Zarte Pflanze Demokratie
Wiederholt sich Geschichte? 1938 erfolgte der Einmarsch von NS-Truppen in die Tschechoslowakei, um das Sudetenland „heim ins Reich zu holen“. 1968 folgte der Einmarsch der Roten Armee in Prag, um „Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“. Wladimir Putin rechtfertigt seine Invasion, die Ukraine bereite einen „Genozid“ vor, das Land müsse „entnazifiziert“ werden. Grotesker Höhepunkt einer Desinformationskampagne und moralischer Tiefpunkt des Mannes im Kreml. In Kiew ist ein gewählter ehemaliger TV-Komiker im Amt. „Wie könnte ich ein Nazi sein?“, fragt Wolodymyr Selenskyj, der selbst Jude ist. Will Wladimir Putin mit seiner Invasion den 44-jährigen Präsidenten entnazifizieren?
Um die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen, möchte ich an einen 100-jährigen Veteranen erinnern, der im II. Weltkrieg gegen echte Nazis gekämpft hat, die einen unvorstellbaren Genozid durchzogen. Er wagte alles: als Deutscher und als Jude. In der Uniform eines US-Offiziers, übrigens an der Seite der Sowjetunion. Sein Name ist Günther Stern. Der gebürtige Hildesheimer, Jahrgang 1922, ist eine lebende Legende. Er hat Kopf und Kragen für die Demokratie riskiert. Es hat sich gelohnt, sagt er.
1937 konnte er mit Hilfe eines lebensrettenden Visums in die USA flüchten. Da war er gerade 15 Jahre alt. Seine zurückgebliebene jüdische Familie überlebte den Holocaust nicht. Als Hitler 1941 Washington den Krieg erklärte, wurden im Camp Ritchie, Maryland, junge Deutsche zu einer Spezialeinheit ausgebildet. Nicht wenige von ihnen waren Jungs wie Günther, der sich fortan nur noch Guy nannte. Leute wie er wurden zunächst als feindliche „Aliens“ verschmäht. Sie sollten als Ritchie Boys Teil der psychologischen Kriegsführung werden. Knapp 10.000 junge Hitler-Gegner durchliefen das Camp.
Mit 22 Jahren kehrte Guy Stern in US-Uniform nach Europa zurück. Ab Sommer 1944 war er vor und hinter der Frontlinie undercover in geheimer Mission unterwegs. Niemand kannte den Nazi-Feind besser als die Ritchie Boys. Dessen Stärken, dessen Schwächen. Vom D-Day in der Normandie bis zur deutschen Kapitulation. „Wir hatten mehr Mut als Verstand“, betont Guy, der mit Waffen überhaupt nicht umgehen konnte. Seine Waffe war das Wort. Der Hildesheimer verhörte KZ-Aufseher und fanatische SS-Offiziere. Aber auch prominente Gefangene wie Raketenforscher Wernher von Braun oder Reinhard Gehlen, den späteren BND-Chef.
Ob er Stolz empfinde, als Sieger der Geschichte nach Deutschland zurückzukehren, frage ich. „Stolz ist nicht das Wort. Nein. Es ist eher um die Leute, die sich mit mir vereinen, mit denen ich mich vereinen durfte, dass ich denen auch den Tribut zolle, hierherzukommen an einem der Jahrestage von den schrecklichen Ereignissen, von dem Krieg.“
Für Guy Stern ist Demokratie etwas sehr Kostbares. In einem herrlich altmodischen aber perfekten Hochdeutsch betont der mittlerweile hundertjährige Germanistikprofessor, dass ihm eine Sache ganz besonders wichtig sei. „Die Demokratie ist eine sehr zarte Pflanze. Unser Kampf muss sein, diese zarte Pflanze zu schützen, damit wie beim Hildesheimer Rosenstock jedes Jahr eine neue Rose hervorgeht.“
Guy Stern hat mit seiner Frau Susanna Piontek, einer deutschen Schriftstellerin, soeben das Buch „Wir sind nur noch wenige“ veröffentlicht. Am 14. März 2022 von 16.00 bis 17.00 wird es in Berlin (digital) vorgestellt. Es ist an der Zeit, wieder Rosen zu pflanzen. Sie sollten gehegt, gepflegt und geschützt werden.