Archive for : September, 2015

Zweite Heimat – ein Erfolgsmodell?

Neunzehn Millionen Deutsche wissen nicht mehr, wie es sich mit Teilung, Mauer und Grenzkontrollen lebte. Wie es war mit zwei Hauptstädten, zwei Währungen und zwei Gesellschaftssystemen, die sich wie Feuer und Wasser verhielten. Neunzehn Millionen Deutsche wurden nach 1990 geboren, dem Jahr der Einheit. Wie hat sich das neue Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt? Wurde die historische Chance genutzt? Vier Menschen aus diesem Land erzählen in der Doku Zweite Heimat ihre Geschichte. Ehrlich, offen und manchmal mit einem lachenden, manchmal mit einem weinenden Auge. Ist alles besser geworden?

 

Das sind die vier Deutschland-Erkunder:

Jörg Schönbohm. Jahrgang 1937. Geboren in Neu-Golm bei Bad Saarow/Brandenburg. Die Familie flüchtete 1945 in den Westen. Nach dem Abitur in Kassel legte er eine steile Karriere bei der Bundeswehr hin. Als Generalleutnant löste er 1990 die Nationale Volksarmee auf. Die „Armee der Einheit“ gilt als sein Meisterstück. Später wurde er Innensenator in Berlin, dann Innenminister des Landes Brandenburg. Heute lebt er nach einem Schlaganfall zurückgezogen in Kleinmachnow. In einem Haus auf einem Mauergrundstück an der ehemaligen Grenze. Ein Mann der klaren Worte. Einst konservativer Streiter gegen Politische Korrektheit. Seine Bilanz: „Zum Sieger gehört, dass man vom Verlierer etwas mitnimmt. Und ihn nicht besiegt.“

 

Kathrin Balkenhol. Geboren 1980 in der DDR. 1990 Jungpionierin in Bad Langensalza DDR. 1997 zieht sie in den Westen, studiert, wird Lehrerin in Kassel. Nun ist sie Mutter von Paula. Der Vater kommt aus dem Westen und ist der bekannte Künstler Stephan Balkenhol. Er gewann den ersten Preis für das Einheitsdenkmal am Berliner Schlossplatz, der aber nicht realisiert wurde. Die 35-jährige Thüringerin vermisst nach einem Viertel Jahrhundert Einheit einiges von früher. Sie bilanziert: „Es war einmal ein kleines Land, das hieß DDR. Es war ein Land, in dem man vom Gemeischaftssinn träumte. Ein Märchen, das kein Happy End hatte.“

 

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Thüringen im Sommer 2015. Die Sonne geht im Westen unter.

 

Susanne Kreckel Geboren 1980 in der BRD. 1990 ist sie Schülerin in Iserlohn und spielt Blockflöte. Ein Engagement verschlägt die Schauspielerin vor drei Jahren nach Greifswald. In eine Region, die 1989 die jüngste in Deutschland war und heute zu den ältesten und ärmsten der Republik zählt. Auch Susanne Kreckel erwartet ein Mädchen, eine kleine Prinzessin. Der Vater ist gebürtiger Ostdeutscher aus Mecklenburg-Vorpommern, der EU-Projekte in Polen betreut. Über ihre neue Heimat im Osten sagt die 35-jährige: „„Ich wusste überhaupt nichts über Greifswald. Ich hatte höchstens Minuserwartungen …ich hatte gar kein Bild und wurde positiv überrascht.“

 

 

André Herzberg. Jahrgang 1955. Sänger, Autor. Einst Frontmann der Kultband Pankow. Der Ost-Berliner verfasste im Herbst 1989 eine Resolution der Rockmusiker gegen Feigheit im Lande. In der DDR war der Sänger ein Star, im vereinten Land wurde er vergessen. Mit dem Roman „Alle Nähe Fern“ über eine jüdische Familie hat sich der Berliner eindrucksvoll zurückgemeldet. Heute zieht der einstige „Mick Jagger des Osten“ quer durch das Land. Ein Suchender. Ein Mann der leisen Töne, unterwegs in Finsterwalde, Bad Krozingen oder Hannover. Er ist auf Lesereise. Hannover ist etwas Besonderes: die Stadt, aus der seine Großeltern 1941 ins Exil vertrieben wurden. André Herzberg erzählt genau und unaufgeregt von Ost-West- und Vater-Sohn-Konflikten. Seine Bilanz: „Mich hat es umgehauen und ich bin wieder aufgestanden.“

 

Solo für Mathias

Der Mann ist eine echte Entdeckung in der internationalen Jazzszene. Wie kein anderer entlockt der Norweger seiner Trompete feinste balladenhafte oder energisch explosive Töne. Mathias Eick hat das gewisse Etwas. Seine Band den Blues. Jazz vom Feinsten. Angetrieben von zwei Drummern fordert seine atmosphärische Trompete eine Violine zum Zwiegespräch heraus. Heraus kommt ein unverwechselbarer nordischer Sound als würde man federleicht in einen der Fjorde gleiten.

Mathias Eick ist 36 Jahre alt. Er stammt aus der traditionsreichen norwegischen Musikerfamilie. Er begleitete nicht nur Jazzgrößen wie Chick Corea oder Pat Metheny, sondern unterstützte auch die Psychodelic-Rocker von Motorpsycho. Seine Musik ist vielseitig. Überhaupt Norwegen. Das raue Land hoch im Norden scheint ein gutes Klima für die Jazzszene zu bieten. Bereits Komponisten-Legende Edvard Grieg kann mit seinen gebrochenen Akkorden zu den Urvätern des skandinavischen Jazz gezählt werden.

Trompeter Mathias Eick, Pianist Bugge Wesseltoft. Gitarrist Jan Gabarek, Sängerin Rebbeka Bakken und viele mehr stehen für eigene melodiöse Kompositionen. Sie öffnen die Türen für weite Räume. Musik zum Träumen wie eine lange Reise in einsamen Landschaften. Mathias Eick gibt mit dem weich-luftigen Timbre seiner Trompete dem modernen Jazz neue Impulse. Und noch ein wenig mehr: eine Seele.

Mathias Eick auf der Jazz Baltca 2015.

 

Der Norweger ist mit seinem aktuellen Album Midwest im Herbst in Deutschland zu hören. Bernau bei Berlin. Ofenbar. 12. November 2015, 19.30 Uhr

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Der genaue Blick

Fan Ho. Fotograf. Regisseur. Schauspieler. Genannt: Der „Große Meister“. Sein Markenzeichen: Schwarzweißaufnahmen, die in formaler Strenge Momentaufnahmen mit unerreichter Detailtreue festhalten. Der Fotokünstler Fan Ho. Geboren in Shanghai, geflüchtet nach Hongkong. Nun kehrt der 78-jährige Chinese in seine Heimatstadt zurück. Mit Bildern und unverwechselbaren Porträts aus der Neuen Welt Hongkong, dieser Megastadt zwischen Tradition und Moderne.

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Fan Ho. Afternoon Chat. 1959.

Autodidakt Fan Ho zog mit der geschenkten Rolleireflex-Kamera seines Vaters los. Durch die Häuserschluchten und Gassen. Über Märkte und durch Bahnhöfe. Er fotografierte Alltagsszenen, Slums und vor allem Kinder. Manche war damals nur wenig jünger als das Riesentalent mit der Kamera des Vaters. Fan Ho sei ein würdiger Vertreter der Bauhaus-Generation, schreiben Kritiker. Die Form folge stets der Funktion. Sachlich, nüchtern, unprätentiös. Der Fotograf erhielt mehr als 260 internationale Auszeichnungen. Auch auf der Berlinale war er mehrfach als Filmregisseur vertreten.

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Fan Ho. Hongkong. Nicht Dessau.

Hongkong ist und bleibt ein Schmelztiegel. Zwischen allen Kulturen. Hier der Westen, der sein Heil in tatkräftigem Handeln und Anhäufung von Geld und Wissen sucht. Dort die östliche Heilslehre, die den Verzicht nahelegt, das stille Sich-Versenken und Sich-Bescheiden. Im heutigen Hongkong werden beide Ideenentwürfe ausgelebt. Das erklärt die Dynamik der Stadt. Wachstum und Geld sind die heutigen Götter. Die Lehren Laotses dienen als Grundlage.

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Fan Ho. Little Grandma. 1958.

Nun kehrt der renommierte Künstler Fan Ho in seine Vaterstadt Shanghai zurück. Es hat viele Jahrzehnte gedauert bis der „verlorene Sohn“ wieder einmal in China ausstellen darf. Zu sehen sind seine eindrucksvollen Bilder in der Ausstellung „Into the light“. M97 PROJECT SPACE. 170 Yueyang Road No.1 Bldg 3 #102. Shanghai, China 200060.

Bis 31. Oktober 2015.

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Fan Ho. The Omen. 1964

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Das kurze Leben des Aylan

Man mag nicht hinschauen. Es lässt einen nicht los. Der reglose Körper des kleinen Aylan aus Kobane, Syrien. Angespült am Strand der Touristenhochburg Bodrum. Ertrunken im Alter von drei Jahren. Die Eltern wollten vor dem Krieg nach Kanada flüchten. Ohne Visum und die richtigen Papiere vertraute sich die Familie Schleppern an. Das kleine Boot kenterte nach dem Ablegen in Richtung Europa. Familie Kurdi wurde ausgelöscht. Mutter und zwei Söhne starben. Nur der Vater überlebte.

 

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Aylan Kurdi, 3 Jahre alt, aus Kobane, Syrien. Anfang September am Strand von Bodrum/Türkei.

Tausend Euro pro Person nahmen die Schlepper. Schwimmwesten gab es nicht. Die sind längst ausverkauft. Kurz nach der Abfahrt gerät das überladene Boot mit 23 Flüchtlingen in starken Wellengang. Vater Abdullah Kurdi schildert die dramatische Situation: „Ich half meinen beiden Söhnen und meiner Frau und versuchte mehr als eine Stunde lang, mich am gekenterten Boot festzuhalten. Meine Söhne lebten da noch. Mein erster Sohn starb in den Wellen, ich musste ihn loslassen, um den anderen zu retten.“

Die türkische Fotografin Nilüfer Demir machte die Bilder vom kleinen Aylan. Ihr stockte der Atem erzählt sie: „Als ich den dreijährigen Aylan Kurdi gesehen habe, gefror mir das Blut in den Adern. In dem Moment war nichts mehr zu machen. Er lag mit seinem roten T-Shirt und seinen blauen Shorts, halb bis zum Bauch hochgerutscht, leblos am Boden. Ich konnte nichts für ihn tun. Das einzige, was ich tun konnte, war, seinem Schrei Gehör zu verschaffen.“

 

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Der Polizist und der tote kleine Junge. Momentaufnahmen der türkischen Fotografin Nilüfer Demir.

 

Die Welt reagiert schockiert – und ratlos. Peter Bouckaert ist für die Hilfsorganisation Human Rights Watch (HRW) seit Jahren in Krisenregionen unterwegs. Der belgische Menschenrechtsaktivist hat das Bild Aylans per Twitter veröffentlicht. Nach intensiver Gewissensprüfung, wie er betont. Die schockierenden Bilder seien nötig gewesen, um eine abgestumpfte Öffentlichkeit wachzurütteln. Der 44-jährige verteidigt sein Vorgehen: „Ich finde es anstößig, dass ertrunkene Kinder an unseren Küsten angeschwemmt werden, wenn man mehr tun könnte, um sie vor dem Tod zu bewahren.“

 

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Peter Bouckaert von „Human Right Watch“: „Mir sind diese Kinder so wichtig wie die eigenen.“

 

Abdullah Kardi hat mittlerweile seine Familie in der zerstörten Heimatstadt Kobane zur letzten Ruhe getragen. Ehefrau Rehan, Sohn Galip, fünf Jahre alt und der kleine Bruder Aylan, drei Jahre alt. Aylan. Der Junge mit den neuen Turnschuhen, die ihn nach Kanada tragen sollten – in ein neues Leben.