wittenberge geschichte des 1. mai 1978

Wittenberge – Eine Stadt schrumpft

Die Elbestadt Wittenberge, auf halbem Wege zwischen Hamburg und Berlin, wirkt seit der Wende wie abgehängt vom Rest der Welt. Hatte die einst aufstrebende Industriestadt 1989 noch über 33.000 Einwohner, schrumpfte seitdem die Zahl der Bürger auf gegenwärtig knapp über 17.000. Wenn der Abwärtstrend anhält, rechnen Experten in den wenigen Jahren mit nur noch 12.000 Bürgern. Dann leben im Vergleich zum Einheitsjahr nur noch ein Drittel Wittenberger in ihrer Stadt. Das ist in Deutschland ein einmaliger Vorgang. Nicht einmal in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gab es eine vergleichbaren dramatischen Rückgang an Bevölkerung.

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Kunst am Bahnhof Wittenberge.

Wer als Besucher nach Wittenberge kommt, findet ein ausgesprochen widersprüchliches Bild vor. Die Stadt ist in einigen Vierteln großartig saniert, anderseits gibt es Quartiere völliger Leere und Ecken des Verfalls. Die Stadt wirkt wie ein Paar Schuhe in absolut unterschiedlichem Zustand. Der eine ist frisch poliert, der andere komplett verschlissen. Der Grund: Innerhalb kürzester Zeit wurden nach der Einheit wichtige Industriebetriebe mit über 6.000 Arbeitsplätzen saniert, sprich geschlossen. Darunter das in den 80er Jahren modernste Nähmaschinenwerk des Ostblocks „Veritas“, einst „Singer“, der Vorzeigebetrieb der Wittenberger. Viele Bürger fühlen sich seit der Einheit vom Westen enteignet. Eine Mehrheit der Wittenberger sieht sich als Opferstadt.

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Bürgerverein Wittenberge – Jahnviertel.

Nach der Schließung von Großbetrieben setzte in den neunziger Jahren eine beispiellose Abwanderung junger Menschen ein. Die Restbevölkerung heute ist weiter am Schrumpfen, überwiegend alt und eher bildungsfern. Es fehlt in erster Linie an gebärfähigen Frauen. Die Stadt scheint allen Transferprogramme zum Trotz in einen hundertjährigen Tiefschlaf verfallen zu sein. Wer das offen anspricht, wird abgelehnt. Wer in den Straßen fotografiert, fällt sofort auf. Die Wittenberger reagieren auf fremde Blicke mit Misstrauen. Die Heimat wird verteidigt. Auch die Schandflecken.

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Bankverein Wittenberge an der Elbe.

Wittenberge ist eher zufällig Schauplatz einer meiner Geschichten im Buch „Verrat verjährt nicht. Lebensgeschichten aus einem einst geteilten Land.“ Immer wieder stieß ich bei meinen jahrelangen Recherchen zu dem Schicksal eines jungen Wittenbergers auf Informationen, Hinweise und Gerüchte über einen vermeintlichen „Volksaufstand“ im Mai 1978. Die spannende Frage ist, was hat von den Nachrichten über einen Volksaufstand in Wittenberge Substanz, was waren oder sind Halbwahrheiten und Legenden?

Die Ereignisse am 1. Mai 1978 konnten bis heute nicht geklärt werden. Damals bestimmten Schlagzeilen über heftige Auseinandersetzungen und Krawalle tagelang die Berichterstattung westlicher Medien. Die DDR schwieg zu den Vorgängen am Rande eines Maifestes. Die SED-Spitze wies alle Vorwürfe zurück und erklärte, sie stammten aus dem „Reich der Märchen“. Das DDR-Außenministerium verwarnte fünf Westkorrespondenten wegen „Verbreitung von Falschnachrichten.“ Rund ein Dutzend Menschen wurde wegen „Rowdytum“ oder „staatsfeindliche Hetze“ verurteilt. Die Höchststrafe lag bei 7 1/2 Jahren.

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Platz der Freiheit. Das Rathaus aus der Gründerzeit ist bis heute Bürgerstolz. 1978 hatte hier die Volkspolizei ihr Revier. Hier fand das traditionelle Maifest statt. Ausgangspunkt der Randale.

 

1. Mai 1978. Es war eigentlich wie jedes Jahr. Am Vormittag Reden und die „Kampfdemonstration der Werktätigen“, danach folgte der gemütlichere Teil. Ein Volksfest auf dem „Platz der Freiheit“ vor dem prächtigen Rathaus aus der Gründerzeit mit Tanz, Kirmes und Losbuden. In den späten Nachmittagsstunden des Maifestes entwickelte sich aus einer harmlosen Bierprügelei, bei der Einsatzkräfte den Falschen festnahmen, tumultartige Szenen vor dem Wittenberger Rathaus.

Eine vielköpfige Menschenmenge versammelte sich vor dem Rathaus, in dem sich auch das Polizeirevier befand. Augenzeugen sprechen von vier- bis fünfhundert Personen. Angefeuert von der Menge versuchten Jugendliche das Rathaus zu stürmen, um die Festgenommenen zu befreien. Dabei kam es zu schweren Auseinandersetzungen, bei denen die überforderte Volkspolizei Wasserwerfer, Schlagstöcke und Diensthunde einsetzte. Es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen.

Erst kurz vor Mitternacht bekam der Sicherheitsapparat die Lage wieder in den Griff. Am Rande der Auseinandersetzungen richteten viele junge Wittenberger ihren Unmut und Frust gegen Funktionäre der SED. Alkohol spielte an diesem Abend keine unwesentliche Rolle. Themen waren auch die ständigen Versorgungsmängel und der neue „Delikat“-Laden in Wittenberge, in dem rare Westwaren gegen überhöhte Preise verkauft wurden.

Augenzeuge aus Wittenberge

„Ich war damals mit meinem dreijährigen Sohn auf dem Maifest. Die Menge war sehr wütend. Die standen vor den Treppen des Rathauses, direkt vor dem Polizeirevier. Es waren vielleicht einige hundert Menschen, viele waren angetrunken. Es wurde immer aggressiver. Ich beschloss zu gehen, um meinen Sohn zu schützen.“

Ingenieur aus Wittenberge

„Es war wie im Kino. Ich bekomme noch heute Gänsehaut. Die Stimmung war sehr explosiv. Steine sind geflogen, die Leute waren wegen der Intershops und des Deli-Laden unglaublich sauer. Sie waren richtiggehend geladen. Es gab offene Proteste.“

Zeuge laut Vernehmungsprotokoll (Mai 1978)

„Ich bekam auch etwas mit dem Schlagstock ab, weil ich nach Aufforderungen den Platz trotzdem nicht verließ. Meine Verlobte wurde zu Boden geschubst.“ Er schildert ferner wie mehrere Personen von Polizisten geschlagen werden und ein Polizeihund auf eine Passantin losgelassen wird. „Die Frau, die gebissen wurde, wollte wissen, wo es zur Elbbrücke geht. Ich weiß es genau, weil ich daneben stand und es hörte.“

Pfarrer Dr. Ulrich Woronowicz (damals Wittenberge)
„Es war eine Demonstration junger Leute. Es war Unmut gegen die Erhöhung der Preise im Delikat-Laden. Eine Polizeieinheit ist dann mit LKWs auf den Platz gefahren, hat die Menschen auseinander getrieben, der Schlagstock kam zum Einsatz, die Menschen wurden regelrecht getrieben, einige sind verletzt worden. Am Tag danach habe ich meinen Bekannten, den Chefarzt des Wittenberger Krankenhauses angerufen, um zu fragen wie viele Verletzte behandelt werden. Es gab Verletzte, aber ich wurde an einem Besuch gehindert. Das Gespräch war abgehört worden. Wir unterhielten uns auch über Viktor Klemperer. Ein Hauptmann Tilse kannte den Schriftsteller nicht. Er fragte nach: wer ist Viktor Klemperer? Seine Dienststelle teilte ihm mit, der Mann sei unbekannt.“

Aus dem Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei der DDR (1978)

„Sehr ungünstig wirkte sich das Verhalten des Ortssekretärs Genossen Lewin auf einen Teil der dortigen Jugendlichen und Jungerwachsenen aus. Er erschien gegen 19.00 Uhr und ohne die Zusammenhänge zu erkennen begab er sich zu den Versammelten und schlug wahllos auf die dort anwesenden Jugendlichen ein. Dabei wurden auch Jugendliche von ihm beschimpft. Sinngemäß brachte er zum Ausdruck, „Ihr wollt nur die Konterrevolution und anderes mehr. Später hat sich Genosse Lewin im VP-Revier (Volkspolizei-Revier) aufgehalten. Er war sehr erregt und sollte sich dort erst beruhigen. Ob er dort einen Kontakt zu den Zugeführten hatte, kann nicht gesagt werden.“

Aus dem Lagebericht der Volkspolizei (verfasst in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1978)

„Durch die im Einsatz befundenen speziellen Mittel konnte eingeschätzt werden, dass gegen 23:00 Uhr sich das Leben im Stadtgebiet von Wittenberge auf den öffentlichen Straßen normalisiert hatte. Es gab nirgend irgendwelche Zusammenhäufungen von Jugendlichen. Auch kann eingeschätzt werden, dass über 80% der vor dem VP-Revier versammelten Personen nur Schaulustige waren, die keine Sympathien für die wenigen schreienden und pfeifenden zeigten.“

Heute scheint es, als habe der 1. Mai 1978 nie stattgefunden. In der ausführlichen Stadtchronik („Wittenberge. Eine Chronik mit Bildern“. Oktober 2010) wird jede Brückensanierung, Kita-Eröffnung oder Firmenneugründung der letzten Jahrzehnte erwähnt. Hinweise zu den Auseinandersetzungen vom Mai 1978, es war immerhin der größte und schwierigste Polizeieinsatz der Nachkriegszeit, sind nicht zu finden. 1978 hatten die lokalen Medien die Krawalle auf Weisung der Partei verschwiegen. Nur das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland“, hatte die Vorgänge indirekt kommentiert und von gezielten Lügen des Westens gesprochen.

Das Rätsel um den „Volksaufstand von Wittenberge“ wartet – auch dreißig Jahre danach – noch immer auf eine wirkliche Lösung. Seit einiger Zeit sind offizielle Einschätzungen und Protokolle der SED zu dem „Vorkommnis“, wie die Krawalle amtlicherseits bezeichnet wurden, zugänglich. Lagemeldungen der Volkspolizei, der Kriminalpolizei und der Staatssicherheit befinden sich im Schweriner Landes-Archiv. Wittenberge, heute Bundesland Brandenburg, gehörte zu DDR-Zeiten zum Bezirk Schwerin.

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Elbe bei Wittenberge.

Zeitzeugen-Berichte, Dokumente und weitere Hinweise sind erwünscht.