einführung von TikTok & Co habe es „keine Anonymität, keine Werbung, kein Datamining“ gegeben. Bei einer guten Moderation seien „tiefere Gespräche, klügere Debatten, besseres Zuhören“ möglich gewesen. Sein Fazit: Wirkliches Zuhören sei „vielleicht nichts für die große Politik, nichts für die Arena der Talkshows … nichts für das Aufeinander-Eindreschen in sozialen Netzwerken“. Aber Zuhören bedeute „gelebte Demokratie im Kleinen“. Ein wenig Trost hält Pörksen parat. Man könne andere zum Schweigen bringen, aber sie „nicht zum Zuhören zwingen. Zuhören ist ein Akt der Freiheit“.

Bernhard Pörksen. Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser.

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„Tue deinen Mund auf“

Dieser Spruch Salomons „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“, steht am Anfang eines Augenzeugenberichts aus Auschwitz. „Die Todesfabrik“ ist ein Dokument des slowakischen Holocaust-Überlebenden Filip Müller, das unter die Haut geht. Sein Buch erschien bereits 1946, ein Jahr nach Kriegsende. Als wir im Herbst 2024 privat in Polen waren, wollten wir uns in Auschwitz ein eigenes Bild machen. Mit einer organisierten Tour wurden wir in einem Kleinbus von Krakau in einer Autostunde nach Oświęcim gebracht. Nach unzähligen EU-Kreisverkehren ging es durch das oberschlesische Städtchen mit McDonalds, Netto-Markt und einem Kinokomplex. Schließlich erreichten wir ein modernes Besucherzentrum mit einem großen Parkplatz.

 

Auschwitz. Besucherzentrum.

 

Auschwitz ist ein Besuchermagnet. An diesem späten Septembertag herrscht großer Andrang. Touristen, Schulklassen und Reisegruppen aus der ganzen Welt werden routiniert in vielen Sprachen der Welt eingecheckt. Das neue Empfangsgebäude erinnert ein wenig an das Berliner Jüdische Museum von Daniel Libeskind. Am Beginn der vierstündigen Tour öffnet sich im dunklen Untergeschoss ein großes Eisentor von Geisterhand. Wie in einer Art Disney World werden die Gruppen vorbei an hohen Betonwänden hinauf in das Stammlager Auschwitz geführt. Beklemmung stellt sich von allein ein. Die Fernsehbilder, die ich im Kopfkino mitgebracht habe, setzen sich zu einem realen Puzzlebild zusammen. Unser polnischer Guide startet sein Programm in einem eher entwicklungsfähigen Englisch. Selbst unser britischer Mitreisender schüttelt den Kopf, man könne diesen Mann kaum verstehen.

 

Auschwitz. Ankunft. Die berühmt-berüchtigte Rampe wurde erst im Mai 1944 fertiggestellt.

 

So entwickelt sich unsere geführte Tour mitten durch Touristenmassen im Gänsemarsch zu einem sehr speziellen Erlebnis. Der Guide spricht unentwegt, ist jedoch nur wenig zu verstehen. Zeit für eigene Betrachtungen ist nicht vorhanden. Die folgende Gruppe schiebt von hinten unerbittlich nach. Und doch befällt mich ein mulmiges Gefühl. Vorbei an Räumen mit gesammelten Schuhen und Haaren von Opfern. An den Wänden schreckliche Schwarz-Weiß-Bilder mit ausgemergelten Häftlingen. Das Gruselkabinett des Herrn Dr. Mengele. Höhepunkt ist die Erschießungswand. Nach einer kurzen Weiterfahrt erreichen wir das weitläufige KZ-Auschwitz-Birkenau mit dem markanten Torbau. Symbol der SS-Verbrechen, der Vernichtung und der Banalität des Bösen. Auschwitz ist ein Unort. Hier möchte man nicht lange bleiben.

 

Frauen und Kinder auf ihrem letzten Weg.

 

Vor achtzig Jahren, am 27. Januar 1945, hat die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Ein Moment, der das unfassbare Ausmaß des Holocausts sichtbar machte. Drei Jahre lang quälte die SS in Auschwitz unter unmenschlichen Bedingungen rund 1.2 Millionen Häftlinge. Etwa eine Million Menschen starb in der Todesfabrik, darunter weit über 900.000 Juden aus ganz Europa.

„Jederzeit erschießbar. Für die Häftlinge bedeutet Auschwitz Hunger, Krankheit und Angst vor dem Tod. Dagegen tun sich für die SS-Männer ungeahnte Möglichkeiten auf: Viele berauschen sich an der Grenzenlosigkeit ihrer Macht“, schreibt der Historiker Ernst Piper. Sein neues Auschwitz-Buch wird als erste umfassende deutsche Monografie über das Vernichtungslager demnächst erscheinen.

 

Die Männer, die das Zyklon B durch den Schacht in die Gaskammer geworfen haben, hießen Desinfektoren. Sie waren Angehörige der SS.

 

Filip Müller gehörte zu den gerade mal fünf Überlebenden des Sonderkommandos. Sie mussten vom ersten Tag an Kinder, Frauen und ganze Familien auf dem Weg ins Gas begleiten. Müller „arbeitete“ von 1942 bis Ende 1944 rund um Gaskammern und Krematorien. Seine Augenzeugenberichte, 2021 unter dem Titel „Sonderbehandlung“ erschienen, erschütterten die Nachwelt.

 

„Das Sterben von Gas dauerte etwa

von zehn bis fünfzehn Minuten.

Das Schrecklichste in dem allen war,

als man die Gaskammer aufgemacht hat,

die grausame Szenerie sich anschauen.

Wie die Menschen da angepresst wie Basalt,

wie Steine standen.

Wie sie herausfielen von den Gaskammern!

Einige Male hab ich das gesehen.

Und das war das Schwerste überhaupt,

aber auf das konnte man sich nie gewöhnen.“

 

 

Krematorium II 1943.  Hersteller war die Firma Topf & Söhne aus Erfurt. Werbemotto: „Qualitätsvolle Öfen für Feuerbestattung“. Die Krematorien wurden Ende 1944/Anfang 1945 gesprengt.

 

Filip Müller berichtet nüchtern und lapidar vom Vernichtungsalltag, der 1.689 Tage lang andauerte. Der Auschwitz-Überlebende starb am 9. November 2013 im hohen Alter von 91 Jahren. Sein Satz gilt weiter: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“.

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„Und wenn sie verbrennen…“

„Rechts oder Links?“ Wohin geht die Reise in Deutschland? Der Zeitgeist wähnt sich in einer gefühlten „Depression“. Die Trumps und Putins dominieren die Welt. Die Demokratie in den Farben des Nachwende-Deutschlands schwächelt, heißt es, die Eliten seien am Ende. National oder sozial, sind die einzigen starken Kraftfelder, und die politische Mitte sei erschöpft: „Das System mag in sich vernünftig sein, gut, aber wir wollen es nicht mehr. Dagegen ist kein Argument gewachsen.“ Dieser Satz ist fast hundert Jahre alt. Er stammt aus dem Oktober 1931, als die Weimarer Republik Richtung Abgrund rollt. Damals herrschte pure Endzeitstimmung. Beim Tanz auf dem Vulkan half auch die kulturelle Blütezeit nicht, mit Marlene Dietrich und vielen anderen herausragenden Künstlern wie Bert Brecht, Mascha Kaléko oder Kurt Tucholsky.

 

 

Der 32-jährige Hans Zehrer veröffentlicht seinen Text über das Ende der Demokratie in der „Tat“, eine „Monatszeitschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit“. Seine 45 Seiten  zum Thema: „Rechts oder Links?“ sind von hoher Aktualität. Der junge Autor fordert einen Neuanfang, eine „Dritte Gemeinschaft“. Jenseits von Faschismus und Kommunismus. Gedanklich ist der Weg zum Dritten Reich atemberaubend kurz. Diesen Begriff propagiert der „konservative Revolutionär“ Arthur Moeller van den Bruck 1923. Die Nazis kapieren den Begriff vom „Dritten Reich“ erfolgreich. Perfektes Wording würde man heute sagen.

Der Text in der „Tat“ analysiert: Das Land stehe vor dem „Selbstmord des Kapitalismus“. Die Menschen hätten die liberale Demokratie satt. Zehrer verleiht dem „Aufruhr der Mittelschichten“ Richtung und Stimme. „Die eigentliche Aufgabe“ sei nun die Führung zu übernehmen, in einem Deutschland, das vermeintlich nichts mehr zu verlieren habe außer seinen Ketten. Nur so sei Rettung und „Gestaltung neuer Wirklichkeit“ möglich – jenseits von Hickhack, Tagespolitik und Parteienkonkurrenz.

 

 

Ist die Lage Anfang 2025 tatsächlich so dramatisch wie Ende 1931? Nein, betont der Historiker Jens Bisky in seinem hochaktuellen Buch „Die Entscheidung“. Die Lage sei heute anders. Die Bundesrepublik kenne keine Massenarmut, keine Massen-Verelendung und nicht Millionen Menschen, die hungern. Es existiere keine „Dolchstoßlegende“ der Rechten nach dem verlorenen I. Weltkrieg. Trotz aller Haushaltslöcher sei die heutige Berliner Republik zahlungsfähig, und nicht bankrott wie damals in der Weimarer Republik. Zudem sei die Bundesrepublik in der EU integriert, es gebe keine unzufriedenen Militärs, die das System lieber heute als morgen abschaffen wollten. Bisky plädiert, einen kühlen Kopf zu bewahren und vor allem aus der Geschichte zu lernen.

 

Der neue Konsumtempel am Hermannplatz. Berlin-Neukölln. 1933

 

Je länger man sich in Biskys Panorama-Werk vertieft, desto mehr Parallelen drängen sich auf. 1930 implodierte nach zwei Jahren Dauerstreit eine Mehrparteienkoalition unter Führung der SPD. Danach folgte ein rigider Sparkurs der Regierung Brüning, der die Radikalisierung politischer Ränder geradezu befeuerte.

Und 2025? Die gescheiterte Ampel hinterlässt ein Land ohne gültigen Haushaltsplan. Der Milliarden-Investitionsstau schwächt alle Bereiche der Daseinsfürsorge. Vom Personalmangel in Kitas, Schulen und Verwaltung über einstürzende Brücken und einen öffentlichen Nahverkehr, auf den kein Verlass mehr ist, bis zum täglichen Kampf um Arzttermine, um eine Wohnung oder einen Platz in überteuerten Pflegeheimen.

Auch heute heißt es wieder: Die liberale Demokratie ist in der Krise. Und damals? Da rief die Monatszeitschrift „Tat“ mit Sitz in der Budapester Straße 1 dazu auf, „mit der Zeit zu gehen“. Die Demokratie habe versagt. Die neue Zeit jedoch führte keine vierzehn Monate später schnurstracks zu Hitler.

 

Die Tat unter Leitung von Hans Zehrer. Mit einer Auflage von knapp 30.000 Exemplaren erreichte das Blatt der nationalkonservativen Edelfedern 1932  doppelt so viele Leser wie die radikaldemokratische „Weltbühne“. Zehrer wurde 1933 entlassen.

 

Sehr empfehlenswert. Jens Bisky. Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934.

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„Ein Schritt vor, zwei zurück“

Ich wach auf, mein Haus ist kalt. Nichts funktioniert. Nicht das Feuer im Kamin. Nicht das Auto vor der Tür. Der Blues des Lebens. Vögel singen nicht. Kirchenglocken bleiben stumm. Die eigene Beziehung ist festgefahren, irgendwo zwischen Routine und Frust. Ach, dieser ständige miese Kleinkrieg. Szenen einer Ehe. Höchste Zeit für einen Schlussstrich? Also: „Ein Schritt vor, zwei zurück“. Die Sehnsucht tropft aus dieser Trennungsballlade, bald vierzig Jahre alt. Ein Song aus der Feder von Bruce Springsteen. 75-jähriger US-Milliardär mit Magengeschwür und seinen uramerikanischen Songs, in der es um die großen Geschichten der kleinen Leute geht.

 

 

Ein Schritt vor, zwei zurück. Musikalisch besteht das Lied aus drei Akkorden. Das kann man langweilig oder genial finden. Beim „Boss“ zählt etwas anderes. Es sind seine Geschichten, die er erzählt. Sein Spitzname „The Boss“ stammt aus den 70ern. Am Anfang der Karriere zahlte er nach den Auftritten seiner Band noch die Gage bar auf die Hand. Längst ist Bruce Frederick Joseph Springsteen aus New Jersey eine Art Anti-Trump der USA. Er gewinnt keine Wahlen, aber die Herzen seiner Fans.

Der Boss ist einer, der es geschafft hat. Der perfekte amerikanische Traum: Reich, aber unangepasst. Der Clou: Bruce gibt sich als einer aus, der für die einfachen Leute da ist. One Step up, two steps back: „Sitzt eine Frau hier in der Bar. Ich krieg die Nachricht, die sie sendet. Sie sieht nicht so verheiratet aus. Und ich mach so, als gings mir blendend.“

Ein Schritt vor, zwei zurück. Soll ich aus meinem Eheknast ausbrechen? Dieses Trennungslied hat er Julianne Phillips, seiner ersten Frau, gewidmet. In Springsteens Originalsong ist im Hintergrund eine weibliche Begleitstimme zu hören, die seiner künftigen Ehefrau Patti Scialfa.

 

 

Diese ewig alte, neue Frage: Bleiben oder Gehen?

„Ich sitz in dieser Bar heut Nacht. Alles, was ich denk ist, ich bin das gleiche alte Lied, dasselbe Stück. Gefangen ein Schritt vor und zwei zurück. Dieselbe Sache, Nacht für Nacht. Wer hat recht, wer hats falsch gemacht? Noch ein Streit und die Türe fliegt. Noch ne Schlacht in unsrem kleinen miesen Krieg.“

Die Liedermacherin Ulla Meinecke hat Springsteens Song 1991 gecovert. Eine wunderbare deutsche Version mit Rollentausch: Nun sucht sie den richtigen Prinzen. Der Kerl an der Bar sieht nicht verheiratet aus, oder?

Was für ein stimmiger, poetischer Schmachtfetzen! Dem Leben abgeschaut, zum Niederknien schön. Bei Ulla Meinecke klingt das so:

„Ich hab geträumt, ich hielt dich im Arm.
Die Musik ging nie zu Ende.
Wir tanzen Arm in Arm und Blick in Blick,
immer ein Schritt vor und zwei zurück…“

Ulla Meinecke ist derzeit auf Deutschland-Tournee. 17. Januar 2025: Göttingen. 18. Januar 2025: Mönchengladbach. Bruce Springsteen kommt am 11. Juni 2025 nach Berlin. Ort: Olympiastadion.

Hier noch eine der vielen weiteren Cover-Versionen:

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Fette Tropfen

Sieben Herren, ein famoses Live-Ereignis aus dem Land der Kiwis. Das sind Fat Freddys Drop. Die Band macht seit Jahren ihrem Namen alle Ehre. Die Jungs vom anderen Ende der Welt bringen ausreichend Gewicht auf die Waage. Ihr Konzept ist einfach. Sie machen Musik, die Spaß macht, die Kopf und Beine bewegt. Wunderbar! Statt Askese und Diät bieten die Jungs „im besten Alter“ Rhythmus und Lebensfreude. Die Truppe hat sich nach der Comic-Figur Fat Freddys Katze aus der US-Serie „The Fabulous Furry Freak Brothers“ benannt. Seit vielen Jahren spielt Neuseelands beste Live-Band, die Fat Freddys Drop, in einer eigenen musikalischen Liga. Jetzt liegt ihr neues Album Slo Mo vor.

 

 

Was ist ihr Geheimnis? Sie zelebrieren Dub-Reggae-Vibe mit Bläsern, okay. Das machen viele. Aber wenn das Licht auf der Bühne angeht, legen sie live los. Und wie! Fat Freddys steigern sich in einen cool-smarten Sound-Mix aus Roots-Reggae, Soul, Techno, Jazz, Dub und House. Garniert mit eingängigen Bläsersätzen, von der filigranen Posaune bis zur fetten Tuba. Anything goes! Die Musiker kommen aus verschiedensten Richtungen. Ein paar Gemeinsamkeiten verbinden die Fat Freddys. Sie kommen alle aus Wellington. Berührungsängste mit vielfältigen Musikstilen? Ein Fremdwort. Und natürlich: Die sieben Neuseeländer essen für ihr Leben gern. Keyboarder Iain Gordon – Bühnenname: „Dobie Blaze“ – kocht regelmäßig für die Band. Bandleader Fitchie schwärmt: „Wer gemeinsam isst, bleibt auch sonst zusammen.“ Seit über zwanzig Jahren begeistert die Band, mittlerweile weltweit.

 

 

Das 18.000 Kilometer entfernte Neuseeland hat außer Rugby, grünen Wiesen und atemberaubender Natur mit den Fetten Freddys nunmehr einen weiteren Exportschlager. Gut so!  Neuseeland ist mehr als Mount Everest-Erstbesteiger Sir Edmund Hillary oder Haka-Tänze der Maoris. Im Land der schrägen Vögel und störrischen Schafe gilt eine einfache Lebensphilosophie. Es wird schon! Auch nach schlimmsten Erdbeben. Wir lassen uns nicht unterkriegen!  Neuseeland ist ein kleines Land, das große Sehnsucht auslöst. Das sollte man wissen: Besucher sind nur erwünscht, wenn sie wieder gehen. Es sei denn, aus Krauts werden richtige Kiwis. Wie meinte einmal die große alte Dame der neuseeländischen Literatur Katherine Mansfield? Die Meisterin der Short Story aus Wellington: „Wir sind eine so glückliche Familie, seit mein lieber Mann gestorben ist.“

 

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Bob Marley in der Lausitz

Mitte der siebziger Jahre. Es spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Bob Marley ist im Land. Der große „Reggae King of the World“ besucht die kleine DDR. Inkognito eingereist mit einer „Jugendtourist“-Gruppe will er das Land hinter der Mauer entdecken. Im Gepäck seine Gitarre und jede Menge Gras. Marihuana ist für Rastas das „Heilkraut der Völker“. Robert Nesta Marley, so sein Geburtsname, ist ein großer Fußball-Fan und zu „90 Prozent der Zeit bekifft“. Heimlich setzt er sich von der Gruppe ab, organisiert einen Trabi.

Mit dem Zweitakter holpert er nach Cottbus. Dann weiter gen Süden. Irgendwo in der Lausitz streikt der kleine Stinker. Bob steht hilflos am Straßenrand. Plötzlich hält quietschend ein Wartburg. Ein junger schlaksiger Mann mit langen Haaren und einer großen Kassenbrille steigt aus. Er fragt den Fremden radebrechend auf Englisch: „Do you need some help? – Sure, Bro!“ Der junge Pannenhelfer ist Gundi Gundermann. Der singende Baggerfahrer aus der Lausitz. Wahnsinn, Brother! Die beiden düsen nach Hoyerswerda. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Kicken, Kiffen und Konzerte.

 

 

Wirklich? Stimmt das? – Leider nein! Wäre auch zu schön, diese Schnurre. Filmemacher Andreas Dresen erzählte sie vor kurzem beim Konzert im Festsaal Kreuzberg. Dort coverte er mit Schauspieler Alexander Scheer die besten Gundermann-Songs. Die Hütte war bis zum Umfallen voll. Was stimmt: 1976 tourte Bob Marley erstmals durch Deutschland, allerdings nur im Westen. Die damalige Tour startete in München, weitere Stationen waren unter anderem Offenburg, Düsseldorf und Hamburg. In Ludwigsburg, meiner Vaterstadt, ging abends der Stoff aus. Guter Rat ist teuer! In der Kleinstadt gab es damals weder Gras noch Dealer. Ständig dabei: Musikjournalist Teja Schwaner. Der Spiegel-Reporter konnte mit selbstangebautem Dope aushelfen.

 

 

Was er über Deutschland wisse, fragte Spiegel-Mann Bob Marley. Dessen Antwort: „Hitler, Müller, Beckenbauer“. Im Tourbus erkundigte sich die Band, wie es sich mit East-Germany und West-Germany lebe. Reporter Teja Schwaner erzählte von Mauer, Todestreifen und Teilung. Da antwortete einer aus der Band: „The wall is gonna fall.“ Im Jahr 1976 gab es keinerleich Anzeichen für ein Ende der DDR. Fröhlich sangen die Jungs von der Marley-Band: „Don’t  worry …. the wall is gonna fall, the wall is gonna fall.“

 

 

Im Mai 1981 verließ Reggae-Legende Bob Marley mit gerade einmal 36 Jahren für immer die Welt. Der Mann, dessen Lebenskerze stets an beiden Enden brannte. Vermutlich war das ein Grund, dass sein Körper der Krake Krebs schutzlos ausgeliefert war. Auch der Lausitzer Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann hat sich die Seele aus dem Leib gesungen. Geniale Texte. Ungewöhnliche Arrangements. Bodenständiges Auftreten im karierten Fleischerhemd. Sein Lebenslicht erlosch mit 43 Jahren. Gott sei Dank, Bob und Gundi, bleiben eure Lieder und Texte. Viel Spaß bei Eurer Session unterm Himmelszelt. Erfreut die Engel: Get up, stand up, don´t give up your fight.

 

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„Vom Wollen zum Können“

Er suchte die Harmonie der Farben. Die Heilung in der Kunst. Er fand seinen Lebenssinn in Natur und Landschaften. Sein Sonnenreich war die Malerei: Kurt Sonn. Unermüdlich arrangierte er seine Bilder in warmen, wohltuenden Farben und fließende Formen. Häuser, Kirchtürme, Höfe und Schuppen. Kantige Brüche oder dunkle Dissonanzen sind eher selten zu erkennen. Seine Sache war das Entdecken und Sehen. Einer, der genau hinschaute, das Spiel der Wolken und den Wechsel der Jahreszeiten. Seine in den Grundtönen rot, braun und gerne mit gelben Sonnentupfern versehenen Landschaftsmotive folgen der expressionistischen Schule. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky waren seine Vorbilder. Abstraktion der Natur auf Basis der Romantik. Tendenz zum Kontrast, dünne lasierende, tuschende Malweise. „Vom Wollen zum Können voranschreitend“, wie es im berühmten Manifest von 1916 heißt.

 

Kurt Sonn. Bild Nr. 639. Der Maler ließ die Bilder namenlos.

 

Kurt Sonn fand seine Bestimmung in der Natur. Sein Gegenbild zur zerstörerischen Kraft der Menschheit in Zeiten von maximalen Gewinnstreben, Globalisierung und Digitalisierung. Harmonische Farben und Formen sind seine Antwort auf Ausplünderung des Planeten. Sein Atelier in der (noch) heilen Unberührtheit der lieblichen schwäbischen Heimat inspirierte und beflügelte ihn genau wie seine geliebten mediterranen Motive.

 

Bild-Nr. 553

 

Doch Sonn war kein weltfremder oder naiver Maler. Er suchte Halt im Glauben, erlebte dort Glück wie Verzweiflung. So malte er gegen das Scheitern an. Täglich neu. Immer wieder getrieben, suchend und fluchend. Nach Zeiten der inneren Qual machte er einen großen Sprung – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen des Inhaltes, zum Abstrahieren – um auf das Wesentliche und zum Kern seiner Kunst vorzustoßen.

 

Bild-Nr. 1381

 

Kurt Sonn (1933 – 2020) war kein medienerprobter Performer im lauten Kunstbetrieb. Zurückgezogen suchte er die richtige Komposition, die passende Mischung von Farben Formen und Figuren. Einer, der stets um den richtigen Ton rang. Ruhig und bescheiden, auf seine Arbeit konzentriert und äußerst konsequent. Er hinterließ mehr als dreitausend Bilder.

„Schau dir die Natur an! Jeder Sonnenuntergang zaubert jeden Abend ein anderes Licht. Sie ist unser größter Lehrmeister“. Einer seiner Sonn-Sätze. Der Künstler malte nicht nur mit Farben, auch mit Tönen und Worten. Am Klavier oder an der Schreibmaschine. Bis zu seinem Tod hat er nahezu jeden Tag ein neues Bild gemalt. In den warmen Kurt-Sonn-Farben, die er so geliebt hat.

 

Bild-Nr. 726

 

Transparenzhinweis: Kurt Sonn war mein Patenonkel. In seinem Atelier posierte ich als Knirps zum Beispiel für eine Märklin-Werbekampagne, mit der er unter anderem den Lebensunterhalt für seine achtköpfige Familie verdiente. Dank dieser Brotjobs konnte er sich die Malerei leisten.