Warten auf den 101er

Bushaltestelle U-Bahnhof Konstanzer am Berliner Preußenpark. Alle zwanzig Minuten hält hier ein Bus. Nicht weit vom Kurfürstendamm, im gutbürgerlichen Wilmersdorfer Westen. Seit vielen Monaten sitzt in der Haltestelle eine Frau und wartet auf den Anschluss. Sie hat sich mit Decken, Tüten, Rollkoffer und Schirm auf den Sitzbänken eingerichtet. Sie wohnt, lebt, schläft hier. Die Busse kommen, halten und fahren weiter. Sie steigt nicht ein. Mit einem Handbesen hält sie Ordnung, fegt den Boden. Meistens hat sie sich in Decken gehüllt. In eiskalten Januar-Nächten wie an heißen Julitagen. Der Hauptstadtverkehr tobt an dieser vielbefahrenen Kreuzung. Passanten hasten achtlos vorbei. Die Frau bleibt. Ihre Adresse ist die Bushaltestelle 101. Sie ist eine von tausenden Obdachlosen in der Hauptstadt. Ganz in meiner Nähe.

Wer ist diese Frau? Woher kommt sie? Welcher Schicksalsschlag hat sie in die Wartehalle verbannt? Ist sie freiwillig hier? Hat sie Familie? Einen Mann? Kinder? Freunde? Verwandte? Wer kümmert sich um sie? Wie hält sie das durch? Auf alle diese Fragen kann ich keine Antwort geben. Ich habe sie angesprochen, ihr Geld geben wollen. Sie hat mich brüsk und voller Stolz abgewehrt und schimpfte auf Slawisch. Sie muss irgendwo aus Osteuropa im Berliner Westen gestrandet sein. Einmal habe ich ihr heimlich einen Schein zugesteckt, während sie offenbar schlief. Ein anderes Mal habe ich gesehen, wie sie in ihrer Haltestelle für Sauberkeit gesorgt hat. Die kleine, stolze Frau muss älter sein. Ihr Gesicht ist von den Strapazen der Straße gezeichnet.

 

Haltestelle 101. Mitte Januar 2023. Außentemperatur: -2 Grad.

 

Direkt hinter der Bushaltestelle ist ein großer Spielplatz. Gegenüber befindet sich eine Kirchengemeinde. Laufen alle an ihr vorbei? Ob andere Menschen ihr etwas zustecken? Wo isst sie? Was hat sie zum Leben? Was – vom Leben? Wieder fährt der 101er vor. Er hält nur  kurz, weil niemand einsteigt. So ist das alle zwanzig Minuten, im Berufsverkehr alle zehn Minuten. Ich habe aus meiner journalistischen Arbeit mit Obdachlosenprojekten gelernt, wie schnell ein Mensch alles verlieren kann. Haus und Hof, Familie und Freunde, Beruf und Gesundheit. Halt und Hoffnung. Wer keine Hilfe findet, landet am Ende auf der Straße. Oder an der Haltestelle des 101er.

In den letzten Nächten war es in Berlin bitterkalt, deutlich unter dem Gefrierpunkt. „Meine Busfrau“ sitzt in ihrer Wartehalle dick vermummt. Die Decke über den Kopf gezogen. Die Decke bewegt sich. Sie atmet. Sie lebt. Ich habe die Notnummer des Kältebusses gewählt. Mein Hilferuf schaffte es nur bis zum Anrufbeantworter. Zurückgerufen hat niemand. Vielleicht waren sie vor Ort? Oder haben die Freiwilligen einfach zu viel zu tun? Mich quält eine Frage: Was macht man mit Menschen, die in Not sind, sich aber nicht helfen lassen wollen? Jeder Mensch ist doch bestimmt zu leuchten.

 

Haltestelle 101. Anfang Juli 2022. Außentemperatur: +30 Grad.

 

Die Berliner Notnummern: Kältebus der Berliner Stadtmission. Tel. 030 699333690. 20 – 3 Uhr. Wärmebus des Deutschen Roten Kreuz. Tel. 030 600 300 1010. 18-24 Uhr.

 

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