one_life Baby-Füße

Das Amt für Glück  

Aufschneider, Besserwisser, Coach-Helden, Damen-Imitatoren, Dampfplauderer, Fitness-Gurus, Freisprecherinnen, Narzissten, Positionierungsexperten, Salon-Löwen, Selbstdarsteller, Sinnsucher, Spielwütige, Schönheiten, Talker, Yoga-Krieger-Übende, Zyniker und noch mehr Zeitgeisthelden sind ständig online. Viele suchen das kleine oder große Glück. Andere teilen ihren Kummer, ihre Ratlosigkeit und Wut. Aber alle wollen Aufmerksamkeit, Klicks, Likes und möglichst viele Follower. Vom Glück ein gesundes Baby in Corona-Zeiten zu bekommen, erzählt diese Twitter-Episode. Die Geschichte mit dem neuen Menschenkind nimmt rasch eine unschöne Wendung. Die Folge: Eine alleinstehende Mutter* verzweifelt an der Berliner Bürokratie. Doch der Reihe nach.

Anfang Juni 2021 war eine werdende Mutter kurz vor der Entbindung Covid-19-positiv getestet worden. Der Nachwuchs kam in der Charité mit Hilfe eines Kaiserschnitts zur Welt. Alles lief gut. Wegen des positiven Tests wurden Mutter und Kind isoliert. So hatte die frisch gebackene Mutter keine Möglichkeit ihr Kind bei der Geburtenmeldestelle anzumelden. Als sie das Krankenhaus verlassen konnte, ergab sich eine bizarre bürokratische Odyssee: ohne Geburtsurkunde kein Mutterschaftsgeld, kein Elterngeld, kein Kindergeld, kein Kinderzuschlag, kein Überbrückungsgeld. Nichts. Die Mutter berichtet: „Der erste Anruf beim Standesamt Berlin-Mitte war deprimierend. Die Dame am Telefon war unfreundlich und pampig zu mir. Wär ja mein Problem, dass ich mein Kind nicht In der Klinik gemeldet habe. Sie hätte die Geburt noch nicht im PC, ich solle kommende Woche noch mal anrufen aber mich nach Beantragen auf 12 Wochen Bearbeitungszeit einstellen.“ Das sind exakt drei Monate.

 

 

Verzweifelt rief die Mutter bei ihrer Krankenkasse an. Die Reaktion? „Ich schilderte meine Situation: Dass ich gerne bereit bin eine Kopie vom U-Heft oder Eintrag im Mutterpass als Beweis senden würde, dass mein Kind existiert. Dass ich auf mein Mutterschaftsgeld angewiesen bin und bat um irgendein Entgegenkommen. Keine Chance. Als ich anfing aus Verzweiflung zu weinen, wurde der Mann leicht pampig. Ich müsse Verständnis haben, dass sie nun mal ihre Vorgaben haben. Ich hätte mir Empathie gewünscht, dass ich ohne Mutterschaftsgeld, ohne Familienversicherung für mein Neugeborenes nun mal verzweifelt bin und nicht weiß, wie ich ihn ernähren soll.“

Doch auch Jobcenter und Sozialamt lassen die Anfragen der berufstätigen Erzieherin nach Überbrückungsgeld ins Leere laufen. Die unverschuldet in Notlage geratene Mutter schreibt: „Sie haben mich wegtreten lassen zwecks Überbrückungsgeld, weil ich ja prinzipiell einen Job habe und nur in Elternzeit bin. Ich wurde sogar dafür geshamed und als „selbst schuld“ angeprangert, weil ich alleinerziehend bin und derzeit auch keinen Unterhalt bekomme. Ich stehe derzeit also da, mit einem Kind, das versorgt werden muss. Mit 450 Euro weniger im Monat und bald komplett ohne einen Cent, weil das Elterngeld und Kindergeld ja erst bearbeitet werden muss“.

 

Verwaltung ist Herrschaft. (Max Weber) Der Rückstau. Rund 250.000 unerledigte Fälle in Berliner Bürgerämtern. Foto: 99pixel

 

In Berlin warten derzeit rund 250.000 Bürgeranfragen auf einen Termin. Ob Geburts- oder Sterbeurkunde, neuer Ausweis oder Wohnsitz-Ummeldung (alles gesetzlich vorgeschrieben): die durchschnittliche Wartezeit liegt bei drei Monaten. Verwaltung ist Herrschaft sagt ein alter Grundsatz. Und Kurt Tucholsky spöttelte: „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen.“ Diese Lebenswirklichkeit beschrieb er vor genau 91 Jahren. Im Fall der jungen Mutter habe ich Anfang Juli 2021 beim zuständigen Bezirksamt Berlin-Mitte nachgefragt. Man habe von dem Fall gehört, hieß es, man müsse die Zuständigkeit prüfen. Geschehen ist seitdem – nichts.

 

*Die Mutter will namentlich nicht genannt werden.

Am Ende hilft zur Wirklichkeitsbeschreibung nur Loriot.

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