„Ich wollte frei sein!“

Jutta Wehmann treffe ich in einem Hotel in Berlin-Mitte. Sie begleitet ihren Mann, einen Tierarzt zu einer Untersuchung in der Charité. Die rüstige Rentnerin sprudelt voller Ideen. Wie vor dreißig Jahren, als sie im thüringischen Nordhausen zum kleinen Kreis der Mutigen gehörte, die für einen Neuanfang standen. „Ich wollte frei sein, frei denken und frei handeln.“ Was sonst? Sie schaut mich an. Dabei ist Jutta Wehmann mittlerweile nahezu erblindet. Doch die einstige Musiklehrerin ist aufmerksamer als viele die sehen können und am Ende doch nur wegschauen. „Wo ist der aufrechte Gang des Volkes geblieben?“ fragt sie und antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Schade- nur noch Oberflächlichkeit.“

Wehmann führte in Wendezeiten Tagebuch. Sie hielt fest, wie sich in ihrer kleinen, überschaubaren Kleinstadt in Thüringen plötzlich alles bewegte und veränderte. In einer Stadt, die überregional für ihren hochprozentigen Nordhäuser Doppelkorn und die Produktion von V2-Waffen eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Was kaum bekannt ist: Wenige Tage vor Kriegsende bombten die Alliierten die Stadt in Schutt und Asche. Drei Viertel der einstigen Reichsstadt waren restlos zerstört. In der DDR blieb die Industriestadt Nordhausen eine graue Maus, am Rande des katholischen Eichsfeld. Still, zurückgezogen, weit entfernt von den großen Entwicklungen der Welt.

 

Stunden des Aufbegehrens. Nordhausen. 7. November 1989. Größte Demo in der Geschichte der Stadt mit nahezu 40.000 Beteiligten auf dem August-Bebel-Platz.

 

Menschen wie die Deutsch- und Musik-Lehrerin Jutta Wehmann waren in Nordhausen Außenseiter. Sie stritt gegen den DDR-Wehrkundeunterricht und für ein Offenes Europa, gründete das „Neue Forum“. Im Revolutions-Herbst 1989 sprang der Funke über. Die Nordhäuser kamen aus der Deckung und demonstrierten dienstags, einen Tag nach den Montagsdemos in Leipzig. Am 7. November 1989 versammelten sich fast 40.000 Menschen. Die Stadt Nordhausen selbst hatte 1989 gerade einmal 54.000 Einwohner. Heute sind es noch knapp 42.000.

Zwei Tage später fiel die Mauer. Jutta Wehmann wurde – wie die allermeisten – eiskalt überrascht. In ihrem Tagebuch notierte sie am Tag nach der Öffnung. „10. November 1989. Von nun an ist es ein politischer Wettlauf für die Demokratie in unserem gesamten Deutschland oder die Diktatur des Geldes!“ Dreißig Jahre nach der Wende gehört die unermüdliche Streiterin für Demokratie längst wieder zu einer kleinen Minderheit. Die Sieger der letzten Wahlen in Nordhausen im Herbst 2019 heißen Die Linke und AfD. Zusammengerechnet erreichten sie fast sechzig Prozent der Stimmen. Die Nachfolger von Jutta Wehmanns mitbegründetem Neuen Forum, kamen auf exakt 4,9%. Mehr war für die heutigen Grünen in Nordhausen nicht zu holen.

 

Jutta Wehmann mit dem ehem. OB Klaus Zeh bei einer Ehrung im Jahre 2015.                                  Quelle: Stadt Nordhausen.

 

Aus den Tagebüchern der Jutta Wehmann

„Das neue Jahr 1990 hatte uns in Empfang genommen. Ich plädierte dafür, so schnell wie möglich weiter zu arbeiten, um der Entwicklung nicht ganz hinterherzulaufen. Die ehemaligen Parteimitglieder der SED versuchten krampfhaft einen neuen Stil, eine neue Partei (jetzt mit Gregor Gysi) zu gründen und eigentlich hatten sie ja immer noch die Macht, sie konnten sie nur nicht gebrauchen … Gewalt hätte sie vor der Welt entlarvt.

„Wir waren für Momente ein Volk! Alle zusammen; Ost und West!“ Draußen (außerhalb unserer Gemeinschaft im Denken für ein besseres Zusammenleben in Demokratie) waren nur wenig Gestrige und Unbelehrbare, die meisten aber waren Abwartende und Mitläufer. Aber schon bald gingen alle wieder ihre eigenen Wege. Jeder hatte seine Interessen zu vertreten. Konsens zu finden, Mehrheiten zu bilden, Demokratie zu wagen. Es ist ein dorniger Weg von kleinen Schritten. Der eingeschlagene Weg schien mir der beste z.Z. Jede Woche (montags in Leipzig, dienstags bei uns und überall in den großen Städten) brachten große Massen von Demonstranten; immer nach der Arbeitszeit ihren Willen lautstark gegen Egon Krenz u.a. zum Ausdruck mit den Rufen „Wir bleiben hier!“ – „Die D-Mark muss her oder wir gehen zu ihr“ Die Abstimmung mit den Füßen blockierte die nun schon zweite Machtriege der DDR.“ (…)

 

Altendorfer Kirche in Nordhausen. Zufluchtsort für Jutta Wehmann. Ort für neue Ideen. Ab Mitte September 1989 Fürbitt-Andachten für Inhaftierte und Ausreisewillige. „Die Stimmung war wie bei einem Vulkanausbruch.“ Foto: wikipedia

 

Mir und einigen anderen fehlte der Wille zur Macht. Ich wollte frei sein, frei denken und frei handeln. Was mich ja nicht von Verantwortung lossagt. Durch eine hochgradige Kurzsichtigkeit invalidisiert hieß, volle Kraft konnte ich nicht geben. Trotzdem zehn Jahre durchgehalten und geholfen. Dafür kann ich nur danken. Das ist ein Gottesgeschenk.“

 

Teil II  folgt

 

 

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