Der „Trottel“
„Eines der streckenweise intelligentesten Bücher, das der Rezensent je gelesen hat. Leider zerstört sich der Text nach und nach selbst, weil seine innere Wucht einerseits vertikal verpufft, andererseits seitlich auseinanderfließt.“ Oder: „Für jeden seiner vielen Fußnoten verdient dieser Mensch einen Stromschlag angemessener Stärke und Spannung.“ Der neue Roman „Trottel“ liefert gleich zu Beginn im Umschlagband „Anregungen und Vorschläge für Rezensenten, nützliche Bonmots für Streitgespräche oder zukünftige Nackenschläge“. Alles im Preis inbegriffen. Der „Trottel“ versorgt faule und/oder vorurteilsbeladene Vertreter der Kritikerkaste mit Munition für die Handhabung eines Buches, das wirklich anders ist als die anderen. Bereits der kurze Titel Trottel überrascht. Das Buch stammt aus der Feder von Jan Faktor. Er liefert auf 400 Seiten Außergewöhnliches mit Irrungen und Wirrungen, Höhepunkten und Tiefschlägen, Wort- und Gedankenspielen, die wie Salto Mortale durch die Seiten purzeln. Jan Faktor liebt die pure Lust am Experimentieren. Anarchisch, manchmal anstrengend und peinlich, aber stets witzig, klug und mit großer Herzenswärme. Ein Buch, bei dem der Lesende nicht weiß, was auf der nächsten Seite kommt.
Worum geht es? Ein Prager Informatiker macht sich nach dem 68er-Einmarsch der Russen auf den Weg nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Er will die Welt kennenlernen, so wie sie ist. „Die stille Frage meiner Jugend lautete, ob ein Trottel im Leben glücklich werden kann“. So lautet der erste Satz im Roman, so bricht der tschechische Schwejk zu seiner Ostberlin-Odyssee auf. Er flieht aus der „Prager Vorhölle“, aus dem „fauligen, verfilzten, porenverstopften Knödelgeschwulst“. Er entdeckt „den seltsamen Trost von Chicorée“, staunt mit böhmischem Blick über die Ost-Berliner Bohème-Szene. So taucht der Trottel in die Szene vom Prenzlauer Berg der achtziger Jahre ein, in einen der schrägsten Winkel Berlins direkt am antifaschistischen Schutzwall, mit Abrisshäusern, Klo auf halber Treppe und Freiraum für alternative „Trottel-Träume“.
Jan Faktor, in der Szene nur Honza genannt, stolpert durch das Prenzlauer Berg-Biotop der Kreativen, Punks und Unangepassten. Als tschechischer Exot mischt er in der Ost-Berliner Undergroundszene mit, organisiert heimlich Lesungen in verrauchten Wohnküchen, teilt mit anderen aus der „Deutschen Reichsbananenrepublik“ ihr Leben in der DDR-Nische „vollprivat bis tiefintim“. Er staunt über das Wunder der Wende und entwickelt eine Leidenschaft für Rammstein. Das Stahlgewitter der Ost-Combo wird sein Sound, der Herz, Geist und Seele wärmt. Was ist das Geheimnis der Kultband? Der Trottel findet die Antwort. Mehr im Buch. Heute ist vom einstigen Aussteiger-Viertel Prenzlauer Berg nur der Mythos geblieben. Nach der Wende hübschten Immobilienfonds das einstige Dissidenten-Quartier in ein luxussaniertes, gehobenes Bionade- und Latte-Macchiato-Viertel auf.
Jan Faktor liebt Rammstein.
Der Trottel ist auch ein sehr privates Buch geworden. Jan Faktor gibt viel preis, balanciert in seinem Familienepos auf einem schmalen Grat. So reflektiert er über die Liebe zu seiner Frau und das Trauma, seinen Sohn durch Suizid verloren zu haben. Seiner Weggefährtin dankt er mit der Widmung „an meine Frau, die dieses Buch lieber nicht lesen sollte“. Zu guter Letzt: Das deutsche Wort Trottel ist kaum übersetzbar. Für Faktor ist sein Trottel kein Schelm, der sei zu klug, aber auch kein Idiot wie bei Dostojewski. Sein Trottel sei von liebenswürdiger Ehrlichkeit, neugierig, naiv und stets ein wenig chaotisch. Sein Leitspruch: „Meine Großmutter meinte, man hätte es im Leben generell einfacher, wenn man unterschätzt wird.“
Den ungewöhnlichen Roman Trottel kann man nicht beschreiben. Man muss ihn lesen. Es lohnt sich.