„Genau hier sind sie richtig…“

Das Licht brannte immer. Morgens, mittags, abends und nachts. Mitten im Laden ein großer Schreibtisch, an dem in stets gleich vorgebeugter angestrengter Haltung ein Mann mittleren Alters saß. Er schien mit seinem Computer wie mit einer Nabelschnur fest verbunden. „Satz, Layout, Grafik“ steht in weißen Lettern an der Schaufensterfront. Nun ist der Laden leer geräumt. Niemand sitzt mehr da. Nicht mehr an Heiligabend oder an langen Sommernächten. Nicht morgens um sieben oder Sonntagmittags, wenn Familien ihren Spaziergang zelebrieren. Der Grafiker ist weg. Man hat ihn im Zinksarg aus seinem Laden getragen.

 

Der unscheinbare Grafikladen befand sich in der Mitte meiner kleinen Straße im Westen der großen Stadt. „Druckvorstufe, Elektronische Bildbearbeitung, Digitale Reinzeichnung“, heißt es an der Schaufensterscheibe noch. Aber was der Mann mit den schütteren Haaren tagein tagaus an seinem Arbeitsgerät entwarf, bearbeitete oder zeichnete, wusste niemand. „Genau hier sind sie richtig…“ verspricht beim Googeln ein winziger Hinweis im Netz. Auf einer kryptischen Website wird im Impressum ein Name genannt, an den sich keiner aus der Nachbarschaft erinnern kann.

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Ein letzter Gruß für den Grafiker.

Irgendjemand hat einen Strauß Frühlingstulpen vor den Eingang des Ladens gestellt, dazu ein paar Teelichter. Der Tod des Grafikers ist doch bemerkt worden. Aber auch diese kleine Aufmerksamkeit bleibt rätselhaft und anonym. Wen ich auch frage, alle schütteln den Kopf. „Ja, da brannte immer Licht. Aber ich kannte ihn nicht.“ Nur der tunesische Herrenschneider kann sich ein wenig erinnern. „Es war ein stiller, freundlicher Mann. Er war zweimal bei mir.“ Noch etwas, was ihm in Erinnerung geblieben sein könnte? „Nein“, ergänzt der Schneider ratlos, der in der Straße so ziemlich alles und jeden kennt.

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Fast zwei Jahrzehnte brannte hier Licht. Tag und Nacht. 365/24 mal. So wie Berlin gerne für sich wirbt. Die Stadt, die nie schläft.

Zwischen dem „Studio für Physiotherapie“ und dem Kinderladen „Eulennest“ war der kleine Grafikaden. Seit über fünfzehn Jahren brannte dort 365 mal 24 Stunden lang zuverlässig die Tischlampe. Kauerte der Grafiker an seinem Gerät, den Kopf leicht nach oben angespannt. Allseits sichtbar, öffentlich wie eine Schaufensterpuppe saß er da. Und doch unnahbar und unendlich weit entrückt. Eine Schattengestalt. Auch ich habe nie nachgefragt oder seinen Laden betreten, um zu fragen wie es dem vielleicht Ende Fünfzigjährigen so geht. Obwohl mich der Mann mit den grauen langen Haaren beschäftigt hat. Wer ist er? Was macht er eigentlich? Ist er in seinem Laden festgewachsen?

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Das Licht ist aus. Der Laden leer geräumt. Bald zieht neues Leben ein. Das einzig Beständige ist der Wechsel.

 

Mir geht ein Zitat von Immanuel Kant durch den Kopf. „Die Einsamkeit ist schrecklich, aber auf erhabene Art.“ Erhaben? Was war am Leben dieses Einzelgängers erhaben? Ich suche nach Antworten. Nun ist es zu spät. Eine Großstadt ist voller Geschichten, Lärm und Schicksale. Die Einsamkeit des Einzelnen geht im hektischen Getriebe leicht unter. Sie kann spielend verdrängt oder verschleiert werden. Der Laden unseres Grafikers war immer hell erleuchtet – doch sein Leben blieb völlig im Dunkeln.

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