Kraft der Kunst

„Sie hörten genau hin. Sie waren voll dabei. Sie waren begeistert. Wunderschön“ Mit Glanz in den Augen erzählt Christoph Schlingensief, wie Rach 3 – das Klavierkonzert Nummer 3 von Sergej Rachmaninov – bei seinen Hauptdarstellern angekommen ist. Seine Helden sind die Insassen im Tiele-Winkler-Haus der Diakonie am Berliner Stadtrand. Wir befinden uns im Jahre 2002, vor knapp zwanzig Jahren. Es geht um die Stars der Freakshow 3000. Ein herrlich politisch unkorrektes, provokatives Projekt von Theatermacher Schlingensief. Geistig und körperlich Behinderte spielten in einer sechsteiligen TV-Hitparade mehr oder weniger bekannte Promis wie Moderator Michel Friedman oder Herzenstrompeter Stefan Mross. Eine lupenreine Fernsehparodie. Ein riskantes Wagnis, hart an der Kante zwischen Genialität und Peinlichkeit.

 

 

Kritiker warfen Schlingensief kindlichen Klamauk vor. Er sei ein selbstverliebter Theaterclown. Ich erlebte ihn in meiner aspekte-Zeit anders. Ernsthaft, an Erkenntnis und Ergebnissen interessiert. In seiner Freak Star 3000 ließ er im Sommer 2002 einen geistig Behinderten den vom RAF-Vordenker zum Hitlergläubigen mutierten Horst Mahler spielen. Ein Körperbehinderter übernahm die Rolle des allwissenden Moderators Michel Friedman. Schlingensiefs Antwort auf das alltägliche mediale Polit-Theater. Moralisten mäkelten, er betreibe Missbrauch mit Abhängigen. Ich kann mich gut erinnern. Die Darsteller liebten Schlingensief und das Stück. Ich brachte als Dankeschön ins abgelegene Heim von Berlin-Lichtenrade eine DVD unseres Beitrags für das ZDF. Musikalisch unterlegt mit dem Beginn aus Rach 3.

 

 

In einem Land, in dem nahezu alles korrekt geregelt werden soll, mit Beauftragten für alles und jedes, was sperrig oder anders ist, war Christoph Schlingensief ein Meister der Provokation. Immer wieder hielt er der Gesellschaft den Spiegel vor. Chance 2000. U 3000. Scheitern als Chance. Das deutsche Kettensägenmassaker. 1000 Jahre Adolf Hitler. Tötet Helmut Kohl.

Unsere heutigen Zeiten mit Empörungswellen, gewürzt mit Shit Storms, Cancel Culture und Gender-Correctness, wäre für den Apothekersohn aus Oberhausen eine echte Herausforderung. Was für ein Stoff. Im kurzatmigen Twitter-Gewitter überholt die Wirklichkeit jede Phantasie und Vorstellungskraft selbst eines kreativen Provokateurs. Der Mitmensch als Feind. Die andere Position, die es auszuschalten gilt. Unsere Covid-19-Gegenwart sorgt für eine aktuelle Pointe: Eine Pandemie, die alles Kreative an die Kette legt und in der Isolation des Lockdowns noch verrücktere Verschwörungsobsessionen und Provokationen blühen lässt. Schlingensief fehlt.

 

 

Bei Christoph Schlingensief standen Außenseiter im Mittelpunkt. Sie durften sich selbst als Stars erfinden, wurden jedoch nicht vorgeführt. Die hohe Kunst der Vermischung von Parodie, Show, Lebensfreude, Behinderung, Stolz und Eigensinn. Im Garten des Heims hörten wir Rach 3. Opus 30 in D-Moll. Das ganze Konzert. Gut 40 Minuten lang. Niemand ging. Am Ende klatschten alle vor Freude. Wie die Augen leuchteten.

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