Archive for : Juli, 2019

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Wenn der Asphalt glüht…

…und der Aufzug stehen bleibt. Die U-Bahn stoppt. Das Internet schweigt. Alle Lichter verlöschen. Das Wasser aus dem Hahn versiegt. Dann herrscht der Black-Out. In New York, der Mutter der Städte, ist in diesen Sommer dieser Notfall bereits zweimal eingetreten. Die totale Havarie. K.O. in der 12-Millionenstadt, die nichts dringender in ihren Adern braucht als pulsierenden Strom. Einmal gingen in Manhattan die Lichter aus, auch am Time Square. Ein anderes Mal in Brooklyn. Stundenlang. Auch die Berliner kennen das. Manchmal trennen tollkühne Baggerfahrer zielsicher die Zufuhr mit lebensnotwendigem Saft aus der Steckdose, weil sie punktgenau die Hauptleitung lahmlegen.

 

Über den Dächern New Yorks. Cory Henry & The Funk Apostles.

 

In New York sollen die aktuellen Stromausfälle Folge der großen Hitze sein. Wenn der ganze Schlamassel wie in New York bei 115 Fahrenheit passiert, das sind stolze 46 Grad, dann kollabiert eine Stadt. Stillstand. Nur noch Schweiß fließt in Strömen. Der Bürgermeister ruft den Notstand aus. Überleben in Zeiten tropischer Temperaturen und der Stromausfälle. Wir erleben die totale Abhängigkeit von Computergesteuerten Algorithmen. Laptops und Smartphones werden schwarz, wenn sich Funknetze reihenweise abmelden.

Cool bleiben, lautet die Devise. Sobald der Strom wieder fließt, die U-Bahn losrattert und die Klimaanlagen wie gewohnt wieder heiß laufen, kehren alte Bequemlichkeiten zurück. Na siehste! Noch mal gutgegangen. Nur nichts ändern. Immerhin ist es dann wieder möglich, die andere Seite von New York kennenzulernen. Zeit um begnadete Musiker wie Cory Henry zu hören. Pianist, Wunderkind, Tausendsassa auf den Tasten. Begleiter von Größen wie Bruce Springsteen, Marcus Miller und Motor der New Yorker Kultband Snarky Puppy.

 

 

Cory Henry interpretiert auf seine Art Amazing Grace. Dieses Kirchenlied über die „wunderbare Gottes Gnade“ ist Hoffnungs- Trauer- und Trostlied zugleich. Der Legende nach ist seine Entstehung einem Schlüsselerlebnis des Sklavenhändlers John Newton zu verdanken. Der Kapitän geriet im Mai 1748 in schwere Seenot. Nach seiner wunderbaren Rettung schwor er, Sklaven als Menschen zu behandeln. Später gab er seinen Beruf sogar ganz auf, wurde Priester, schrieb den Text zu Amazing Grace und bekämpfte die Sklaverei.

Welches Schlüsselerlebnis brauchen Weltenlenker heute? Welchen SOS-Ruf? Cory Henry zaubert auf den Tasten seines Flügels den Sound nie aufzugeben, diese Welt in Seenot aus schwerem Wasser zu retten. Amazing Grace. Was für eine wunderbare Hymne!

 

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Zauber im Gutspark

Ein Sonntagabend im Juli. Das Theaterdorf Netzeband in der Prignitz, nördlich von Berlin. Eine gute Autostunde entfernt. Die Kindervorstellung ist beendet. Die Besucher abgereist. Auf den Terrassen vor der Kirche studiert der Regisseur mit Schauspielern und großem Eifer „Ellernklipp“ ein. Das neue Stück vom Alt-Meister Fontane. Der märkische Goethe reflektiert über Blumen-Unkraut. „Und wer den Todten Blumen streut, der streut sie, denk´ ich, auch den Lebenden.“ Fontanes Stimmen hallen lautsprecherverstärkt durch den Park. Auf der Wiese posieren junge Mädchen für ihre Smartphones. Sie schlagen Rad, bringen sich in Position, werfen ihren Kopf nach hinten, streichen sich verführerisch durchs Haar. Hände in die Hüften. Brust raus, den Kopf zur Seite, ein Lächeln. Klick. Dann fröhliches Gelächter.

 

Seit über zwanzig Jahren der Klassiker im Gutspark Netzeband. „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas.

 

Vor der Kneipe im Gutshaus sitzen die Männer des Dorfes, Einheimische wie Zugereiste. Sie trinken ihr Sonntagsbier, klären die Lage und stellen fest, dass früher alles besser war. Eindeutig. Ohne Frage. Die nächste Runde bitte, aber dalli! Über allem schwebt eine sirrende Drohne. Ein Netzebander steuert sein Fluggerät über den riesigen Holzhaufen des wegen Waldbrandgefahrs ausgefallenen Osterfeuers. Seine schnurrende Wespe aus Metall fliegt weiter über die Kulisse des Parks, beobachtet die Proben der Fontane-Jünger, die Trinker und tanzenden Jungschauspielerinnen. Vor einem Vierteljahrhundert, kurz nach der Wende fing alles an. Theater am Rande der Welt. Dort, wo ein Neuanfang möglich war. Was für ein Zauber!

 

Stil-Leben im Gutshaus.

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Der Tintensklave

Fontane? Mmmh. Dieser preußische Goetheverschnitt und Märkische Heimatdichter? Ein Fall für Gestrige und angestaubte Geister, sagen viele. Einer für Deutsch-Lehrerinnen und Männer-Gesangsvereine. Aber nichts für Menschen von hier und heute. Tja. Der Meister sagte über sich selbst, er sei „mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlecht sitzenden Hose“. Dieses Talent zu würdigen, schlägt des Dichters Geburtsstadt Neuruppin, eine Autostunde von Berlin entfernt, mächtig auf die Werbetrommel. Der 200. Geburtstag ist zu feiern, mit Worten, Taten, Ausstellungen, Inszenierungen und dem ganzen Gedenk-Gedöns. Fontane gibt es natürlich auch als Playmobil-Figur.

Das kleine Neuruppin geht den großen Fontane 2019 sehr ambitioniert an. Nicht was der Dichter geschrieben hat, steht im Mittelpunkt einer zentralen Ausstellung. Sondern wie er die Welt aufgefasst, geschildert und interpretiert hat. Das Fontane-Prinzip wird vorgestellt. „So oder ähnlich. So oder ganz anders.“ Fontane liebte solche Wendungen. Dinge im Ungefähren lassen. „Sie erzielen den Effekt von Realität. Weil sie gelten lassen, dass die Wahrheit etwas Subjektives und Relatives ist“, schreiben Ausstellungsmacher.

 

Das Leben … ist ein weites Feld. Gesehen in Wittstock. Juli 2019.

 

Der Apotheker-Sohn aus Neuruppin entwickelte seine spezielle Meisterschaft des Dialogs. Fontane notierte alltägliche Situationen, alltägliche Ereignisse, würzte sie mit banalen Details. So erscheinen seine Romane bis heute real. Das Offenlassen in Dialogen als Prinzip. „Warum machst Du keine Dame aus mir? – Möchtest Du`s? – Nein.“ Das fragt Effi Briest im Alter von 17 Jahren ihre Mutter. Sie muss den 38-jährigen Landrat Innstetten heiraten. Das Ende? Effi stirbt mit 29, vermutlich aus Langeweile. Nicht anders funktionieren heute Serien auf Netflix oder TV-Quotenrenner wie „In aller Freundschaft“.

 

Der Meister in der Scheibwerkstatt. Theodor Fontane (30.12.1819 – 20.09.1898) Copyright: bpk

 

Fontane war eine unermüdliche, einzigartige Worterfindungsmaschine. Er mixte in seiner Schreibwerkstatt Buchstaben/Gedanken/Wörter neu zusammen. Sammeln als Leidenschaft. Geschichten im Kopfkinoformat. Den Kern herauspulen, das war ihm wichtig, mit „Pusselei“ und „Bastelei. Fontane: „Ich ordne, gruppire, erfinde, nur das Gestalten glückt nicht.“ Diese Fontane-Maschine lief auf Hochtouren.

Kostproben aus der Fontane-Manufaktur: Aufsteigemensch. Ängstlichkeitsprovinz. Behaglichkeitsbau. Dunkelstunde. Einbahnstraßenpersonenhülle. Erkältungsgeneigtheit. Generalpapierkorb. Hintertreppenweg. Kolossalschnupfen. Korrespondenzartikel-Fabrikant. Lobkugeln. Mauseloch-Existenz. Nervenpleiten. Vertraulichkeitsausdruck. Vorurteilsalbernheit. Weltfriedensbrecher. Wiederverheiratungsgeschichten. Totalkenntnis. Trübsinns-Apathie.

 

Fontane als Ampelmännchen in Neuruppin. Das brandenburgische Städtchen hat zum 200.Geburtstag selbst das Verkehrsgeschehen „fontanisiert“.

 

Fontane. Ein alter Mann von gestern? In „Irrungen, Wirrungen“ notiert er über die Brandenburger Mentalität folgendes: Ängstlichkeitsprovinz. „Unsere gute Mark Brandenburg ist die Sparsamkeits-, und wo geholfen werden soll sogar die Ängstlichkeitsprovinz.“

Über das Lobkugeln. Diese können direkt in den Leib geschossen werden. Fontane: „Nur Blech und Oedheit.“ Das Parkett der Gesellschaft der Lobkugler sortiert sich folgendermaßen: „Alles ist doch schließlich Eitelkeit, Dünkel, Aufgeschlossenheit, Wichtigtuerei. Dazwischen brennt eine Tochter durch und der Sohn muss nach Amerika.“

Vortrefflichkeits-Schablone. Als Lohn- und Tintensklave war der Meister zu Lebzeiten stets in Geldnöten. Das schärfte seinen Blick auf Eliten wie Kutscher, Wichtigtuer wie Verlierer. Fontane. „Man kann alle Reisenden in zwei Charakterklassen theilen, in freundliche Sanguiniker, die überall sehen und auch sehen wollen, wodurch sich die Fremde vortheilhaft von ihrer Heimath unterscheidet und in leberkranke Nörgler, die sich zu Hause eine Vortrefflichkeits-Schablone zurechtgemacht haben und über alles verstimmt sind, was davon abweicht.“

 

„Fontane-Rose“ Jahrgang 2019. Blumen und Pflanzen waren für den Apotheker-Sohn das „ABC der Seele“.

 

Mehr Fontane gibt es hier. „Fontane.200/Autor – Die Leitausstellung zum 200. Geburtstag Theodor Fontanes.“ Bis 30. Dezember 2019 im Museum Neuruppin. Empfehlenswert. Besonders mit Führung. Denn man sieht nur, was man weiß. Noch so ein Fontane-Gedanke.

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Aus Kellern und Dachböden

Wer ist Anna Hönigsberg? Sie „wohnte“ im Block L112. In Theresienstadt. „Judenlager.“ Eine alte Postkarte, abgeschickt in Italien von einer Melanie Friedrich, abgestempelt am 13. Mai 1943. Ist die Karte angekommen? Wurde sie gelesen? Was ist aus den beiden Frauen geworden? Aus Absenderin und Empfängerin? Lukas Lev winkt ratlos ab, genau wie sein Freund Jiri Smutny. Die beiden Tschechen haben diese Karte gefunden. Und viel mehr. Briefe, Ghetto-Ausweise, Essensmarken, Flaschen, Teller, Besteck, Knöpfe, Ringe, Schmuck. Sogar eine Handgranate, die stammt allerdings aus dem I. Weltkrieg.

 

Jiri Smutny und Lukas Lev. Die Spurensucher von Terezin.

 

Spuren menschlichen Lebens. Ausgegraben aus meterdickem Schutt in Kellern und auf Dachböden im einstigen Ghetto Theresienstadt. Anna Hönigsberg war im Haus L112 interniert. L stand für Längs. Q für quer. L112 war ein Ort der Prominenten aus Berlin und Wien, sagt Lukas. Juden wurden während des NS-Regimes aus ganz Europa nach Theresienstadt verschleppt. Von der Außenwelt ab Ende 1941 hermetisch abgeriegelt, errichtete die SS in einer ehemaligen Militärfestung aus der K.u.K-Zeit ein riesiges Sammellager, eine Stunde von Prag entfernt.

 

Theresienstadt. Ehemalige Bahnhofstraße. Von 1941 bis 1945 Ghetto.

 

Vom Ghetto aus gingen insgesamt 63 Transporte weiter in Todeslager, in der Regel nach Auschwitz. Theresienstadt war kein Vernichtungslager. Theresienstadt war eine Art Zwischenstation. Die Menschen vegetierten zusammengepfercht auf durchschnittlich anderthalb Quadratmetern pro Bewohner. Sie starben „wie die Fliegen“. Über 35.000 Menschen an Hunger, Krankheit, Erschöpfung. Insgesamt waren bis zur Befreiung im Mai 1945 rund 140.000 Juden in Terezin, so der heutige Name, interniert.

 

Essensmarken aus dem Ghetto. Gefunden im Block L112. Jedes Haus steckt noch voller Geheimnisse. Man muss nur suchen.

 

Lukas Lev, der 37-jährige Guide von Theresienstadt sucht unermüdlich weiter. „Einer muss es ja machen. Sonst macht es niemand.“ Sein Motto. Tagsüber führt er Touristen aus aller Welt durch Theresienstadt, in seiner Freizeit gräbt er mit Freunden nach Spuren aus der Ghetto-Zeit. Seine Motivation? „Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Großmutter mit dem deutschen Namen Clausnitzer hatte. Sie war Sudetendeutsche“. Lukas sagt, er weiß, was Unrecht mit Menschen macht. Erst der Genozid der Nazis, dann die Vertreibung nach 1945. „Das lässt mich einfach nicht los.“

 

Aktuelle Grabungsstätte. Der Dachboden von L425.

 

2015 eröffnete er mit ersten Funden, es waren Wandzeichnungen, Gedichte und Graffitis, auf dem Dachboden L237 in der ehemaligen Bahnhofstraße eine kleine Ausstellung. Sie hieß: „Finde Träume, Erinnerungen und Wirklichkeit“. Für Lukas sind die Botschaften aus der Vergangenheit eine Art Facebook. Made in Terezin. Graffitis und Kritzeleien, Ausdruck von Verzweiflung, Angst, aber auch Hoffnung, Heimatliebe und dem Willen zum Überleben. Seine private Aktion mit der Ausstellung brachte ihm viel Anerkennung, aber auch massiven Ärger. Er wolle wohl mit dem Holocaust Geld verdienen, wurde kolportiert. Die Gedenkstätte entließ ihn als Touristenführer, stellte ihn aber nach einigen Monaten wieder ein. Lukas macht seinen Job einfach zu gut. Er kann gelangweilten Schulklassen Geschichte lebendig nahebringen. Und Lukas spricht dank seines Germanistikstudiums ein wunderbares Schwejk-Deutsch. Er ist ein Erlebnis.

 

Ein harter Job. Große Hitze. Staub. Dreck. Tonnen von Schutt. Doch es wird immer wieder etwas gefunden.

 

Lukas Lev will nicht locker lassen. Die aktuellen Grabungen mit seinen Unterstützern finden in diesem Sommer im Block L425 statt. L425 war die alte Weinstube, heute Kamensheko 154. Auch hier stoßen die ehrenamtlichen Archäologen ständige auf neue Ghetto-Spuren. Theresienstadt ist für ihn wie ein großes Geschichtsbuch. Voller Schicksale, voller Dramatik. Zu schade, um wegzuschauen. Wer nur war Anna Hönigsberg?

 

Einer der ersten Funde. Die berühmte Prager Burg mit Karlsbrücke als Wandzeichnung. Durch Zufall auf dem Dachboden entdeckt vor mehr als fünf Jahren im Haus L237. Heute ist dort eine Pizzeria.

 

Aktualisierung (10. Juli 2019)

Mittlerweile teilte das Arolsen Archives – das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus auf Anfrage von Lukas Lev mit:

„Anna Hönigsberg, geb. 03.03.1864 in Kirchschlag, wurde am 22.07.1942 aus Wien mit dem 33. Transport, Kennung IV/5, Nummer auf dem Transport: 973, ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Letzte Adresse: 10. Alxingerg. 97. Sie wurde in Theresienstadt befreit und ist nach Wien zurückgekehrt.“

Anna Hönigsberg hat Theresienstadt überlebt.