Good Bye, Fritz! – „Mein Lebenshorizont ist ausgeschritten“

Das Alter ist ein Massaker, konstatierte Marcel Reich-Ranicki kurz vor seinem Tod. Irgendwann ist Schluss. So wie sein konservativer Gegenspieler, dem er in herzlicher Feindschaft verbunden war, fühlte sich zuletzt auch Fritz J. Raddatz. Der Autor und Essayist wollte sein Leben bis zum letzten Tag würdig gestalten. In einem Interview nahm er kürzlich Abschied von seinen Lesern. Ihm fiele nichts mehr. Die Aufgeregtheiten des Tages interessieren ihn nicht mehr. Es sei genug! Fritze Raddatz nahm sich am 26. Februar in Zürich das Leben. Einen Tag, bevor sein letztes Buch erscheint „Jahre mit Ledig“.

Sein Leben war ein einziger Roman. Geboren 1931 in Berlin, wechselte er mit neunzehn Jahren von West- nach Ostberlin, „voller Hass auf das Adenauer-Globke-Deutschland und voll Abscheu vor der Bürgerwelt, deren Teil ich war und geblieben bin“, denn „mir gefielen die Gesichter im Osten besser.“ Der junge aufmüpfige Raddatz stieg zum stellvertretende Cheflektor im Verlag Volk und Welt auf, bis er die ständige Bevormundung, Zensur und DDR-Piefigkeit satt hatte.

1958 ging Raddatz zurück in den Westen. Erich Kästner vermittelte das große Talent an den Kindler-Verlag. Ab 1960 stand er mit an der Spitze des Rowohlt-Verlags und ab 1977 leitete er das Feuilleton der ZEIT. Raddatz stürzte sich zeitlebens furchtlos in alle Debatten. Streitbar, gebildet, scharfsinnig, hochmütig, verletzend und verletzbar. Er war „Torero und Stier zugleich“. So der Titel seiner Autobiografie.

 

Der literaturbesessene Raddatz nannte sich einen „Hochmutstrottel“. Lebte ein Leben voller glanzvoller Höhepunkte und tiefen Abstürzen. Offen bekannte er sich zu seinen homosexuellen Affären mit Allen Ginsberg oder dem Tänzer Rudolf Nurejew. Er liebte das Bordell, den Champagner – überhaupt wurde in seinem Leben viel getrunken – und den Luxus. Raddatz fühlte sich Klaus Mann sehr nahe, in den er sich während eines Vortrages auch verliebt hatte, ohne dass Klaus Mann je davon erfuhr.

Seine Hausgötter waren Kurt Tucholsky, Rainer Maria Rilke und Heinrich Heine. Er liebte literarische Duelle, legte sich mit jedem an, der ihm einigermaßen satisfaktionsfähig erschien. Seinen journalistischen und gesellschaftlichen Kosmos beschrieb er in den legendären Tagebüchern. Sie eröffneten einen unverstellten Blick hinter die Kulissen des aufgeregten plappernden Literaturbetriebes. „Ich, ich, ich – Peinlich sind immer die anderen, Freunde, das ist ein heikler Plural“, lächelte der Homme de Lettre zwischen den Zeilen.

Fritz J. Raddatz verabschiedete sich im Alter von 83 Jahren. Schon zu Lebzeiten verkörperte der „Revoluzzer im Maßanzug“ einen Typus Journalisten, den es längst und leider nicht mehr gibt: Ein gebildeter Zeitgenosse, mit brillanter Intellektualität und Lebensklugheit, Größenwahn und scharfzüngig formulierter Haltung. Er wird fehlen – im dahinplätschernden Mahlstrom der Mittelmäßigkeit unseres heutigen Kulturbetriebes.

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