Besuch beim alten Herrn

Es gibt Geschichten, die sind spannender als die fettesten Schlagzeilen. Diese geht so: Die Milliardärin Claire Zachanassian besucht hochbetagt das veramte Güllen. Die alte Dame beschenkt ihr Heimatstädtchen, aber nur unter einer Bedingung. Sie fordert den Kopf des Mannes, der sie in Jugendjahren schwängerte und seine Vaterschaft erfolgreich leugnete. „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet. Gerechtigkeit für eine Milliarde.” Das Drama nimmt seinen Lauf. Der Plot stammt von Friedrich Dürrenmatt, dem Mann, der immer nach der „schlimmstmöglichen Wendung“ suchte. Vor dreißig Jahren ist der Schweizer Nationaldichter gestorben. Am 5. Januar 2021 können wir seinen 100. Geburtstag feiern. Der Dramatiker verstand sein Leben als Komödie. „Ich esse gerne, ich saufe gerne. Meine Zuckerkrankheit ist wahrscheinlich meine große notwendige Bremse. Wenn ich diese Bremse nicht hätte, wäre ich schon längst an meiner Gesundheit gestorben.“ Dürrenmatt wurde 69.

1956 erschien sein Welterfolg “Der Besuch der alten Dame”. Bis heute quält Dürrenmatt ganze Schülergenerationen mit seinen Werken, ob mit Der Besuch der alten Dame, Der Richter und sein Henker oder Die Physiker (1962). Vor seinem großen Durchbruch nagte Dürrenmatt jedoch am Hungertuch. Er war pleite. Vom Schreiben konnte der Anfang Dreißigjährige seine fünfköpfige Familie nicht mehr ernähren. Ehefrau Lotti: „Wir lebten von der Hand in den Mund.“ Doch Rettung nahte. 1952 rief der Schweizer Beobachter in der „Aktion Dürrenmatt“ seine Leserschaft zu Spenden auf. So könne trotz Kritik an seinen Frühwerken „ein dramatisches Talent allerersten Ranges“ gefördert werden.

 

Crowdfunding vor fast siebzig Jahren. 1952 suchte der Schweizer Beobachter „hundert geistig interessierte Menschen“, um das „Talent“ Friedrich Dürrenmatt zu unterstützen, der damals arm wie eine Kirchenmaus war.  Quelle: „Schweizer Beobachter“ v. 18.12.2020

 

Tatsächlich spendeten 170 Beobachter-Leserinnen und –Leser drei Jahre lang fleißig fünf Franken pro Monat. Eine frühe Form der Crowdfunding-Finanzierung, ohne Paypal aber mit dem Ergebnis von insgesamt 21.350 Franken (heutiger Wert knapp 100.000 Euro). Die Dürrenmatts brauchten das Geld dringend, obwohl sich Familienvater Friedrich anfangs lieber ein Segelboot kaufen wollte. Ehefrau und Freunde konnten ihn erfolgreich stoppen. Später sagte Dürrenmatt auf dem Höhepunkt seines Ruhmes mit über 30 Millionen verkauften Büchern: „Ich lebe wie ein Millionär, aber ich kann nicht sparen.“

 

 

Kurz vor seinem Tod im Dezember 1990 bezeichnete sich Dürrenmatt selbst als einen „bankrotten, aus der Mode gekommen Komödienschreiber“. Was bleibt? Dürrenmatt-Gedanken wie diese: “Wer verzweifelt, verliert den Kopf. Wer Komödien schreibt, gebraucht ihn.” Wer mehr über den Schulschwänzer, Schweizer Hilfssoldaten, Fahndungsobjekt der Politischen Polizei von Zürich und Groß-Schriftsteller wissen will, kann demnächst das Centre Dürrenmatt Neuchâtel in seinem ehemaligen Wohnhaus in der Schweiz besuchen. Wiedereröffnet werden soll es am 24. Januar 2021 drei Wochen nach seinem 100. Geburtstag – wenn, ja wenn es die Corona-Pandemie zulässt.

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