Für ein Stück Brot hingerichtet

*** AKTUALISIERT am 6. April 2022 ***

Es ist wieder Krieg in Europa. Diesmal haben die russischen Streitkräfte unter Putin das Völkerrecht gebrochen und die Ukraine überfallen, um „das Land zu befreien“. Vor 77 Jahren kamen die Russen und deren Rote Armee tatsächlich als Befreier. Anfang April 1945 kehrte der Krieg nach Berlin zurück, in die Stadt, in der Hitler millionenfaches Unglück wegen seiner Eroberungsgelüste vom Zaun gebrochen hatte. Die Rote Armee setzte zur Entscheidungsschlacht an. Hitler erklärte im Führer-Bunker: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Am 1. April 1945 um 20.00 Uhr meldete der neue Sender „Radio Werwolf“: „Lieber tot als rot! – Siegen oder sterben! – Hass ist unser Gebet, Rache unser Feldgeschrei.“ Die allermeisten Berliner wollten nicht mehr kämpfen. Sie versteckten sich in Kellern, hungerten und kämpften ums Überleben. „Reichsverteidigungskommissar für den Gau Berlin“ Joseph Goebbels verfügte eine Sonderbrotverteilung nur noch für NS-Parteigenossen.

 

„Der Brotaufstand von Rahnsdorf“. NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann: „Es gibt kein Brot mehr. Nur für Parteigenossen!“ Hunderte Menschen versuchten am 6. April 1945 verzweifelt an Brot zu kommen.  Schauplatz: Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf. Foto: Bürger für Rahnsdorf, vermutlich aus den 70er Jahren

 

Die Nachricht erreicht Berlin-Köpenick am 6 . April 1945. Es ist ein frühlingshafter Freitag. Im Ortsteil Rahnsdorf wird bekannt, dass die Bevölkerung kein Brot mehr erhalten soll. Hunderte Frauen, Kinder und Alte eilen zu den drei Bäckern des Ortes. Zwei verkaufen das Stück zu 50,- Pfennig, bis alles weg ist. Beim zentralen Bäcker in der Fürstenwalder Allee 27 weigern sich die nazitreuen Bäckersleute Brot an die Bevölkerung abzugeben.  Sie alarmieren NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann.  – „Es gibt kein Brot mehr. Nur noch für Parteigenossen!“ – Diese Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Lage eskaliert. Erregt versucht eine vielköpfige Menge den Bäckerladen zu stürmen.  Reinhard Heuback war damals zehn Jahre alt. Der damalige Schüler erinnert sich genau. „Der komische Gathemann stand mit der Pistole in der Hand. Ich durfte noch gehen. Andere wurden verhaftet, in den Knast gesperrt.“

 

Margarete Elchlepp (1899-1945). Mit dem Tischler Max Hilliges als  „Rädelsführer“ enthauptet.  Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Der Nazifunktionär meldet die Frauen Margarete Elchlepp (45) und deren Schwester Gertrud Kleindienst (36) sowie den Tischler Max Hilliges (53) der Gestapo als „Aufrührer“. Sie seien „Volksschädlinge“. Hilliges war im Laden mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Er lieferte sich mit dem NS-Mann, der mit der Waffe herumfuchtelte, ein kurzes Wortgefecht: „Gib den Frauen Brot, sie wollen es ja nicht für sich, sondern für ihre Kinder.“ Dann setzt Hilliges nach: „Es dauert nicht mehr lange, dann musst du deinen braunen Rock auch ausziehen.“ Noch am gleichen Abend gegen 18 Uhr wird der Tischler in seiner Wohnung verhaftet. Die Gestapo nimmt insgesamt 15 Personen fest, die zum Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht werden. Ein Standgericht verurteilt den Tischler und die beiden Schwestern Margarete und Gertrud am nächsten Tag als „Rädelsführer“ zum Tode.

Keine drei Stunden nach dem Todesurteil werden Max Hilliges und Margarete Elchlepp in der Nacht des 7. April 1945 gegen 0.45 Uhr in der Haftanstalt Plötzensee enthauptet. Die dritte als „Rädelsführerin“ zum Tode verurteilte Gertrud Kleindienst, Mutter von drei Kindern, wird  von Gauleiter Goebbels in letzter Sekunde zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Hitlers Propagandaminister notiert in seinem Tagebuch am 8. April 1945: „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will. Und die Ordnung ist die Voraussetzung der Fortsetzung unseres Widerstandes.“ Am Tag darauf werden die Hinrichtungen „unter Trommelwirbel“, so Augenzeuge Heubeck, auf dem Bismarckplatz vor der Bäckerei verkündet. „Zur Abschreckung“ kleben NS-Genossen Flugblätter mit der Nachricht von den vollzogenen Todesurteilen an Laternen und Bäume.

 

Ein Dokument des Schreckens. Das Kammerbuch der Hinrichtungsstätte Plötzensee vom 8. April 1945. Akribisch werden die letzten Habseligkeiten von Margarete Elchlepp festgehalten. Wintermantel, 1 Paar Halbschuhe, 3 Taschentücher usw. Das rote Kreuz (unten) neben der Unterschrift bedeutet: Enthauptung vollzogen. Margaretes Leichnam und der von Max Hilliges wurden wenige Tage vor der Kriegsende auf dem Friedhof Wilmersdorf verscharrt.  Repro: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

Zwei Wochen nach dem Brotaufstand marschiert am 21. April 1945 die 1. Weißrussische Front der Sowjetarmee im Berliner Vorort Rahnsdorf ein. NS-Ortsgröße Gathemann verschwindet in den Nachkriegs-Wirren. Gertrud Kleindienst überlebt. Sie wird am 2. Mai 1945 aus dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel befreit. Im September 1945 kehrt sie nach Rahnsdorf zurück.

Was wurde aus dem fanatischen NS-Mann Gathemann? Die Spuren führten nach Moskau. Über ein dreiviertel Jahr ließ der angefragte Militärstaatsanwalt auf eine Antwort warten. Ende 2021 teilte der kommissarische Leiter der Abteilung IV des russischen Militärstaatsanwalts in Moskau mit, dass NS-Ortsgruppenführer Gathemann am 1. August 1945 hingerichtet wurde. Er habe sich an „Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit schuldig“ gemacht. Das bedeutet: Auch der Denunziant Gathemann war nach Kriegsende denunziert worden. Wo genau das Urteil „Tod durch Erschießen“ vollzogen wurde, teilte die russische Justizbehörde nicht mit.

 

Die erste (fehlerhafte) Gedenktafel wurde 1998 an der ehem. Bäckerei Deter angebracht. Sie verschwand nach einem Eigentümerwechsel. Jetzt soll nach über sechs Jahren Streit eine neue Gedenkstele aufgestellt werden, um an den „Brotaufstand von Rahnsdorf“ zu erinnern. Foto: Bürger für Rahnsdorf

 

1998 organisierten einige couragierte Bürger eine Gedenktafel am Ort des schrecklichen Geschehens. Die ehemalige Bäckerei wurde mittlerweile verkauft, das Haus vorbildlich renoviert, doch die Tafel verschwand. Seit 2016 versucht der Verein Bürger für Rahnsdorf  wieder eine Gedenktafel am Haus anzubringen. Der neue Hausbesitzer weigert sich beharrlich. Nach mehr als sechs Jahren Debatten, Petitionen und üblichem Berliner Behördenbingo soll „noch in diesem Jahr“ eine neue Gedenk-Stele vor der ehemaligen Bäckerei aufgestellt werden. Diesen Informationsstand teilte der Bürgerverein Rahnsdorf mit. Stand: Anfang April 2022.

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