Wut ist ein Geschenk

Er ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um drei Uhr früh auf, um zu meditieren. Um fünf wurde gebetet. Danach ging es ans Tageswerk. Der disziplinierte Frühaufsteher war Anwalt, Pazifist, Publizist und Politiker. Sein Motto: „Die Kraft jedes Einzelnen kann die Welt ändern.“ Der Mann hieß Mahatma Gandhi. An die friedliche Veränderbarkeit der Welt glaubte er bis zu seinem gewaltsamen Tod. Gandhi starb 1948 beim Gebet – durch drei Schüsse eines Nationalisten.

 

Mahatma Karamchand Gandhi. (1869 – 1948)

 

Die Geschichte des schmächtigen Mannes, der nur 1 Meter 64 groß war, erzählt nun sein Enkel Arun. 1934 geboren, nannte er seinen berühmten Großvater nur Babuji. In elf Lektionen nähert sich Arun einem Menschen, der so bescheiden lebte wie die Mitglieder der untersten Kasten: „Sein Blick glich zwei weichen Lichtern im Dunkel“. Das Buch erzählt von der Freundschaft zum Großvater und der Wut der vielen Ausgegrenzten und Unterdrückten. Wut sei der erste Schritt zur Überwindung.

 

Gandhi 1930 – beim Protestmarsch. Ein kleiner unscheinbarer Mann mit Schultertuch, Sandalen und Wanderstock stürzt das Salzmonopol der Briten.

 

„Die meisten Menschen brauchen sehr wenig, um glücklich zu sein“, zitiert Journalist Arun seinen Großvater. „Wer am lautesten schreit, hat am wenigsten zu sagen“, denn: „Hohle Trommeln dröhnen am lautesten“. Typische Gandhi-Gedanken. Aus der Zeit gefallen? Keineswegs, findet Enkel Arun. Er besteht darauf, dass sein Prinzip der Gewaltlosigkeit im Zeitalter von Terror, Kriegen und neuem Nationalismus aktuell bleibe. Mahatma Gandhis Antwort an seine vielen Gegner: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du“,

Allerdings gab es durchaus Momente, die an Gandhis Pazifismus Zweifel nähren. Als Hitler die Judenverfolgung perfektionierte, schrieb er dem Rabbiner Leo Baeck: „Mein Rat an die deutschen Juden lautet, am selben Tag zur selben Stunde gemeinsam Selbstmord zu begehen. Dann wird das Gewissen Europas erwachen.“ Gandhi meinte tatsächlich auch angesichts größter Verbrechen, dass Hungerstreik und gewaltloser Widerstand die besten Waffen seien.

 

„Die Kraft jedes Einzelnen kann die Welt ändern.“

 

Gandhi saß immer wieder in Haft. Er überlebte acht Anschläge. Dennoch verzieh er seinen Attentätern. „Viel Glück. Sollte es mein Schicksal sein, dann sterbe ich von ihrer Hand. Wenn nicht, denn eben nicht.“ Das neunte Attentat überlebte er nicht. Am 30. Januar 1948 um fünf Uhr nachmittags feuerte sein Landsmann Nathuram Godse die tödlichen Kugeln ab.  Der Mörder war ein nationalistischer Hindu. Er warf Gandhi Verrat an der indischen Nation vor.  Zur Trauerfeier für den 78-jährigen strömten mehr als anderthalb Millionen Menschen zusammen. „Unfriede kann keinen Frieden schaffen. Das ist, als versuche man, Trauben von Distelbüschen zu ernten“, erwähnt Arun des Großvaters Vermächtnis.

 

War er nicht unglaublich naiv? Brauchen wir einen neuen Gandhi? Enkel Arun ist überzeugt, dass seine Botschaft sinnvoller ist als jemals zuvor. „Millionen Menschen spürten seine Aufrichtigkeit und tiefen Glauben. Eine unwiderstehliche Kombination“, schreibt er. „Wut als Geschenk. Das Vermächtnis meines Großvaters Mahatma Gandhi.“ Eine kurze, kompakte Streitschrift zum Nachdenken. Beklemmend aktuell.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.