Einmal Flüchtling – immer Flüchtling?
Der Vater hat den Koffer gezimmert. Ein Bootsbauer aus Ostpreußen. Auf die Innenseite schrieb er die Adresse seiner Frau: Charlotte Glase. Königsberg. Herzog-Albrecht-Platz 2. Ein paar Habseligkeiten wurden verstaut. Dann hinaus auf die Ostsee bei zwanzig Grad Kälte. Auf einer Schute und mit der Tochter, der kleinen achtjährigen Ingetraud. Bootsflüchtlinge. Der Kampf ums nackte Überleben.
Dieser Koffer blieb Ingetraud Lippmann, heute 89 Jahre alt. Ihre neue Heimat Hamburg. Alles, was sie behielt, war dieser Koffer und Lottchen. Ihre Puppe, ein Jahr jünger als sie, ihr ein und alles. Die alte Frau sitzt im Sessel und erzählt von ihrer Flucht. Auf einem überfüllten Boot. In Zügen, auf deren Dächern sich Menschen klammerten.
Sie beginnt zu weinen, als sie vom Schicksal ihres Vaters berichtet. Er blieb an der Kaimauer von Gotenhafen – heute: Gdynia – zurück. „Entsetzlich“. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Vom Tod ihres Vaters in Kriegsgefangenschaft erfuhr sie erst 2003, genau 58 Jahre später.
Ingetraud Lippmann flüchtete im Januar 1945 von Königsberg nach Kehdingen in der Nähe von Cuxhaven. Sie wurde beim reichsten Altbauern einquartiert. Im Keller mit 13 weiteren Kindern. Willkommenskultur? Von wegen. Der Empfang war eher abweisend und frostig. Nichts wurde ihnen geschenkt. Ihre Milch mussten sie beim Nachbarbauern kaufen. Die Mutter ging übers Land, um zu betteln. Sie bot ihre Arbeit an. Nähen von Kleidern. Gegenwert: vier Eier.
Die pure Not schweißte zusammen. Viele Kinder hungerten. Einzige warme Nahrung war die „Schwedenspeisung“ in den Schulen. Ingetraud erinnert sich an manche hilfsbereite Menschen aber auch an viel Neid. „Die Flüchtlinge brauchen ja nur zur Kleiderkammer zu gehen, um sich etwas Gutes auszusuchen“ hieß es. Oder: „Jetzt kommen noch mehr Polacken.“
Ingetraud war in der Schule die Beste, obwohl sie keine Bücher hatte. Das ärgerte die einheimischen Kinder. Ihr Flüchtlingsausweis A war anfangs wie ein Makel. Als sie sich bewarb, hagelte es ablehnende Antworten. Die Stelle sei bereits vergeben, hieß es stets. Die ersten verstorbenen Flüchtlinge wurden im Dorf auf dem Hundefriedhof begraben.
Doch Ingetraud gab nicht auf. Sie zog 1953 nach Hamburg, fand Mann und Arbeit. Ihr Lottchen war immer dabei. „Wir hatten alles verloren: Haus, Hof und Heimat. Das Wichtigste aber war: Wir leben!“ Ingetraud lächelt mich an: „Ich habe damals viel geschrieben. Tagebücher. Das viele Schreiben hat mein Herz frei gemacht.“ Und dann sagt sie noch: „Dieser verdammte Krieg. Wir müssen daraus lernen. Es darf nie wieder dazu kommen. Krieg zerstört alles.“
Meine Mutter erzählt ganz ähnliche Geschichten. Und wieder hören wir, dass die Flüchtlinge alles geschenkt bekommen und es so gut haben, bei uns. Sind das die „guten alten“ Werte des christlichen Abendlands, auf die sich manche zurückbesinnen wollen? Neid, Missgunst und Fremdenfeindlichkeit. Und das in einem „christlichen“ Land? Die Geschichte wird sich noch oft wiederholen müssen, bis die Menschheit was draus lernt. Ein Lob an Frau Merkel, die den Mut hatte, christliche Prinzipien in einer christlichen Partei einzufordern. Das Wahlvolk ist dem auch ganz aufgeschlossen, solange die Lasten verteilt werden und die Medien positiv berichten. Aber jede Bereitschaft kann mit geeigneten Maßnahmen gekippt werden. Davon abgesehen: Jedes Land das Rüstungsgüter exportiert oder sich an Kriegen beteiligt, muss seine Grenzen für Flüchtlinge uneingeschränkt offen halten. Den Liberalen sei gesagt, das fällt unter die Produkthaftung und ist pure Marktwirtschaft. Jedes Land, dass sich christlich oder humanitär nennt, sollte seine Grenzen ebenfalls offen halten. Der Rest soll sich halt einmauern.