Erzähl mir was
So dramatisch wie im Kino oder Fernsehen vollziehen sich große Veränderungen selten. Im richtigen Leben geschieht es eher beiläufig oder lakonisch. Hoffnungen und Enttäuschungen, Mut und Angst zeigen sich in den kleinen Geschichten. Das ist der wahre Lauf des Lebens. Im Augenblick des Schreibens ringen Zweifel mit Fragen. Wen soll das interessieren? Habe ich wirklich mit allen Wichtigen gesprochen? Nichts vergessen oder übersehen?
Porträts bedeuten: abwarten, beobachten, herumsitzen, zuhören, wirken lassen. Das Erlebte muss sich allmählich in einem Menschen verdichten. Jede Frage kann zur Zumutung werden. Manchmal bleibt einen Wimpernschlag lang unklar, ob mein Gegenüber wütend hinwirft oder mich innig umarmt. Spannende Menschen haben in ihrem Leben einen Wendepunkt. Ihre Persönlichkeit, ihr Ego, ihr Ich sind oft angegriffen. Sie sind verbittert, ihr Selbstbewusstsein erschüttert. Jedes Porträt stößt an Grenzen. Zum wirklichen Kern eines Menschen vermag niemand vordringen. Es kann stets nur ein Versuch sein.
Der Kontakt zu ihren Protagonisten sei wie eine kurze leidenschaftliche Affäre, schreibt die Journalistin Jana Simon. Sehr intensiv, aber danach wollen sich beide Seiten nicht mehr so genau daran erinnern. Die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat einmal ihre Rolle so definiert: „Ich sehe die Menschen mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen des Historikers. Ich bestaune die Menschen. Dieser Maßstab hat mich schon immer fasziniert – … der einzelne Mensch. Denn im Grunde passiert alles dort.“
Die Stimmen einer Zeit oder einer ganzen Generation zu Gehör zu bringen, hat in der Literatur viele Vorbilder. Dylan Thomas ließ seine Heimat Wales in „Unter dem Milchwald“ erklingen. Zwanzig Jahre lang quälte sich der Dichter an diesem Werk. Er beschrieb das Leben in einer kleinen verschlafenen Stadt Er rang buchstäblich um jedes Wort. Dieser hochtalentierte Schriftsteller und unermüdlicher Trinker. Der Milchwald ist ein verrücktes, rätselhaftes und wunderbares Klanggebilde. Ein Mikrokosmos der Träume und Wünsche – mit Bösewichtern, Mitläufern und Engeln.
Dylan ahnte, dass er früh abtreten musste. Sein Leben war intensiv. Alkohol, Tabak, Dichtung, Drogen und Frauen. Stets auf der Überholspur. Dylan wurde gerade einmal 39 Jahre alt. Penibel in seiner Kunst aber schlampig in seinem Alltagsleben. Des Erzählers wichtigster Satz: „Es gibt nur eine Stellung für einen Künstler, ganz gleich wo: aufrecht.“