rotz an backe – goldgräber-geschichten

Deutschland 2023. Lage ist alles. Auch in GG, in Brandenburg.

 

Geschichten aus GG (1)

Traumhaft. Zwischen Birken und Weiden grüßt die Morgensonne vom anderen Ufer. Das Wasser spiegelt sich golden. Auf der kleinen Insel erwacht das Leben. Amseln und Nachtigallen zwitschern um die Wette.

Verkehrte Welt. An diesem idyllischen See zwischen Berlin und Potsdam geht die Sonne jeden Morgen im Westen auf. Abends verschwindet sie im Osten. Wo die Sonne untergeht, war der Osten. So nannten die Menschen das Land, obwohl das Ufer geografisch im Westen liegt.

Der sportliche Mann mit seinen weißen Sneakers gähnt. Es ist zu früh für ihn, kurz nach sieben Uhr, nicht seine Zeit. Müde zückt er sein Smartphone, knipst auf der Terrasse einige Selfies erst mit dem Haus, schließlich mit dem verführerisch glitzernden See als Kulisse

Perfekt. Die Lage am See ist unbezahlbar. Hier würde ich gerne wohnen. Mit der Provision ist mein nächster Urlaub gesichert, motiviert sich der Mittdreißiger, während er in seinem Smartphone die Daten seiner Kundschaft abfragt.

7.30 Uhr Groß Glienicke. Seeufer 14. Eine vierköpfige Bindestrich-Familie hat sich angesagt. Er Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, sie Pädagogin in der Fortbildung. Die Kinder sind sechs und drei Jahre alt.

Passt perfekt. Wie gemalt.

Lautlos schnurrt der elektrobetriebene Volvo XC90 das Seeufer entlang, stoppt vor dem Gartentor.

„Großartig“ sagt der Mann am Lenkrad. In dieser Straße gibt es keine Parkzone. Dafür viel Platz. Sauber und wie frisch gefegt ist es hier auch.

„Kinder wir sind da“, ruft die Frau auf dem Beifahrersitz.

„Was machen wir hier?“ fragt das ältere Mädchen.

Aus dem Elektroauto schält sich Familie Bredow-Richter und füllt die Morgenruhe mit geschäftigem Geplapper.

„Annalena, setz deinen Helm auf, Ricarda, du auch!“

Die Kinder schnüren ihre Helme, die Mutter prüft den korrekten Sitz. Auf die Plätze, fertig los. Mit Geschrei startet Annalena auf ihrem Tretroller, während ihre kleine Schwester Ricarda versucht, auf ihrem Laufrad mitzuhalten.

Mit einem Blick hat der Makler hinter der Fensterscheibe seine Kundschaft gescannt. Akademiker. Frisch geduscht und solvent. Es riecht nach Montessori-Kindergarten, Geigenunterricht und Reitstunden. Eine Berliner Bilderbuch-Familie vom Kollwitzplatz, den Zumutungen der Großstadt überdrüssig. Sie träumen vom Landleben, aber in Hauptstadtnähe. Die Volvo-Familie macht den Eindruck, als wäre sie zum Sonntagsbrunch im Grunewald eingeladen.

 

Haus am See zu verkaufen.

 

Dynamisch klingelt das Familienoberhaupt an der Außenglocke. Sein erster Eindruck: Das Haus hat Charme, ist jedoch in die Jahre gekommen. Das Dach scheint frisch gedeckt zu sein. Ein Korsett aus Wein und Efeu wuchert an den Rändern des Eingangs nach oben, als habe das Haus genau hier für immer Wurzeln geschlagen.

Das Gartentor öffnet sich von Geisterhand. Funktioniert, nickt der Mann seiner Gattin zu. Sie sortiert ihre Haare, während der behelmte Nachwuchs in Richtung Traumhaus am See rattert.

„Guten Morgen zu früher Stunde am Seeufer 14 in Groß Glienicke“, grüßt der Makler Er lächelt wie der Hauptdarsteller am Ende der fünften Staffel.

„Ich bin Marko Metzger – Ihr Mann für alle Fälle und Lagen, natürlich nur Immobilienlagen“, scherzt er. „Für Sie bin ich der Marko.“

Sie reichen sich die Hand, wie es im ehemaligen Osten des Landes nach wie vor üblich ist.

„Angenehm. Silke Bredow-Richter und mein Mann Max Bredow“, übernimmt die Gattin die Regie, während sich Annalena und Ricarda um einen Ast streiten, den sie im Vorgarten gefunden haben.

„Kinder, hört auf! Man kann sein eigenes Wort nicht verstehen. Wollt Ihr mal Eure neuen Zimmer sehen?“

Makler Marko und Familie Bredow-Richter ziehen mit Ahs und Ohs durch das leere Haus. Im Schlafzimmer mit traumhaftem Blick auf den See erläutert Marko, das Haus eigne sich auch als Kapitalanlage. Der sicherste Inflationsschutz! Die Mietpreise bewegten sich in Groß Glienicke nur in eine Richtung: nach oben. Hier könnten die Bredow-Richters ihr Geld im Schlaf verdienen, lächelt er verführerisch.

Der Mann zieht alle Register. Jeder gelungene Gag ist verkaufsfördernd.

„Ich bin begeistert“, sagt die Frau. „Dieser Look aus den Zwanzigern. Herrlich. Ein Haus mit Stil! So viele originelle Räume. Dazu der Blick auf den See. Im Garten blüht der Flieder“.

„Das Beste kommt noch“, versichert Marko. Sie steigen hinab ins Souterrain, das sich zum größten Raum des Hauses öffnet.

Wieder ist ein zweistimmiges Ah und Oh zu hören.

„Darf ich vorstellen? Das Wohnzimmer. Das Atelier. Wie Sie wollen. Für Ihre Kinder die perfekte Turnhalle“, erklärt Marko.

„Ich bin überwältigt“, ruft die Frau, „das hätte ich mir nicht träumen lassen, Schatz“.

„Kann man nicht meckern“, murmelt der Gatte und prüft die lädierte Holzverkleidung.

Mit leuchtenden Augen betrachtet das Ehepaar Bredow-Richter den großzügigen Raum, bewundert durch bodentiefe Fenster Garten, See und den unverbaubaren Blick gen Westen, zur aufsteigenden Sonne am anderen Ufer.

„Dort drüben, wo die Sonne jeden Morgen für Sie aufgeht, ist der Westen“, erklärt Marko mit Pathos in der Stimme, „dort ist das alte West-Berlin. Hier, wo wir stehen, war die DDR, also der Osten. Sie sehen, dieses Objekt hat das gewisse Etwas. Das ist einmalig. Privates Seeufer, traumhafter Blick, ungestörte Ruhe. Ein großer Garten zum Toben für die Kinder und ein Haus mit spannender Geschichte. Passt. Perfekt!“

 

Das Haus am See befand sich bis Ende 1989 mitten im Grenzgebiet.

 

Marko zupft an seiner Designerkrawatte und denkt: Jetzt ziehe ich mein Ass aus dem Ärmel. Die Story vom Mauerhaus. Die funktioniert immer.

„Sie schauen direkt auf den Todesstreifen“, erwähnt Marko eher beiläufig.

„Wie bitte?“ rufen die Bredow-Richters, während es im Hintergrund scheppert.

„Annalena, Ricarda. Kommt mal. Stellt Euch vor. Hier war die Mauer! Echt krass.“

Die Mädchen staunen ungläubig. Die Ältere fragt.

„Wo denn? Da sind doch nur Bäume und da hinten ist ein See.“

„Der Glienicker See“, erläutert die Mutter, „das könnte unser See werden, da können wir morgens baden. Sag doch auch mal was, Max!“

Die Jüngere ruft: „Mama, ich habe Durst“.

Hektisch fingert sie in ihrem Rucksack nach Quetschies, reicht eine Tüte.

„Ich auch!“

Annalena und Riccarda nuckeln an ihrem Apfel-Möhren-Brei.

„Wollen Sie die Kurz- oder Langfassung hören?“

„Gerne die ganze Geschichte. Aber leider haben wir Termine. Mein Mann und ich müssen bald los und die Kinder in ihre Gruppe,“ bittet Silke Bredow-Richter um Verständnis.

„Gut. Nur die Dalli-Dalli-Kurzversion. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen die komplette Geschichte per WhatsApp, kein Problem.“

„Nur zu. Na, dann dalli-dalli“, lacht Silke.

„Fontane kennen Sie? Der Altmeister notierte über Groß Glienicke. Der Boden ist lehmhaltig. Lehm heißt auf wendisch Glin. Deshalb Klingeling: Glienicke. Aber weil hier alles groß ist: Natur, Lage, Lebensqualität, heißt der Ort Groß Glienicke. Wichtig, ohne Bindestrich, nicht wie bei Ihnen!“

Die Pointe verfehlt ihr Ziel. Marko bemerkt seinen Fauxpas, justiert sofort nach. Wie ein Wasserfall legt er los. Das Haus sei 1929 von einem Zahnarzt aus Berlin gebaut worden. Natürlich nicht von ihm, aber in einem Jahr Bauzeit. Damals gab es noch Maurer und Handwerker, die Termine einhielten. Nicht wie heute“.

Marko lacht am lautesten über seine Pointen.

„Das ist deutsche Wertarbeit. Mitte der dreißiger Jahre wechselte der Besitzer.“

Familienvater Max stutzt.

„Warum ist der Zahnarzt so schnell weggezogen?“

„Oh, das ist lange her. Das kann ich klären, wenn Sie es genauer wissen wollen. Das Haus blieb im Krieg unzerstört. Glück gehabt.“

„Unser Haus am Kollwitzplatz hatte einen Treffer im Seitenflügel“, wirft Silke ein, „dort spielen heute unsere Kinder. Sehr praktisch. Eine grüne Lunge. Wir haben selbst mit Hand angelegt. Sie spielen geschützt im Innenhof.“

„Sehen Sie! Glück muss man haben im Leben“, stimmt Marko zu.

„Nach dem Krieg war eine russische Kommandantur im Haus, danach kamen Flüchtlinge. Ab den Fünfzigern wohnten hier Genossen, weil das Haus im Sperrgebiet lag. Grenzgebiet bis zur Wende. Zwei hohe Mauern, Minen, Hundelaufgraben, Wachtürme. Geschossen wurde auch. Na, eben Todesstreifen.“

„Wie aufregend“, staunen Max und Silke. „Hier war die Grenze?“

„Genau. Sie lief mitten durch den Garten. Der See war verschwunden. Unerreichbar! Kann man sich nicht mehr vorstellen. Das haben wir alles wieder in Ordnung gebracht“, ergänzt Marko mit breiter Brust.

„Wann fahren wir endlich in die Kita?“ ruft die große Annalena. „Gleich“ antwortet Mutter Silke streng.

„Heizung, Sanitäranlagen und die Außenanlagen, da scheint einiges verschlissen zu sein. Da müsste man investieren. Vernünftige Kalksteinplatten zum Beispiel“ Max weist auf die ramponierte Terrasse.

„Kalkstein ist wie Samt, stabil und unverwüstlich. Kein Billigimport aus China. Regionale Wertarbeit“, fügt Max hinzu, dessen Augen um Zustimmung der Gattin suchen.

„Da haben Sie recht. Der Zahn der Zeit, da kann man nichts machen. Das Haus steht seit Jahren leer. Da muss einiges gemacht werden“, pflichtet Marko bei. Er sortiert seine verdrehte Krawatte.

„Wie lange steht das Haus schon leer?“

Marko hebt die Schultern, meint, auch diese Frage werde er zufriedenstellend klären. Instinktiv spürt er, dass er Vorsicht walten lassen sollte. Kritische Nachfragen und ungeduldige Kinder stören den Betriebsablauf.

„Also das Dach wurde nach der Wende komplett neu gedeckt. Damit es nicht reinregnet. Das Haus selbst ist sehr solide gebaut.“

Mittlerweile haben Familie Bredow-Richter und Makler Marko das Haus einmal umrundet. Eine Amsel setzt sich auf den Mandelbaum im Vorgarten.

„Was bedeuten eigentlich die Buchstaben GG an der Haustür?“ will Silke Bredow-Richter wissen, obwohl die Zeichen auf Aufbruch stehen.

„Groß Glienicke, vermutlich. Auch diese Frage kläre ich zu Ihrer Zufriedenheit. Ich kümmere mich.“

Annalena und Ricarda quengeln. Silke ist hin und hergerissen, zwischen der nötigen Aufmerksamkeit einer möglichen Hausbesitzerin und ihren Mutterpflichten.

„Kinder, was bedeutet ein G?“ versucht sie ihren Nachwuchs pädagogisch einfühlsam zu beteiligen. Die Kleinerer ruft.

„Giraffe!“

„Das Haus mit den zwei Giraffen“, ergänzt die große Tochter.

„Toll, Annalena!“.

Die Erwachsenen freuen sich.

„Wie sind Ihre Preisvorstellungen, alles inklusive versteht sich?“ fragt Max.

Makler Marko tippt einige Zahlenkombinationen in sein Handy, bis er mit einem Na-ja-unter-uns-Blick das gespannte Ehepaar Bredow-Richter einstimmt, Qualität habe seinen Preis.

„Am Ende landen wir bei 3.2 Millionen Euro, so die Vorstellung der Eigentümer. Ein absolut angemessener Preis für eines der letzten Traumgrundstücke am See.“

„Können Sie klären, ob es Verhandlungsspielraum gibt?“ fragt Max nach, als die kleine Ricarda herzerschütternd zu schreien beginnt. Silke kann ihrem Mann noch zuflüstern, die Drei vor dem Komma müsse weg, ansonsten sei alles in Ordnung. Sie eilt zu ihrer jüngsten Tochter, die weinend auf ihrem umgefallenen Laufrad neben einer zerborstenen Wegplatte kauert.

„Mama, ich blute!“

Während Silke Bredow-Richter ihre Tochter tröstet, kümmert sich Max um Annalena, die das Weinen ihrer kleinen Schwester solidarisch unterstützt.

„Sie hören von uns“, ruft Max, während er mit großer Tochter, Tretroller und Laufrad zum Auto eilt. Er dreht sich noch einmal um: „Das ist eine Perle. Über den Preis werden wir uns einig“.

Geräuschlos setzt sich der Schwedenpanzer abgasfrei in Bewegung, um in Richtung Berlin zu verschwinden.

„Perfekt. Die beißen an“.

Marko Metzger genießt diesen erhabenen Makler-Moment wie einen geglückten Beischlaf. Groß Glienicke ohne Bindestrich ist eine Goldgrube. Dieser Ort am See, der allein durch seine Anwesenheit jeden Tag an Wert gewinnt. Alte Makler-Weisheit: Lage zählt, sonst nichts.

Flüsterte die Doppelnamen-Dame nicht beiläufig, sie könne sich „das Anwesen“ als Zweitwohnsitz vorstellen, fürs Wochenende? Die müssen es haben. Volvo der Extraklasse, Loft am Prenzlauer Berg und eine Datsche für drei Millionen als Sahnehäubchen. Markogenehmigt sich einen Schluck lauwarmen Tee aus seiner Thermokanne. Mit einem kleinen Schuss Cognac versteht sich.

Wenn nur nicht die nervigen Gören wären. Verwöhnte Wohlstandsschädlinge. Sowas käme ihm nicht ins Haus.

Egal. Der Köder muss dem Fisch schmecken, und der hat angebissen. Perfekt. Das passt. Marko Metzger fällt in diesem Glücksmoment ein Kinderreim aus alten Kita-Zeiten ein.

„Rotz an Backe, Kacke am Been, ach, wie ist das Leben scheen!“

 

Fortsetzung folgt

GG-Geschichten – Goldgräberzeiten-Geschichten

 

© Christhard Läpple 2023