Mein Land, dein Land, unser Land

Nennen wir sie Jana. Jana ist vierzig Jahre alt. Aufgewachsen in einer ostdeutschen Kleinstadt, arbeitet und lebt sie im Südwesten der Republik. Jana verspürt manchmal Heimweh. Sie ist mittlerweile genauso alt wie der kleine Staat mit den drei Buchstaben DDR, in den sie 1981 hineingeboren wurde. Jana lernte den Pioniergruß und das nur die Gemeinschaft zählt. Als sie neun wurde, änderten Eltern, Lehrer und Erwachsene die Tonlage, warfen ihr altes Leben wie Trabis und die Bitterfelder Schrankwand auf die Müllhalde. Das Alte, Morsche, Verkommene ist tot. Es lebe die Neue Zeit.

 

 

Jana bekam nach 1990 neue Schulbücher, machte ein neusprachliches Abitur. Sie verließ ihre kleine Welt, in der alles atemlos stillstand, suchte westwärts das versprochene Paradies. Sie studierte in einer schmucken Universitätsstadt, entdeckte ein verwirrendes System von Möglichkeiten. Ihr offenbarte sich ein Land voller Abfahrten, Umgehungsstraßen, Bau- und Supermärkten, Tankstellen, Reihenhäusern und schicken Villenvororten, versteckt hinter meterhohen Buchenhecken und gesichert durch dezente Videoanlagen. Keine Orte zum Verweilen. Auf ihren gelegentlichen Berlin-Touren erlebte Jana Castorfs Volksbühne, Christos eingepackten Reichstag, Filme von Quentin Tarantino oder David Lynch.

Jana absolvierte ihren Master in Landschaftsplanung, lernte rasch, dass Investoren zu viele Grünflächen nicht mögen, weil sie die Betriebskosten erhöhen. Sie spürte, dass man über Geld nicht spricht sondern einfach hat. Wer arm ist, hat eben Pech gehabt. Der Zeitgeist lehrte: Wer öffentliche Kassen plündert, ist bestens geeignet am Ende Inventur zu machen. CumEx, Wirecard oder Maskenvermittler zeigen bis heute, wie es geht. Sie traf Menschen, denen es an nichts fehlt außer an Bescheidenheit. Dafür pflanzte die neue Zeit ein Netz an Antidiskriminierungsbeauftragten, veränderte die Sprache und erklärte Diversity zum Menschheitsideal und Fortschritt.

 

Unbekannter Osten. Gesehen in Waren an der Müritz. Mecklenburg-Vorpommern. 2020.

 

Jana verschwieg eisern ihre Ost-Biografie, das ersparte unnötige Fragen. Der Lohn folgte in Form einer steilen Karriere.  Dennoch suchte sie etwas anderes. Halt, Geborgenheit und einen lebenswerten Ort, um eine Familie zu gründen. Sie haderte mit einer Gesellschaft, in der nur noch eine Religion herrschte. Die des Eigentums. Ein Land, in dem Meinungen und Gesinnungen wie Waschpulver oder Parfum angedreht werden, fand Jana. Vor kurzem zog sie zurück in die kleine Stadt ihrer Eltern. Dort aßen, tranken, sagten und wählten die Menschen das Falsche. Aber sie stellten auch richtige Fragen, auf die sie keine Antwort bekamen. Wie ist es möglich, dass man sparsam jedes Jahr weniger Strom verbraucht und dennoch am Ende mehr bezahlt? Wie kommt es, dass Familien Vollzeit arbeiten, aber nicht wissen, wie sie mit 1.400,- netto bis zum Monatsende kommen?

Jana gefiel, dass sich Nachbarn gegenseitig helfen, ohne viel Lärm zu machen. Ihr fiel auf, dass zu jeder Wahl Reporter auftauchten, die wissen wollten, warum sie „Demokratie und Freiheit“ nicht schätzten? Warum sie falschen Heilspredigern nachliefen? Sie fragte sich aber auch, warum sie am Ende die immergleichen Geschichten schrieben, mit der angesagten Haltung: Anlächeln, sich moralisch überlegen fühlen, weiterziehen.

 

Berlin. Oberbaumbrücke. Die Stadt, in der Gemeinsamkeit jeden Tag neu gelebt werden kann. Foto: Renate Pinné

 

Jana ist vierzig Jahre alt. Genau so alt wie die untergegangene DDR mit ihrem unerfüllten Versprechen von einem gerechten Land. Wer verstehen will, was es mit dem „unbekannten Osten“ auf sich hat, sollte Jana fragen Es gibt viele Janas. Im Osten wie im Westen. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.

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