Archive for : November, 2020

Der Schatz von Krefeld

„Tableau No. VII“, „Tableau No. X“, „Tableau No. XI“ aus dem Jahre 1925 und „Komposition IV“ aus 1926 hängen akkurat in Reih und Glied an einer weißen Wand in Krefeld. Ein Quartett der Extraklasse von Piet Mondrian, dem Meister der Moderne. Der ganze Stolz des Kaiser-Wilhelm-Museums. Schätzwert rund 200 Millionen Euro. Dummerweise verklagen jetzt die Mondrian-Erben das NRW-Museum vor einem US-Gericht. Begründung: Der Schatz gehöre den Krefeldern nicht. Von wegen, kontern die Hausherrn. Die Bilder seien Ende der Zwanziger für eine geplante Ausstellung über die Moderne bereitgestellt und nach dem Krieg per Zufall “aufgefunden” worden. Bei dem Erbstreit geht es um sehr viel Geld. Ein lukratives Geschäft für Anwälte.

 

Piet Mondrian (1872-1944). Selbst-Porträt um 1900.

 

Was würde Pieter Cornelis Mondriaan, weltberühmt als Piet Mondrian, geboren am 7. März 1872 im holländischen Amersfoort dazu sagen? Vielleicht „Kunst ist Intuition“ und nicht Kunst ist ein Zankobjekt für Erbschleicher. Piet kam aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Lehrer, ein strenger Calvinist und immer missionarisch unterwegs, die Mutter häufig krank. Die fünf Kinder mussten früh allein klar kommen. Biografen meinen, dass Piet, der wie sein Vater Lehrer werden sollte, deshalb das Vertrauen zu Mitmenschen verlor. Er wurde ein Einzelgänger, unfähig zu festen Beziehungen. Anfangs flüchtete er in Landschaftsbilder.

 

Mühle im Sonnenlicht. 1908

 

1911 zog er wie viele aufstrebende Künstler nach Paris, ließ sich von Georges Braque und Pablo Picasso beeinflussen. In den Zwanzigern entwickelte Mondrian mit streng geometrischen Bildern seine eigene Handschrift. Er zählt zu den Begründern der abstrakten Malerei. Mondrian kombinierte das schwarzen Raster mit rechteckigen Flächen in den Grundfarben Rot, Blau und Gelb. So inspirierte er Bauhaus-Bewegung und Mode, Werbung und Popkultur. „Was will ich in meinem Werk ausdrücken? Schönheit auf der ganzen Linie und Harmonie durch das Gleichgewicht der Beziehungen zwischen Linien, Farben und Flächen zu erreichen. Aber nur auf die klarste und stärkste Weise.“

 

Komposition mit Rot, Gelb, Blau und Schwarz. 1921

 

Doch der Meister der abstrakten Malerei musste Lehrgeld zahlen. Sein neuer Stil fiel bei den Zeitgenossen durch. Mondrian war so knapp bei Kasse, dass er überlegte, den Pinsel gegen einen Job im Weinbau in Südfrankreich zu tauschen. Doch er entschied sich für die Produktion von Blumenaquarellen, um über die Runden zu kommen. In seinem Pariser Atelier stand eine weiße künstliche Blume. Sie verkörpere die fehlende Frau, heißt es. Mondrian widmete sein Leben dem Wesentlichen – der Kunst.

 

Mondrian in Washington DC. Foto: Kim Antell

 

In den Dreißigern stellte sich Erfolg ein und mit dem 22-jährigen Harry Holtzman auch eine lebenslange Freundschaft. Der Maler aus New York blieb ihm treu. Dessen Erben klagen heute auf Rückgabe der Krefelder Bilder. Die Nazis verboten seine abstrakten Werke. Mondrian gehörte 1937 zu den wenigen ausländischen Künstlern, die in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München diffamiert wurden. Kurz vor Kriegsbeginn zog Piet Mondrian nach London. Als deutsche Bomben auf die britische Hauptstadt fielen, flüchtete er im Herbst 1940 über den Atlantik nach Brooklyn. Anfang Februar 1944 erlag Piet Mondrian im Alter von 72 Jahren einer Lungenentzündung. Er hinterließ eine Welt in Rot, Blau und Gelb.

 

 

In Mondrians Geburtshaus an der Kortegracht 11 in Amersfoort/NL befindet sich das Museum Mondriaanhuis mit Bibliothek und Dokumentationszentrum.

Auf dem Weg zur Diktatur des Coronats?

Ein mausgrauer Novembertag. Einst Feiertag, manchen noch als Buß- und Bettag bekannt. Rund um den Reichstag demonstriert ein vielköpfiger Haufen von Corona-Leugnern wütend und unverhüllt gegen ein neues Gesetz. Die Versammelten in Berlin, laut Polizeiangaben rund 7.000, vergleichen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Damals entleibte sich der Reichstag mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ selbst. Ein Akt der Gleichschaltung auf Betreiben der NSDAP, nur die SPD stimmte dagegen. Die KPD-Abgeordneten waren bereits verhaftet oder geflüchtet. Mit dem Ermächtigungsgesetz wurde die Weimarer Republik abgeschafft und der Führerstaat eingeführt.

Am Ende dieses trüben Novembertages ergibt sich folgende Bilanz: Eine symbolische Wasserschlacht am prominenten Ort direkt vor dem Brandenburger Tor. Zwei Wasserwerfer live-gerecht im Einsatz, die im Sprühmodus den harten Kern der Demonstration „beregnen“. Rangeleien, Pfefferspray, insgesamt 365 Festnahmen, zehn verletzte Polizisten und das schale Gefühl, wie sehr im aufgeladenen Treibhaus rund um den Reichstag Vernunft und Verstand außer Kontrolle geraten können.

 

November-Blues 2020.

 

Aber jeder Protest hat auch sein Gutes. In der S-Bahn zum Hauptbahnhof steigen Kontrolleure am Bahnhof Bellevue ein und posaunen ihr „die Fahrausweise biittte“. Ich krame in meinen Taschen und stelle verärgert fest, dass mein Portemonnaie mit der Umweltkarte im Mantel an der häuslichen Garderobe hängt. Mist!

Ich überlege kurz, entscheide mich, betont lässig zur Tür zu gehen. Mit gegenüber grinst ein Corona-Leugner mit Mundschutz auf dem in schwarzen Lettern „Diktatur“ steht. Eigentlich würde ich ihn gerne fragen, warum er die Diktatur in seinem Gesicht trägt. Und ich überlege, ob es sinnvoll wäre, ihn zu fotografieren, um zu zeigen wie sich Anti-Corona-Demonstranten präsentieren. Wie sehr sie sich verrannt haben oder verwirrt sind, denn in keiner Diktatur der Welt könnte eine solche Meinungsäußerung länger als eine Viertelstunde offen zur Schau gestellt werden.

 

Von wegen „immer uff“. Alles dicht. Berlin-Charlottenburg. November 2020.

 

Doch die Kontrolleure kommen bedrohlich näher. Allerdings sind die mitreisenden Anti-Coronisten äußerst diskussionsfreudig und verwickeln die kräftigen Kerle in Gespräche. Das seien doch reine Schikanen, gerade jetzt zu kontrollieren. Sie wollten wohl freie Menschen an ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung hindern. Ein lebhafter Disput entwickelt sich. Währenddessen rückt die nächste Station näher und kann rechtzeitig erreicht werden. Geschafft! Glück gehabt.

Ich steige erleichtert aus, atme kräftig durch. Auf allen Ebenen des Hauptbahnhofs patrouillieren schwerbewaffnete Polizeistreifen. Aus der Ferne sind Rufe zu hören. „Widerstand“ und „Wir sind das Volk“. Berlin, Mitte November 2020.

 

Es geht auch anders. Zusammenhalt in Zeiten der sozialen Distanzierung.

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Wo ist der arme Poet?

In einer Dachstube hat sich der arme Schlucker in sein Bett verkrochen. Der Ofen ist aus. Das Dach ist undicht, selbst der Regenschirm hat Löcher. Vermutlich sucht er nach den richtigen Zeilen, hofft auf eine göttliche Eingebung. Was immer man im Bildnis des Überlebenskünstlers sehen möchte: Der arme Poet von Carl Spitzweg aus dem Jahre 1839 ist ein Lieblingsbild der Deutschen. Spitzweg hat es selbst wenig Glück gebracht. Die ersten Kritiken waren so vernichtend, dass Spitzweg seine Bilder nicht mehr mit seinem Namen signierte. Als er seinen Poeten 1841 dem Münchner Kunstverein anbot, lehnte die Jury kühl ab.

Der brave Poet mit der Biedermeier-Schlafmütze sollte das Meisterwerk von Spitzweg werden. Als Vorbild diente ihm vermutlich der Münchner Dichterfreund Mathias Etenhueber, der stets klamm war. Drei Versionen malte Spitzweg. Die Erstfassung befindet sich in Privatbesitz, die zweite Fassung hängt in der Neuen Pinakothek in München. Das dritte Poeten-Meisterwerk sollte eigentlich in Berlin zu sehen sein. Aber es wurde geklaut. Gleich zweimal.

 

Carl Spitzwegs dritte Version vom Armen Poeten. 1989 in Berlin gestohlen, seitdem verschollen.

 

Neue Natio­nal­ga­le­rie Berlin am 12. Dezem­ber 1976 gegen 13 Uhr. Der Aktionskünstler Frank Uwe Laysiepen – genannt Ulay – verlässt unbemerkt mit dem 36 x 45 cm großen Poeten-Bild unterm Arm das Haus. „Links­ra­di­ka­ler raubt unser schöns­tes Bild!“ schäumt die Bild-Zeitung. Ulay schleppt das Werk zum Künstlerhaus Bethanien, dokumentiert jeden Schritt mit der Kamera und erklärt den Kunstraub zur Kunstkritik. Seine damalige Lebensgefährtin Marina Abra­mović soll an der Entführung betei­ligt gewesen sein. Abra­mović zählt heute zu den berühmtesten Aktionskünstlern der Welt. Stunden später gibt Poeten-Räuber Ulay das Bild zurück.

 

Der Arme Poet wird geklaut. Ulays Kunstraub 1976, zur Kunstkritik erklärt. Das Bild wird zurückgegeben. Quelle: Ulay

 

Schloss Charlottenburg am 3. September 1989. Diesmal schleichen sich heimlich professionelle Kunsträuber in die Räume. Sie reißen den armen Poeten zusammen mit Spitzwegs Werk Der Liebesbrief gewaltsam von der Wand. Beide Bilder sind seit drei Jahrzehnten nicht wieder aufgetaucht, sie gelten als verschollen. Der Schätzwert von Spitzwegs Poeten liegt bei einer halben Million Euro aufwärts.

 

Marina Abramovic und Ulay 1980. Rest Energy. Quelle: MoMa

 

Und heute? Da kauert der arme Poet pandemiebedingt und zum Stillstand verurteilt in seiner Schreibstube und weiß nicht wie er über die Runden kommen soll. Er füllt fleißig Anträge auf Förderung aus, schwankt zwischen Hoffen und Bangen. Unabhängigkeit hat seinen Preis, heißt es. Seit Spitzwegs Zeiten vor fast 200 Jahren hat sich die Welt turbulent gedreht. Doch das Schicksal des armen Poeten ist geblieben. Vielleicht regnet es bei den modernen Solo-Selbstständigen nicht mehr durchs Dach?

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„Jetzt kommen neue Zeiten“

Heils- und Hassprediger fahren in diesen Tagen Sonderschichten. Im Internet – unserer Neuen Heimat – verbreiten sich Spreader aller Farben, Formen und Fähigkeiten. Sie zeigen mit dem Finger auf andere ohne rot zu werden, Zynismus geht besonders gut. Entertaiment at it´s best. Wir amüsieren uns zu Tode. Der US-Medienwissenschaftler Neil Postman bemerkte: „Jeder Trottel kann ein Star werden, das ist das Grundprinzip. Es ergibt sich eine doppelte Perspektive. Der Zuschauer kann sich in das Geschehen hineinträumen, er wolle ein Star werden, und er nimmt am Selektionsprinzip teil. Ein gemachter Superstar, eine Schöpfung aus dem Nichts“. Postmans Zeilen sind 35 Jahre alt. Das Internet kannte er nicht, es steckte noch in den Kinderschuhen.

Mitten in unserer zweiten Lockdown-Isolations-Zeit habe ich eine bemerkenswerte Perle in den Tiefen des Internets gefunden. Die Geschichte hat mich so berührt, dass ich sie gerne teilen möchte.

Jetzt kommen neue Zeiten, schreibt Olga Tokarczuk aus Breslau, den Grenzen geht es gerade wieder sehr gut und die Schlacht um eine neue Wirklichkeit wird bald beginnen. Die scheue polnische Literaturnobelpreisträgerin veröffentlichte diesen Text im April 2020 während des ersten Stillstandes. Knapp zehn Minuten Lebenszeit sind vonnöten. Es lohnt sich. Versprochen.

 

 

„Aus meinem Fenster sehe ich eine Weiße Maulbeere, einen Baum, der mich fasziniert; er war einer der Gründe, warum ich hier eingezogen bin. Der Maulbeerbaum ist ein freigiebiges Gewächs: den ganzen Frühling und den ganzen Sommer über ernährt er Dutzende Vogelfamilien mit seinen süßen, gesunden Früchten. Jetzt aber trägt der Baum keine Blätter; so sehe ich ein ruhiges Stück Straße, die nur selten jemand entlanggeht, um in den Park zu gelangen. Das Wetter ist in Breslau fast sommerlich, die Sonne blendet, der Himmel ist blau, und die Luft ist rein.

Heute sah ich, als ich mit meinem Hund spazieren ging, wie zwei Elstern eine Eule von ihrem Nest vertrieben. Die Eule und ich, wir sahen uns aus kaum einem Meter Entfernung in die Augen. Mir scheint, auch die Tiere warten auf das, was auf uns zukommt. Ich hatte schon seit längerem zu viel Welt um mich herum. Zu viel, zu schnell, zu laut. Daher habe ich jetzt kein „Trauma der Isolation“; ich leide nicht darunter, dass ich mich nicht mit Menschen treffe. Ich bedauere nicht, dass die Kinos geschlossen sind, es ist mir gleichgültig, dass die Shopping-Malls außer Betrieb sind. Es sei denn, ich denke an all jene, die dort jetzt ihren Arbeitsplatz verloren haben. Als ich von der präventiven Quarantäne hörte, verspürte ich eine Art von Erleichterung, und ich weiß, dass viele ähnlich empfinden, auch wenn sie sich dessen schämen. So hat meine Introversion, die lange unter dem Diktat hyperaktiver Extrovertierter gelitten hatte, ja fast erstickt worden war, den Staub abgeschüttelt und ist aus dem Keller hervorgekommen.

 

Berlin im November 2020.

 

Durch das Fenster sehe ich meinen Nachbarn, einen überarbeiteten Juristen. Bis vor kurzem sah ich ihn immer morgens, wie er mit der Robe über dem Arm ins Gericht fuhr. Jetzt steht er in einem sackförmigen Trainingsanzug im Garten und müht sich mit einem Ast; offenbar will er aufräumen. Ich sehe ein junges Paar, wie es seinen alten Hund ausführt, der kaum noch laufen kann. Der Hund schwankt hin und her, und die jungen Menschen begleiten ihn geduldig und gehen so langsam wie möglich. Derweil holt die Müllabfuhr mit großem Lärm den Müll ab.

Das Leben geht weiter, na klar doch, aber in einem ganz anderen Takt. Ich habe den Schrank aufgeräumt und die gelesenen Zeitungen zum Papiercontainer gebracht. Ich habe die Blumen umgetopft. Ich habe das Fahrrad von der Reparatur abgeholt. Freude bereitet mir das Kochen. Immer wieder tauchen Bilder aus der Kindheit in mir auf, als es viel mehr Zeit gab und man sie „verschwenden“ durfte, indem man stundenlang aus dem Fenster schaute, die Ameisen beobachtete, unter dem Tisch lag und sich vorstellte, er sei eine Arche. Oder indem man die Enzyklopädie las. Ist es nicht so, dass wir zum normalen
Lebensrhythmus zurückgekehrt sind? Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war? Schließlich hat der Virus uns ins Gedächtnis gerufen, was wir so leidenschaftlich verdrängt hatten: dass wir fragile Wesen sind, gebaut aus der zartesten Materie. Dass wir sterben, dass wir sterblich sind.

Dass wir von der Welt nicht durch unser „Menschentum“ und unsere Außergewöhnlichkeit geschieden sind, sondern dass die Welt eine Art großes Netz ist, in dem wir hängen, mit anderen Wesen durch unsichtbare Fäden von Abhängigkeit und Einfluss verknüpft. Dass wir voneinander abhängig sind und dass wir ganz gleich, aus wie fernen Ländern wir stammen‘, welche Sprache wir sprechen und welches unsere Hautfarbe ist -genauso krank werden, genauso Angst haben und genauso sterben. Es hat uns klargemacht, dass – ganz gleich, wie schwach und wehrlos wir uns angesichts der Gefahr fühlen – Menschen um uns herum sind, die noch schwächer sind und die Hilfe brauchen. Es hat uns in Erinnerung gerufen, wie zart unsere alten Eltern und Großeltern sind und wie sehr sie unsere Fürsorge verdient haben. Das Virus hat uns gezeigt, dass unsere fieberhafte Mobilität die Welt bedroht. Und es hat die Frage aufgerufen, die wir uns nur selten zu stellen wagten:
Was suchen wir eigentlich?

 

 

Die Angst vor der Krankheit hat uns also von unserem verschlungenen Weg zurückgeführt und uns daran erinnert, dass es Nester gibt, aus denen wir stammen und in denen wir uns sicher fühlen. Und selbst wenn wir die größten Weltreisenden wären – in einer Lage wie dieser werden wir immer zu einer Art von Zuhause streben. Damit haben sich uns auch traurige Wahrheiten offenbart: dass im Augenblick der Gefahr das Denken in abschließenden und ausgrenzenden Kategorien zurückkehrt, in den Kategorien von Völkern und Grenzen.

In diesem schwierigen Augenblick zeigte sich, wie schwach die Idee einer europäischen Gemeinschaft in der Praxis ist. Die EU hat im Grunde kapituliert und es den Nationalstaaten überlassen, in dieser Krisenzeit Entscheidungen zu fällen. Die Schließung der Grenzen halte ich für die größte Niederlage in diesen schlechten Zeiten; zurückgekehrt sind die alten Egoismen und die Kategorien „eigen“ und „fremd“, jenes also, was wir in der Hoffnung bekämpft hatten, dass es nie wieder unser Denken formatieren würde. Die Angst vor dem Virus hat automatisch die einfachste, atavistische Überzeugung wachgerufen, ,,Fremde“ seien schuld und sie würden immer Gefahren mitbringen. Nach Europa kam das Virus „von außen“, es ist nicht unser, es ist fremd. In Polen gerieten alle in Verdacht, die aus dem Ausland heimkehrten.

Die vielen Grenzen, die zugeknallt wurden, und die riesigen Schlangen an den Grenzübergängen waren sicher für viele junge Menschen ein Schock. Das Virus erinnert uns: Die Grenzen existieren weiter, es geht ihnen gut. Ich fürchte, das Virus wird uns noch eine andere alte Wahrheit in Erinnerung rufen: wie sehr wir einander nicht gleich sind. Die einen unter uns werden mit ihrem Privatflugzeug in ihr Haus auf der Insel fliegen oder in der Einsamkeit des Waldes sein können. Andere werden in den Städten bleiben, um Elektrizitätswerke und Wasserleitungen am Laufen zu halten. Wieder andere werden bei der Arbeit in Läden und Krankenhäusern ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Die einen werden an der Epidemie verdienen, die anderen werden ihre Ersparnisse verlieren. Die nahende Krise wird wahrscheinlich die Spielregeln, die uns so stabil erschienen, außer Kraft setzen; viele Staaten werden mit der Krise nicht fertig werden, und aufgrund ihrer Auflösung wird eine neue Ordnung zum Leben erwachen, wie es nach Krisen oft der Fall ist.

 

 

Wir sitzen zu Hause, lesen Bücher und schauen Serien, aber in Wirklichkeit bereiten wir uns auf die Schlacht um eine neue Wirklichkeit vor, die wir uns noch nicht einmal vorstellen ‚können; nur beginnen wir langsam zu begreifen, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Die Zwangsquarantäne und die Kasernierung der Familie im Haus kann uns bewusst machen, was wir nur ungern zugeben würden: dass die Familie uns auf die Nerven geht, dass das Band der Ehe längst zerbröselt ist. Unsere Kinder werden die Quarantäne als Internet-Abhängige verlassen, und vielen von uns wird die Sinn- und Nutzlosigkeit der
Lage klar werden, in der sie rein mechanisch, aufgrund der Trägheit der Masse, stecken. Und was wird mit uns sein, wenn die Zahl der Morde, Selbstmorde und psychischen Krankheiten zunimmt?

Vor unseren Augen verfliegt, verraucht in Paradigma der Zivilisation, das uns über die letzten zweihundert Jahre geformt hat. Es lautete: Wir sind die Herren der Schöpfung, wir können alles, und die Welt gehört uns. Jetzt kommen neue Zeiten.“

Olga Tokarczuk. Nobelpreisträgerin für Literatur. „Die Jakobsbücher“. „Ein geniales literatisch-philosophisches Großwerk.“ Iris Radisch, Die ZEIT.