„Vergangenheit ändert sich ständig“

Zwei Tage vor seinem Überfall auf die Ukraine kündigte Wladimir Putin seine „Befreiungsaktion“ verklausuliert an. Das Brudervolk sei vor dem „Nazismus in Kiew“ zu retten. Putin benutzte ein altes Radio-Eriwan-Bonmot aus Sowjetzeiten. „Die Vergangenheit ändert sich ständig“.  So rechtfertigt der Kreml-Chef seinen Feldzug gegen den Westen auch mit der Vergangenheit. Die Ukraine sei russische Erde. Er beschwört den Mythos der Sowjetunion, den „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Adolf Hitler, den selbsternannten „Größten Feldherrn aller Zeiten“. An dessen Erbe arbeiten sich die Deutschen bis heute ab. Der II. Weltkrieg unserer Eltern, unserer Väter und Großväter. Man könnte meinen, zu diesem Thema sei alles gesagt, geschrieben und gesendet worden. Irrtum.

Alles, was wir nicht erinnern“, heißt ein stilles, großartiges Reisebuch, das in die Vergangenheit von Christiane Hoffmann führt. Die Journalistin begibt sich auf die Spuren ihres Vaters Walter, der im Januar 1945 als neunjähriger Junge mit seinem gesamten Dorf vor den Russen gen Westen flüchtete. „Zu Fuß? Zu Fuß. – Allein?“ Allein.“  Die meistgestellte Frage an die Wanderin auf ihrem 550 Kilometer langen Fußweg, der dem Weg des Flüchtlingstrecks ihres Vaters folgt. Vom heimischen schlesischen Rosenthal (heute das polnische Rózyna) bis nach Klinghart bei Eger (heute Cheb). Dort strandete der Elendszug im März 1945 im damaligen Sudetenland, heute Tschechische Republik. Die Rosenthaler sind kleine Sandkörner im Treibgut des großen Hitler-Verbrechens.

 

Christiane Hoffmann auf den Spuren der Flucht ihres Vaters. Foto Wikipedia

 

Was Hoffmann auf ihrer beschwerlichen Wanderung erlebt, ist so spannend wie erhellend zugleich. Sie merkt rasch: Die Narben des Krieges sind keineswegs vernarbt. Im Heimatdorf ihres Vaters im heutigen Rózyna leben seit drei Generationen einst aus einem Dorf im Gebiet Lemberg umgesiedelte Bauern, damals UdSSR, heute Ukraine. Seit Ende Februar 2022 Kriegsgebiet. Das Ende des II. Weltkrieges löste 1945 in Europa eine riesige Völkerwanderung aus. Allein vierzehn Millionen Deutsche sind geflüchtet oder wurden verjagt. Wichtig ist, was Hoffmann notiert: Alle haben am Krieg gelitten. Deutsche, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen und viele mehr. Keine Familie, in der „niemand ermordet, verschleppt, gefallen, enteignet, vergewaltigt oder vertrieben“ worden ist.

 

 

 

Die intensive Nähe zu ihren Zufallsbekanntschaften ist die Stärke des Buches. Christiane Hoffmann drängt sich nicht auf. Sie hört zu. Sie erfährt, dass fast niemand etwas von einem deutschen Flüchtlingstreck aus Rosenthal weiß. Die Orte sind geblieben, die Spuren ihres Vaters jedoch verwischt. Die Traumata des Krieges platzen sofort auf, wenn gezielt nachgefragt wird. Hoffmann: „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Häuser sind fest, sie bleiben. Menschen kommen und gehen, werden vertrieben. Menschen kann man umsiedeln“. Auf ihrem langen Fußmarsch genießt sie im Sommer Pflaumen und Mirabellen, die nach Kindheit schmecken. Sie pflückt „die sonnenwarmen Früchte, sie sind weich und schmecken süß wie Kompott“. Im Winter kämpft sie gegen Wind, Eiseskälte und gegen das Aufgeben. Christiane Hoffmann hält durch.

 

Brandenburger Tor am 23. Februar 2022 abends. Wenige Stunden später beginnen Panzer, Geschütze und Granaten zu sprechen. Es herrscht wieder Krieg, Leid und Vertreibung in Europa.

 

Hoffmanns Fazit: „Nichts ist vergangen. Die Geschichte ist wie ein Teig, aus dem sich formen lässt, was man will. Alle wollen Opfer sein, Helden oder Opfer, nur nicht Täter“. Hoffmann zieht eine weitere Schlussfolgerung: „Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, den sie im Osten entfesseln. Wir glauben, die Vergangenheit sei vergangen und die Geschichte Geschichte. Wir glauben, dass wir sie aufgearbeitet haben und deshalb nun fein raus sind“. Noch ein Irrtum! Warum nichts vorbei ist, zeigt uns Christiane Hoffmann eindrucksvoll auf. Ein Buch, das ich verschlungen habe. Sehr empfehlenswert!

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