Foto Lothar Schiele

Das Volk der Bäume

Schon gehört: Walduntergang? In solchen Momenten wird gerne der Baumfreund Albert Schweitzer zitiert. „Der Mensch hat die Fähigkeit verloren, vorauszublicken und vorzusorgen. Er wird am Ende die Welt zerstören“. So Schweitzer vor fast einem Jahrhundert im Schicksalsjahr 1933 in „Ehrfurcht vor dem Leben“. Da praktizierte der äußerst populäre Arzt und Theologe im fernen Urwaldhospital in Gabun. NS-Propagandachef Joseph Goebbels schickte dem Vordenker eine Einladung mit Hitlergruß, er möge nach Deutschland zurückkehren. Menschenfreund und Bach-Liebhaber Schweitzer schickte aus Lambaréné eine höfliche Absage – „mit zentralafrikanischem Gruß“.

Heute hätte der Urwald-Doktor viel zu tun. Welt, Wald und Klima sind krank. Dabei lieben die Deutschen ihren Wald mit Herz und Seele. Die Alten schätzen Gedichte von Eichendorff und Klopstocks Oden an die deutsche Eiche. Bilder von Caspar David Friedrich und Grimms Märchen. Die mittlere Generation kauft Förster Peter Wohllebens Waldbücher und Internetkids entdecken Shinrin Yoku, das „Waldbaden“ für 39 Euro die Stunde. Natürlich wissen die meisten, dass eine grüne Idylle in dem Augenblick gefährdet ist, in dem sie entdeckt wird. Dann hilft nur noch Greenwashing. Wir wollen uns ja wohlfühlen. Beispiel „Landlust“. Das Hochglanzblatt zeigt das Leben in der Natur etwa so realitätsnah wie einst der untergegangenen „Playboy“ Frauen.

 

 

Der deutsche Wald ist krank. Das sagt der neue Waldzustandsbericht. Es ist die schlimmste Bilanz seit 36 Jahren, seitdem es diesen Jahresbericht gibt. Nur noch jeder fünfte Baum ist gesund. Egal ob Eiche, Kiefer oder Buche. „Die anhaltende Dürre in den Vegetationszeiten 2018 – 2020 hat verbreitet dazu geführt, dass die Blätter vorzeitig abgefallen sind. Bei der Fichte begünstigte sie, dass sich Borkenkäfer weiter massenhaft vermehren. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Absterberate nochmals gestiegen. Vor allem unsere alten Wälder (>60 Jahre) sind betroffen.“ Ausführlich nachzulesen im Waldzustandsbericht 2020.

Das Waldsterben sei ein „ökologisches Hiroshima“, titelte vor dreißig Jahren der SPIEGEL. Was geschah? – Nichts. Es war möglicherweise in den letzten Jahren einfach zu viel los. Deutsche Einheit, Ost-West-Gezänk, Gentechnik, Dioxin, Ozonloch, Allergien, Abgasskandal, Verkehrsinfarkt, Treibhauseffekt, Vogelgrippe, Schweinepest, Rinderwahnsinn, Bankencrash, Terrorismus, Migration, Wutbürger, Pegida, Pandemie, Korruption, jetzt Gender- und Rassismus-Debatte. Unsere Angstlustgesellschaft hat Heißhunger nach neuem Futter. Welche Krise, welcher Schadstoff darf der Nächste sein?

 

 

Währenddessen leidet der Wald und schweigt. Eine Wende tut not. Statt kranker Fichte oder Kiefer müssen resistente Bäume her. Klimataugliche Weggefährten, die Hitze, Dürre, Stürme und Borkenkäfer überleben. Migranten aus Amerika und Afrika sollen den kranken Wald retten. Als Bäume der Zukunft gelten sogenannte Neophyten.  Einwanderer wie Douglasie, Robinie oder die Libanon-Zeder. Besonders Zedern wachsen besser als Kiefer oder Fichte, hat die Uni Bayreuth in jahrelangen Tests herausgefunden. Sie liefern wertvolleres Holz und seien „robust gegenüber Klimaextremen“.

Der deutsche Wald wird sich radikal ändern, soll er bleiben. Er muss vielfältiger und artenreicher, neudeutsch: diverser werden. Eine Jahrhundertaufgabe, so Waldexperten. Na, darauf ein Likörchen.

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