Archive for : März, 2021

Über mittelmäßigen Sex

Kaya liebt Rammstein und norwegische Berge. Sie modelt für Gucci und spielt im Mystery-Thriller Thelma eine Studentin. Sie lebt in Oslo, New York und Berlin. Und singt in ihren Liedern: „Ich könnte eine Alge sein und du ein Pilz.“ Ihre Songs sind kleine Kurzgeschichten, ehrlich, überraschend und verstörend. Es geht um Hormoneinflüsse und Routine in der Therapie. „Ist der Sex mit mir nur mittelmäßig“, fragt sie. Sie kann über sich lachen und entdeckt die Fähigkeit sich selbst zu akzeptieren. Kaya Wilkins alias Okay Kaya ist eine junge Singer-Songwriterin, die etwas zu sagen hat. Weil sie zu ihrem Doppelleben steht.

 

 

Was die Dreißigjährige genau antreibt, ist nur schwer zu beschreiben. Sie hat viele Gesichter, führt mindestens zwei Leben. Vielleicht sogar einige mehr. Ihre Motivation – sie will den Dingen auf den Grund gehen. Eintauchen in neue Welten, das Geheimnis des Lebens entdecken. Geboren ist Kaya in New Jersey als Tochter einer Norwegerin und eines Amerikaners. Sie wächst in der Heimat ihrer Mutter auf. Es ist die eher ländliche Halbinsel Nesoddtangen im Oslofjord.

Mit achtzehn bricht sie nach London auf, lernt das Tanzen. Geld verdient sie „mit meinem Gesicht und meinem Körper“. Kaya wird rasch ein vielgefragtes Fashionmodel. Ein rastloses Leben. Immer auf Tour. Hotelzimmer. Flughafen. Modemessen. Täglich neu Scheinwerferlicht, Schminke, Umziehen und ein Lächeln auf Verlangen.

 

 

Kaya wird schnell klar. Das ist nicht ihr Leben. Modeln ist  nichts als Fassade, maximal ein Job. Ihr Herz findet zielsicher den Weg zur Musik. Schon als Teenie hatte sie in der Metall-Band ihres Bruders mitgejammt. Kaya zieht von London nach New York, steht 2017 in Thelma vor der Kamera. Seit drei Jahren geht sie nun musikalisch eigene Wege. Die taz verlieh ihr das Etikett „Radical Softness“. Eine Mischung aus nordischen Balladen und modernem Feminismus, aus schnellen Beats und sanftem Indierock.

Ihre Plattenfirma wollte sie lieber als singendes Model präsentieren, das mache sich gut. „Mit zwanzig wollte ich es allen recht machen“, erinnert sie sich. Doch Kaya Wilkins nennt sich fortan Okay Kaya und will so sein wie sie ist: Selbstbestimmt, lesbisch, euphorisch und dann wieder von Depressionen gebeutelt. Kaya kündigt beim Label und produziert ihr neuestes Album selbst. „Watch this Liquid pour itself“. „Was, wenn die Antidepressiva mich nicht mehr feucht werden lassen?“ singt sie. Ihren Zwilling wird sie einfach nicht mehr los.

 

 

Kaya schreibt schonungslos ehrliche Texte und mixt sie mit entschleunigten Songs im Sound der heutigen zwanziger Jahre. Eine Zeit der Krisen, Einsamkeit und seelischen Verwüstungen durch die Corona-Pandemie. „Alle sind überrascht über meinen Optimismus“, sagt die US-Norwegerin, „aber ich hebe mir den Nihilismus einfach für besondere Momente auf.“

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Das Volk der Bäume

Schon gehört: Walduntergang? In solchen Momenten wird gerne der Baumfreund Albert Schweitzer zitiert. „Der Mensch hat die Fähigkeit verloren, vorauszublicken und vorzusorgen. Er wird am Ende die Welt zerstören“. So Schweitzer vor fast einem Jahrhundert im Schicksalsjahr 1933 in „Ehrfurcht vor dem Leben“. Da praktizierte der äußerst populäre Arzt und Theologe im fernen Urwaldhospital in Gabun. NS-Propagandachef Joseph Goebbels schickte dem Vordenker eine Einladung mit Hitlergruß, er möge nach Deutschland zurückkehren. Menschenfreund und Bach-Liebhaber Schweitzer schickte aus Lambaréné eine höfliche Absage – „mit zentralafrikanischem Gruß“.

Heute hätte der Urwald-Doktor viel zu tun. Welt, Wald und Klima sind krank. Dabei lieben die Deutschen ihren Wald mit Herz und Seele. Die Alten schätzen Gedichte von Eichendorff und Klopstocks Oden an die deutsche Eiche. Bilder von Caspar David Friedrich und Grimms Märchen. Die mittlere Generation kauft Förster Peter Wohllebens Waldbücher und Internetkids entdecken Shinrin Yoku, das „Waldbaden“ für 39 Euro die Stunde. Natürlich wissen die meisten, dass eine grüne Idylle in dem Augenblick gefährdet ist, in dem sie entdeckt wird. Dann hilft nur noch Greenwashing. Wir wollen uns ja wohlfühlen. Beispiel „Landlust“. Das Hochglanzblatt zeigt das Leben in der Natur etwa so realitätsnah wie einst der untergegangenen „Playboy“ Frauen.

 

 

Der deutsche Wald ist krank. Das sagt der neue Waldzustandsbericht. Es ist die schlimmste Bilanz seit 36 Jahren, seitdem es diesen Jahresbericht gibt. Nur noch jeder fünfte Baum ist gesund. Egal ob Eiche, Kiefer oder Buche. „Die anhaltende Dürre in den Vegetationszeiten 2018 – 2020 hat verbreitet dazu geführt, dass die Blätter vorzeitig abgefallen sind. Bei der Fichte begünstigte sie, dass sich Borkenkäfer weiter massenhaft vermehren. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Absterberate nochmals gestiegen. Vor allem unsere alten Wälder (>60 Jahre) sind betroffen.“ Ausführlich nachzulesen im Waldzustandsbericht 2020.

Das Waldsterben sei ein „ökologisches Hiroshima“, titelte vor dreißig Jahren der SPIEGEL. Was geschah? – Nichts. Es war möglicherweise in den letzten Jahren einfach zu viel los. Deutsche Einheit, Ost-West-Gezänk, Gentechnik, Dioxin, Ozonloch, Allergien, Abgasskandal, Verkehrsinfarkt, Treibhauseffekt, Vogelgrippe, Schweinepest, Rinderwahnsinn, Bankencrash, Terrorismus, Migration, Wutbürger, Pegida, Pandemie, Korruption, jetzt Gender- und Rassismus-Debatte. Unsere Angstlustgesellschaft hat Heißhunger nach neuem Futter. Welche Krise, welcher Schadstoff darf der Nächste sein?

 

 

Währenddessen leidet der Wald und schweigt. Eine Wende tut not. Statt kranker Fichte oder Kiefer müssen resistente Bäume her. Klimataugliche Weggefährten, die Hitze, Dürre, Stürme und Borkenkäfer überleben. Migranten aus Amerika und Afrika sollen den kranken Wald retten. Als Bäume der Zukunft gelten sogenannte Neophyten.  Einwanderer wie Douglasie, Robinie oder die Libanon-Zeder. Besonders Zedern wachsen besser als Kiefer oder Fichte, hat die Uni Bayreuth in jahrelangen Tests herausgefunden. Sie liefern wertvolleres Holz und seien „robust gegenüber Klimaextremen“.

Der deutsche Wald wird sich radikal ändern, soll er bleiben. Er muss vielfältiger und artenreicher, neudeutsch: diverser werden. Eine Jahrhundertaufgabe, so Waldexperten. Na, darauf ein Likörchen.

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„Wir kümmern uns“

Ingeborg M. * ist Intensivschwester. Sie liebt ihren Beruf. Im Laufe der Pandemie sammelte sie mehr als 200 Überstunden. Corona kennt keinen Feierabend. Sie freute sich im stressigen Katastrophenjahr über Anerkennung und Beifall. Ein dankbarer Blick von Patienten und Angehörigen ist viel wert, wenn Ingeborg mal wieder geholfen hatte ein Menschenleben zu retten. Großartig! Als sie ihre Überstunden einreichte, hörte sie nichts mehr. Sie rackerte weiter, vertrat Schichten bis zur völligen Erschöpfung. Als sie wiederholt nach dem Lohn für ihre Überstunden fragte, bat die Verwaltung um Geduld. Bis zum Jahresende 2020 wurde keine einzige Überstunde bezahlt.

Ingeborg M. kündigte. Nach 14 Jahren auf der Intensivstation in einer süddeutschen Kleinstadt. Die aus Mecklenburg-Vorpommern stammende Fachkraft hat mittlerweile einen „ruhigeren“ Job in einer Reha-Einrichtung. Es gibt viele Ingeborgs. Ganze Teams denken laut einer  Studie mehrmals pro Woche darüber nach auszusteigen. Die erfahrene Ingeborg fragt, wie künftig Pflege in Krankenhäusern und Heimen noch funktionieren soll. Sie kenne so viele Kolleginnen und Kollegen vom Kreißsaal bis zur Palliativstation, denen es ähnlich ergehe. Durchschnittlich bleibt eine Pflegkraft acht Jahre im Beruf. Viele der 1.7 Millionen „Helden der Arbeit“ (Ingeborg) sind ausgebrannt, frustriert oder werden um Überstunden und Zulagen gebracht. Darüber offen zu reden trauen sich die wenigsten. Auch Ingeborg nicht.

 

 

Vielleicht sollte Ingeborg im Herbst Bundestagsabgeordnete werden? Vielleicht würde dann der angekündigte Corona-Bonus endlich an alle ausgezahlt werden. Wichtiger noch: Wie wäre es, die bekannten Missstände im Gesundheitswesen wie Personalmangel, Fallpauschale oder Überstunden abzustellen. Oder die Perspektive, den Schlüssel von einer Pflegeperson pro 13 Patienten (Bundesdurchschnitt) auf ein menschenwürdiges und medizinisch angemessenes Level zu senken. Keine verkehrte Idee in einem reichen Land.

Währenddessen kümmerten sich im ersten Corona-Jahr „bis zu zwei Dutzend Bundestagsabgeordnete“ um das lukrative Maskengeschäft. Einige MdBs waren mit ihren Überstunden äußerst erfolgreich. Vizefraktionschef Georg Nüßlein (CSU) verdiente 2020 an der Corona-Not 660.000 Euro Vermittlungsgebühren. Er werde „seine Ämter ruhen lassen“, ließ er verkünden. Der Mannheimer CDU-Abgeordnete Nikolas Nübel nahm 250.000 Euro . Eine „marktgerechte“ Provision, so der 34-jährige Hinterbänkler. Der Unternehmensberater bot Schutzmasken einer baden-württembergischen Firma feil. „Ich hätte sensibler handeln sollen“, ließ Maskenlobbyist Nübel mitteilen. Er bedaure den Fehler und ziehe sich daher aus dem Auswärtigen Ausschuss zurück.

 

 

Zum Schluss ein einfaches Rechenexempel. Wie viele Überstunden im Gesundheitswesen könnten mit Hilfe der Masken–Boni (derzeit 910.000 Euro; ohne Dunkelziffer) der Abgeordneten beglichen werden? Der Stundenlohn einer Krankenschwester beträgt 11,63 brutto. Bei vorsichtiger Schätzung könnten bundesweit mehr als 80.000 Überstunden ausgezahlt werden. Mit dabei wären auch die 200 Stunden von Ingeborg M., auf deren Überweisung sie bis heute wartet.

 

* Richtiger Name bekannt.