Archive for : August, 2020

Pulverfass Beirut

Rumms machte es, als 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat Anfang August 2020 in Beirut in die Luft flogen. Die Detonationswolke erinnerte viele an die erste Nuklearexplosion von Hiroshima, fast auf den Tag genau vor 75 Jahren. Apokalypse Beirut. Die Detonation war ein wirtschaftlicher, politischer und moralischer Super-GAU. Nach wie vor sind rund 300.000 Menschen obdachlos – in einem Staat, der längst dem Abgrund entgegentaumelt.  Warlords und räuberische Kaufleute regieren mit eiserner Hand das einst blühende Land im Nahen Osten. Jahrzehntelanger Bürgerkrieg, Korruption und Wirtschaftskrisen nehmen dem  Libanon jede Luft zum Atmen. Als „Krönung“ nun die apokalyptische Explosion in Halle 12, wahrscheinlich Folge unglaublicher Schlamperei. Der Hafen von Beirut ist der „Ground Zero“ auf dem Pulverfass Beirut.

 

Rasha Salti. Autorin, Kuratorin aus Beirut. Jahrgang 1969. Quelle: Twitter

 

„Wir Opfer, Zeuginnen und Alltagsmenschen werden ausnahmslos als Kollateralschaden angesehen“, schreibt Rasha Salti. Die 51-jährige Autorin mit Wohnsitz in Beirut und Berlin weiter: „Für unsere gewählten und ernannten Amtsträger, für unsere Sicherheitsbehörden, für feindliche Armeen und Führer, für Diplomaten, Bankenkonglomerate und globale Wirtschaftsführer sind wir ein Kollateralschaden ihres Strebens nach Macht und Kontrolle“. Opfer der Katastrophe forderten in ersten Fernsehinterviews voller Wut und Verzweiflung, „alle politischen Führer auf der Mülldeponie Normandy zu entsorgen“.

Autorin Salti setzt weiter auf die Zivilgesellschaft. Ihr Prinzip Hoffnung gegen Anarchie und Chaos: „Wir sind kein wehrloses, dumpfes Objekt von Verachtung, Zerstörung und Enteignung“. Salti ist nicht allein. Die Jugend begehrt auf. Mit dabei die libanesische Kultband Mashrou’ Leila. Die fünf Jungs, deren Bandname ungefähr „nächtliches Projekt“ bedeutet, sind unglaublich erfolgreich. In einigen arabischen Ländern verboten, sind deren Konzerte innerhalb kürzester Zeit auch ohne Werbung ausverkauft. „Kul mamnou’a marghoub“ heißt ein arabisches Sprichwort – „alles Verbotene ist begehrt“. Frontmann Hamed Sinno gilt als der„Freddy Mercury des Nahen Ostens“. Der Sänger ist offen schwul, ein absolutes Tabu-Thema in der arabischen Gesellschaft.

 

 

Ihre Lieder sind keineswegs hochpolitisch, aber es reicht schon auf offener Bühne von der Sehnsucht nach Liebe und Freiheit zu singen. Jede Anspielung wird verstanden. Gegründet hat sich die Band 2008 an der Amerikanischen Universität von Beirut: Hamed Sinno, Haig Papazian, Carl Gerges, Ibrahim Badr und Firas Abou Fakher jammten auf nächtlichen Sessions. Mitbegründer Firas Abou Fakher: «Es gab wenig arabische Musik, mit der wir uns als junge Erwachsene identifizieren konnten. Wir wollten innovative arabische Musik machen. Mit Texten über Dinge, die wir erleben und erfahren, aber über die man hier nicht spricht.»

Die Musiker sind nicht nur in ihrer Heimat Superstars. Weltweit haben Mashrou’ Leila allein auf Facebook weit über eine halbe Million Fans. Zu ihren Songs singt und tanzt eine junge, multi-nationale Fangemeinde, die in der Regel gar kein Arabisch versteht. Die Themen von Mashrou’ Leila sind universell. Sie streiten für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Für Toleranz und Menschenrechte, gegen Diffamierung und religiösen Fanatismus. Auch Autorin Rasha Salti gibt sich trotz der jüngsten Katastrophe von Beirut zuversichtlich. „Wir schreiben Geschichte, und wir werden unsere Zukunft schreiben.“

 

„Und die Eselin sah den Engel“

Luft zum Atmen. Das ist wichtig für jeden einzelnen von uns. Egal wann, egal wo. Ob für die Kassiererin bei Lidl oder den Pfleger im Heim. Ob für den Zuwanderer aus Damaskus oder die Künstlerin in ihrer Kreativwerkstatt. Frei zu denken, frei zu reden, frei zu handeln. Frische Luft ist besonders wichtig in aufgeladenen Corona-Zeiten wie diesen. Wer will schon künstlich beatmet werden? Ein neues Phänomen zieht derzeit Kreise, das freiem Denken die Luft zum Atmen nimmt. Der Zeitgeist taufte es Cancel Culture. Was ist das? Wohin führt das?

„Cancel Culture“ ist ein Internet-Phänomen. Problematische oder missliebige Äußerungen werden via Twitter oder Facebook – oder was auch immer – kritisiert und die betreffende Person, besonders gerne Prominente im Netz „gecancelled“. Quasi von der Liste gestrichen, wie eine Zugverbindung. Die Person kommt an den digitalen Pranger, wird moralisch verurteilt und zum medialen Abschuss freigegeben. Ziel der Eskalation: Absage von Veranstaltungen und/oder abweichende Positionen verstummen zu lassen. Ist das nun Zensur oder politische Korrektheit? In letzter Konsequenz geschieht schleichend etwas noch perfideres. Selbst-Zensur. Sie ist viel effektiver als Zensur. Damit erstickt die politische Korrektheit am Ende jede Kreativität. Das ist die faustische Kraft, die das Gute will, aber das Böse schafft.

 

 

Der australische Sänger Nick Cave gilt als großer Grübler, Melancholiker und Untergangsprophet. Der in England lebende Kult-Musiker hat sich in die Cancel-Debatte aktiv eingeschaltet. Auf seiner Website beantwortet er Fragen seiner Fans. Er schreibt: „Barmherzigkeit ist ein Wert, der im Zentrum jeder funktionierenden und toleranten Gesellschaft stehen sollte. Barmherzigkeit erkennt letztendlich an, dass wir alle unvollkommen sind und ermöglicht uns so den Sauerstoff zu atmen – und uns durch unsere gegenseitigen Fehler in einer Gesellschaft geschützt zu fühlen. Ohne Gnade verliert eine Gesellschaft ihre Seele und verschlingt sich selbst.“

 

„Und die Eselin sah den Engel“.  Die Original-Ausgabe. Nick Cave schrieb in den Achtzigern seinen ersten Roman in Berlin. Es geht darum, dass Menschen fürchten, was sie nicht verstehen.

 

Nick Cave weiß, wenn das Schicksal plötzlich mit voller Härte zuschlägt. Der Sänger verlor seinen Sohn Arthur. Der Junge stürzte mit fünfzehn Jahren von der britischen Steilküste, nachdem er mit einem Freund einen LSD-Trip ausprobiert hatte. Der Tod seines Sohnes hat ihn geprägt. Cave zitiert Bob Dylan. „Death is not the end“. Immer wieder testet Cave die Grenzen des Sagbaren aus. Auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Kern unserer Existenz. Seinen Roman „Und die Eselin sah den Engel“ schrieb er in den Achtzigern in Kreuzberg. Cave forschte nach den Gründen für die Unmenschlichkeit des Menschen zum Menschen. Dass sie fürchten, was sie nicht verstehen.

Über die neuen Internet-Kämpfe sagt Cave: „Die Weigerung der Cancel-Culture, sich auf unangenehme Ideen einzulassen, erstickt die kreative Seele einer Gesellschaft. Politische Korrektheit hat sich zur unglücklichsten Religion der Welt entwickelt. Ihr einst ehrenhafter Versuch, unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten, verkörpert nun all die schlimmsten Aspekte, die eine Religion zu bieten hat, und nichts von ihrer Schönheit, – moralische Gewissheit und Selbstgerechtigkeit, die selbst der Fähigkeit zur Erlösung beraubt ist.“

 

 

Luft zum Atmen ist überlebenswichtig. Man braucht sie auch zum Denken.

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Mit dem Kopf durch die Wand

Wozu sind Menschen fähig? Wann verweigern sie sich? Eine alte Formel sagt: Vierzig Jahre Machterhalt sind ein einigermaßen verlässlicher Richtwert. Vierzig Jahre brauchte es, bis Moses sein Volk ins Gelobte Land führen konnte. Vierzig Jahre hielt das DDR-Versprechen einer neuen Gesellschaft, bis sie zusammenbrach. Seit über dreißig Jahren regieren die neuen Masters of the Universe. Die gutverdienenden Piloten des Turbo-Kapitalismus. Die smarten Chefs von Amazon bis Google. Auch sie versprechen eine bessere Welt.

 

Letzte stumme Zeugen. Ein versteckter Wachturm in Berlin-Köpenick im Sommer 2020. Ort: eine ehem. Ausbildungsstätte der Grenztruppen, heute ein Schrottplatz.

 

Die DDR sicherte ihr „Paradies“-Versprechen mit Hilfe von Mauern und einem hoch gerüsteten Apparat. In vierzig Jahren Grenze standen über 500.000 Deutsche in der Uniform der DDR-Grenztruppen. Wer waren diese Menschen? Wie denken Sie heute? – Sie hatten mit der Waffe den Schutzwall gegen Imperialismus, Revanchismus und Faschismus zu verteidigen. So verklärte die SED-Propaganda bis zum letzten Tage ihr Monument der Abschottung. Viele Familien in der DDR hatten Angehörige, die „an die Grenze“ mussten. Sie wurden nach der Wende Unternehmer, Verleger, Bürgerrechtler, Immobilienmakler, SED-Opferbeauftragter oder Ministerpräsident. Das Schweigen über ihre Grenz-Erfahrungen ist das einigende unsichtbares Band, das sie verbindet.

 

Gescheiterte Flucht mit Citroen im Mai 1989 am Grenzübergang Stolpe zu West-Berlin. Der 27-jährige Fahrer überlebte schwerverletzt und wurde festgenommen. Ein halbes Jahr später wird der Weg für alle frei. Quelle: BSTU

 

Nach Jahren der Recherche konnte ich das Vertrauen von einigen Ex-Grenzern gewinnen. Mich interessierte, wie die damals 18- bis 20-jährigen mit der Last ihrer Verantwortung umgingen. Denn das System überließ am Ende jedem einzelnen Soldaten ein folgenschweres Dilemma. Was tun, wenn plötzlich im Abschnitt jemand flüchten will? Schießen oder laufen lassen? Ein irrer Konflikt, der meine Gesprächspartner bis heute belastet. Ich lernte, dass einige aus Idealismus, andere aus Überzeugung, die allermeisten jedoch ängstlich und total gestresst ihre Zeit an der Grenze absolvierten. Der innerdeutsche Todesstreifen war das Kainsmal der DDR. Bei „Grenzalarm“ war auf Flüchtlinge zu schießen war, um „Grenzverletzer“ wie es in der Vergatterung hieß, zu „vernichten“.

 

Lied der Grenzer, 1981

„Wir Grenzsoldaten halten Wacht, sind nicht zu überlisten. An unseren Grenzen bricht die Macht der Imperialisten. Es hat sich schon so mancher hier den Schädel eingerannt. In unser Haus geht´s durch die Tür und nicht durch die Wand.“

 

 

Die ganze Perfidie dieses Grenzregimes zeigte sich nach der Einheit. Für Kalte Krieger blieben DDR-Grenzer eine „Mördertruppe“. SED-Altkader sprachen hingegen von westlicher „Siegerjustiz“. Die Folge: Abertausende Menschen im einstigen Sperrgebiet zogen sich zurück, verhüllten sich mit einem dicken Mantel des Schweigens. Grenzer wurden nach der Stasi zum Sündenbock, zum Symbol des Scheitern eines Systems. Bloß nichts sagen! Vergessen jedoch wird, dass die Grenzsoldaten in der Stunde ihrer größten Niederlage ihren wichtigsten Erfolg errangen. Sie ignorierten in der Nacht der Maueröffnung bestehende Befehle und folgten dem gesunden Menschenverstand. Sie standen am 9. November 1989 an der Seite des Volkes. So machte die Nationale Volksarmee ihrem Namen als Armee des Volkes alle Ehre.

 

Pariser Platz und Brandenburger Tor. Das Symbol der deutschen Teilung. Aufnahme aus dem Sommer 1989. Quelle: BSTU

 

Im September 2020 ist meine 45-minütige ZDF-Dokumentation im ZDF-Hauptprogramm und auf ZDF-Info zu sehen. Hier bereits vorab online  „Am Todesstreifen – DDR-Grenzer erzählen“

„Halts Maul“

Unglaublich. Gleich drei hohe Richter sitzen auf der Anklagebank. Der König lässt die Kammergerichtsräte Ransleben, Friedel und Graun bei sich antreten, um ihnen im Berliner Schloß so richtig die Leviten zu lesen. Einer der Juristen verteidigt wortgewandt sein Tun. „Canaille, halts Maul!“, tobt der Herrscher, genannt der Alte Fritz oder auch Friedrich der Große. Wir schreiben den 11. Dezember 1779. An diesem Tag herrscht dicke Luft im Schoss. Preußen-König Friedrich II. beschuldigt die Herren Richter seinen Namen missbraucht zu haben. Er droht mit „Aufhängen lassen!“. Als Großkanzler von Fürst die Gerichtsräte verteidigen will, wirft ihn der König raus: „Marsch. Seine Stelle ist schon vergeben!“

 

Müller Arnold aus Pommerzig. Wurde ihm das Wasser abgegraben? War er Opfer von selbstherrlichen Richtern? Ein Fall von klassischer Willkür? Ja, sagte der König und handelte.

 

Was war geschehen? Der einfache Müller Arnold aus dem östlichen Oderbruch hat längere Zeit seinen Erbzins nicht bezahlt. Daraufhin verklagt ihn der Gläubiger Graf Schmettau. Der Gutsherr gewinnt. Müller Arnold akzeptiert das Urteil nicht. Das Urteil sei pures Unrecht. In Eingaben erklärt der Müller aus Pommerzig, der Landrat von Gersdorf habe oberhalb seiner Mühle Karpfenteiche angelegt und ihm buchstäblich das zum Mahlen notwendige Wasser abgegraben. Die Richter bleiben stur. Der Müller verfasst Briefe an den König. Dieser ordnet postwendend eine Untersuchung der „Vorgänge“ an.

 

Post an den König. Das heutige Postamt in Pomorsko, Polen. Bis 1945 Pommerzig, Oderbruch, Neumark. Die Heimat von Müller Arnold.

 

Dann handelt Friedrich II. Er lässt sogleich die Kammergerichtsräte ins Gefängnis einsperren. Den Zivilprozess entscheidet er höchstpersönlich. Das Urteil des Königs: Der Müller erhält seine Mühle zurück und die „ungerechten“ Richter müssen den Schaden ersetzen. Ihre einjährige Haftstrafe haben sie in der Festung Spandau zu verbüßen. Gnadengesuche werden verworfen. Des Königs Prinzip: Ohne Gerechtigkeit keine Gnade. Die drei Kammergerichtsräte müssen ihre Strafe bis auf den letzten Tag absitzen.

Zudem veröffentlicht der König in der »Spenerschen Zeitung« am 14. Dezember 1779 einen Hinweis an alle Juristen „die strengste Unparteilichkeit aufs schärfste anempfehlen“ zu lassen. „Prinz und Bauer, Bettler und König“ seien „vor der Justiz gleich“. Hart, aber fair. Der Mythos vom strengen, aber gerechten König wird perfektioniert. Nur auf dieser Grundlage habe Justiz in Preußen zu funktionieren. Prozesse seien ohne Ansehen von Person, Herkunft oder Stand zu führen.

 

Hart aber fair? Sein Einschreiten im Fall des Müllers Arnold nährte den Mythos von Friedrich II. „Ohne Ansehen der Person. Gesetze gelten für alle. Ob für König oder Bettler.“

 

Die Geschichte vom Müller Arnold ist längst vergessen. Aber sie erzählt von Mühlen, die mahlen. Die ausnahmsweise sogar gerecht mahlen. Was für eine wunderbare königliche Schnurre! Zur Vollständigkeit jedoch muss ergänzt werden. Nach dem Tode des Alten Fritz wurden die drei Richter im Müller-Arnold-Fall rehabilitiert. Nachfolger Friedrich Wilhelm II. erklärte sie für unschuldig, das Verfahren sei „ungerecht gewesen“. Er stellte die Gerichtsräte wieder ein und entschädigte sie. Auch weil der brave Müller Arnold ein wenig gemogelt hatte. Tatsächlich hatte er trotz der Karpfenteiche noch weiter Wasser auf seinen Mühlen, angeblich oder vermutlich nur etwas weniger. Der Alte Fritz aber blieb zu Lebzeiten davon unbeeindruckt. Gegen die Großen, erklärte er, sei ab und an ein abschreckendes Beispiel vonnöten.