Morgendämmerung in Schlesien. Krzystof Mandrysz

Wiederholt sich alles?

Es war ein kühler Montag im Februar. Im neuen Museum für Flucht, Vertreibung und Versöhnung am Berliner Anhalter Bahnhof stellt die Journalistin Christiane Hoffmann ihre berührende Vater-Tochter-Geschichte vor. Die stellvertretende Regierungssprecherin berichtet über die Flucht ihres Vaters. Er hatte sich als kleiner Junge mit der Familie in einem schlesischen Dorf zu Fuß auf den Weg gen Westen gemacht, um der vorrückenden Roten Armee zu entkommen. Christiane Hoffmann folgt dem Fluchtweg ihres Vaters – zu Fuß. Das Nachwandern ist Basis für Begegnungen, die aufzeigen, wie tief sich der II. Weltkrieg bis heute in die Seelen der Menschen in der Ukraine, Polen, Tschechischen Republik und bei uns eingegraben hat. Ich hatte Gänsehaut! Keine drei Tage später startet Wladimir Putin seinen „Befreiungs“-Krieg. Aus Vergangenheit wird Gegenwart. Nichts ist vorbei, nichts vergangen. Was heißt das für die Zukunft?

Dieser furchtbarste Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs markiert tatsächlich einen Epochenbruch. Der russische Überfall hat das verwöhnte Europa in ein neues Licht getaucht. Die Moskauer Führung versucht, die gegebene Ordnung des Kontinents zu zerschlagen. Der neue Alltag heißt: Aufrüstung, Propaganda, „Zeitenwende“, Bruch des Völkerrechts, Flächenbombardements, Massaker, Millionen Flüchtlinge, Nahrungsmittelknappheit, Inflation und Wirtschaftskrise. Brüssel-Europa schaut auf einen Scherbenhaufen seiner gehegten Illusionen. Frieden, Wohlstand und Demokratie in Europa sind akut bedroht. Es scheint keine Lösung zu geben.

 

Christiane Hoffmann auf den Spuren ihres Vaters. Foto: Ekkovon Schwich

 

„Alles, was wir nicht erinnern“, heißt dieses aufmerksame, stille Reisebuch, das in die Vergangenheit von Christiane Hoffmann führt. Sie begibt sich auf die Spuren ihres Vaters Adolf-Walter, der im Januar 1945 als neunjähriger Junge mit seinem gesamten Dorf vor den Russen gen Westen flüchtete. „Zu Fuß? Zu Fuß. – Allein?“ Allein.“  Die meistgestellte Frage an die Wanderin auf ihrem 550 Kilometer langen Fußweg. Vom heimischen schlesischen Rosenthal (heute Rózyna, Polen) bis in die Nähe von Eger (heute Cheb, Tschechische Republik). Dort strandete der Treck im März 1945 im damaligen Sudetenland. Die Rosenthaler sind Sandkörner im Treibgut des großen Hitler-Verbrechens.

Hoffmann erfährt auf ihrer Wanderung: Die Wunden des Krieges sind keineswegs verheilt, höchstens vernarbt. Im Heimatdorf ihres Vaters im heutigen Rózyna leben seit drei Generationen einst aus einem Dorf im Gebiet Lemberg umgesiedelte Bauern, damals UdSSR, heute Ukraine. Das Ende des II. Weltkrieges löste 1945 in Europa eine Völkerwanderung aus. Allein zwölf Millionen Deutsche sind geflüchtet oder wurden vertrieben. Wichtig ist, was Hoffmann notiert: „Alle haben am Krieg gelitten. Deutsche, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen und viele mehr. Keine Familie, in der „niemand ermordet, verschleppt, gefallen, enteignet, vergewaltigt oder vertrieben“ worden ist.

 

 

Hoffmanns Fazit: „Nichts ist vergangen. Die Geschichte ist wie ein Teig, aus dem sich formen lässt, was man will. Alle wollen Opfer sein, Helden oder Opfer, nur nicht Täter“. Und: „Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, den sie im Osten entfesseln. Wir glauben, die Vergangenheit sei vergangen und die Geschichte Geschichte. Wir glauben, dass wir sie aufgearbeitet haben und deshalb nun fein raus sind“.

Wer Christiane Hoffmann persönlich erleben will: Sonntag, 4. September 2022 um 11 Uhr im Alten Gymnasium in Neuruppin.

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