„Mein Milljöh“

Wie fast alle Berliner Originale, war auch er ein Fremder, ein Zugereister. In diesem Fall ein Sachse aus Radeburg: „Pinselheinrich“ Zille. Der Maler und Chronist verkörpert die perfekte Kombination aus Berliner Schnauze und Berliner Lebensart. Ähnlich wie Volks-Sängerin Claire Waldoff, deren Wiege in Gelsenkirchen stand. Nun hat die Berlinische Galerie Heinrich Zilles fotografischen Schatz freigegeben. Es sind 628 Fotografien aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Dieses einmalige Erbe ist seit kurzem Volkseigentum. Rechtefrei und kostenlos verwendbar.

 

Reisigsammlerinnen bei der Rückkehr aus dem Grunewald.  Foto: Heinrich Zille/Public Domain/Berlinische Galerie

 

Heinrich Zille.

 

Die Fotografien zeigen weder Kaisers Glanz und Gloria noch das vielbeschworene und verruchte Babylon Berlin. Zille kümmerte sich um die kleinen Leute. Um den Alltag in engen Hinterhöfen, trostlosen Mietskasernen und auf Volksfesten. Ihn interessierten Reisigsammlerinnen genauso wie das Ringelpietz mit Anfassen in der Eckkneipe. Zille hielt in seinen Fotografien die Bretterzäune vor zahllosen Baustellen fest, auch die vielen hölzernen Latrinen, an denen sturzbetrunkene Berliner  Erleichterung fanden.

 

Berlin zur Gründerzeit. Stadt der Bauzäune.  Foto: Heinrich Zille/Public Domain/Berlinische Galerie

 

Heinrich Zille.

 

Einige Fotos dienten ihm als Vorlage für seine berühmten Karikaturen. Zille (1858-1929) schaute dem Volk aufs Maul, ohne den Menschen nach dem Mund zu reden. Das wahre Leben beschäftigte ihn. Eine typische Zille-Anekdote aus dem Hinterhof geht so. Eine Ehefrau ermahnt ihren Kerl vor der abendlichen Zechtour: „Besauft eich nich un bringt det Sarg wieder, die Müllern ihre Möblierte braucht’n morjen ooch.“

 

Wilde Müllkippe im Westen der Stadt.  Foto: Heinrich Zille/Public Domain/Berlinische Galerie

 

Heinrich Zille.

Viele Jahre verdiente Zille sein Geld als Lithograf bei der feinen Photographischen Gesellschaft in Westend. 1907 wurde er gekündigt, im Alter von 49 Jahren. Er beschäftigte sich wohl zu sehr mit der trostlosen Wirklichkeit. Das störte die Chefs. Zille war tief gekränkt. Aber der Vater von drei Kindern rappelte sich wieder auf, auch weil er wusste, dass es anderen noch viel schlechter ging. Er notierte: „Dreiundzwanzig Fennje bekam ’ne Heimarbeiterin, und die Kinder jingen in ’ne Streichholzfabrik und hatten denn von dem Phosphor und Schwefel jar keene Fingernägel mehr. Und da soll man nich mal dazwischenfahren, wenn man erlebt hat, wie sich det Elend von Jeneration zu Jeneration weiterfrißt – wo det Kind schon als Sklave jeboren wird?!“

 

Im Atelier.  Foto: Heinrich Zille/Public Domain/Berlinische Galerie

 

Vor der Haustüre. Ein obdachloses Paar.  Foto: Heinrich Zille/Public Domain/Berlinische Galerie

 

Als Zille 1858 geboren wurde, zählte Berlin gut 450.000 Einwohner. Als er 1929 im Alter von 71 Jahren in Charlottenburg starb, lebten in der Hauptstadt zehnmal so viele Menschen, mehr als vier Millionen. Diesen rasanten Aufstieg zu einer hektischen Weltmetropole hat Pinselheinrich Zille wie kein anderer festgehalten. Ohne rührseligen Kitsch oder falsches Pathos. Er schaute nicht wie viele Zeitgenossen einfach weg, sondern genau hin. Er porträtierte das Berliner Leben wie es sonst keiner zeigte. Mehr über Zilles 628 Fotografien ist bei der Berlinischen Galerie zu erfahren.

 

„Mein Milljöh“ erschien 1914.

 

Hulda und Heinrich Zille. Foto: Heinrich Zille/Public Domain/Berlinische Galerie

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