Archive for : Februar, 2023

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„Be a Mensch“

Sei ein Mensch, meinte einmal Hollywood-Regisseur Billy Wilder. Das zählt. Sonst nichts. So ein Mensch ist Ruth Weiss, 98 Jahre jung. Mit Kopfhörern und voller Elan gibt sie per skype ein Videointerview zum Reichstagsbrand. Ruth spricht ein wunderbares Thomas-Mann-Deutsch. Klar und deutlich, die Sprache ein wenig altmodisch, aber detailgenau und auf dem Punkt. Ihr Jahrhundertleben beginnt im Juli 1924. Das Elternhaus steht in Fürth, in der Theaterstraße. Die Eltern sind Kaufleute. Die kleine Ruth Löwenthal erlebt eine unbeschwerte Kindheit, wird mit „Wärme, Liebe und Geborgenheit“ groß, bis die Nazis an die Macht kommen. Da ist sie acht Jahre alt: „Ich ging um die Ecke, und da stand er vor mir, mit der Peitsche in der Hand: Julius Streicher.“  Der Mann mit der Peitsche ist der Gauleiter von Mittelfranken (Nürnberg/Fürth) und ein NS-Scharfmacher. In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage.

 

Ruth Weiss (2022) Seit 2020 Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Foto: CC BY-SA 4.0

 

1936, im Jahr der Olympischen Spiele können die Löwenthals nach Südafrika fliehen. Hier gehören sie zu den insgesamt rund sechstausend deutschen Juden. Ruth schließt sich als Teenager der „Unabhängigen Kulturvereinigung“ an, einem deutscher Exil-Club.  Dort lernt sie Hans Leopold Weiss (1909-1989) kennen, einen liberalen Intellektuellen, gleichfalls heimatlos wie sie. In jungen Jahren war Weiss in die KPD ein- und im Pariser Exil wieder ausgetreten. Als 24-jähriger Redakteur beim Berliner Tageblatt (Leitung Chefredakteur Theodor Wolff) sieht er als Augenzeuge wie der Reichstag brennt. Der Himmel über Berlin verfärbt sich blutrot, die Kuppel explodiert. Im dunklen Gebäude riecht es nach Benzin. Die Massenverfolgungen beginnen. Der damals 24-jährige Hans flüchtet Hals über Kopf nach Prag, bevor er über Frankreich nach Südafrika auswandert. Seine Rettung.

 

Ruth Weiss zwischen Alexander Mayer und Andrei S. Markovits vor ihrem Geburtshaus in Fürth. (Juli 2022) Foto: CC BY-SA 4.0

 

Ruth und Hans heiraten in Südafrika. Sie nimmt seinen Namen Weiss an. Ruth veröffentlicht als „Hans Weiss“ erste Artikel, so bleibt sie die „graue Maus“ im Hintergrund. „Er füllte mein Leben, glücklich war ich nie.“  Ruth beginnt sich zu lösen. „Wir trennten uns nach einigen Jahren wieder. Er wollte immer den deutschen Pass behalten.“ Ruth geht eigene Wege. Sie beginnt in einer Versicherungsgesellschaft, macht erste Schritte als Wirtschaftsredakteurin. Sie hat Talent. Und Ausdauer. Bald berichtet sie für den renommierten Guardian und die Deutsche Welle aus Afrika. Ihre zweite Heimat Südafrika jedoch bleibt für sie ein absurdes Land. Sie streitet gegen die Apartheid, gerät in den 60er Jahren rasch auf die „Schwarze Liste“, wird zur Persona non grata erklärt und ausgewiesen. Erst mit dem Amtsantritt von Nelson Mandela 1991 wird sie wieder von den Fahndungslisten gestrichen. Einmal erlebte sie den Anti-Apartheid-Führer, in der Küche einer Freundin, die mit ihm im Untergrund zusammenarbeitete: Da saß er am Küchentisch, „vor sich einen dampfenden Teller. Er lachte uns an. Nelson Mandela.“

 

 

Dreimal in ihrem Leben wurde Ruth Weiss ausgewiesen. Aus Deutschland, aus Südafrika und aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Warum? Weil sie sich als linke Jüdin nicht den Mund verbieten ließ. Ob gelber Stern oder schwarze Hautfarbe, sie hat sich in Afrika engagiert „wie dies nur sehr wenige Weiße getan haben“, schrieb Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer im Nachwort zu ihrer Autobiografie „Wege im harten Gras“ (1994). Mittlerweile hat die unermüdliche Autorin ihre siebenbändige Familiengeschichte Die Löws. Eine jüdische Familiensaga in Deutschland, vollendet. Ruth lebt heute in Dänemark. Als wir unseren Videocall zum Reichstagsbrand beendet haben, fragt sie noch: „Können Sie damit etwas anfangen?“ Und wie. Ruth Weiss ist ein Mensch, und was für einer. Eine Jahrhundertfrau, die etwas zu sagen hat. Ein Glück, dass es sie gibt. Im Juli wird sie 99.

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„Große Schwester“

Wie bitte? Ihr Partner gendert nicht! Ihr Chef reißt fahle Alt-Herren-Witze! Der dicke Nachbar schimpft über feministische Außenpolitik?! So was von gestern. Aufgepasst: Hilfe naht. Sollten Sie im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz oder beim Familientreffen antifeministische Zoten vom Kümmerling bechernden Onkel aus Buxtehude  ertragen müssen, einfach melden, und zwar bei der neuen Meldestelle Antifeminismus. Der offizielle Titel lautet: „Meldestelle für Betroffene von Hass gegen Frauen und andere geschlechtliche Minderheiten“. Sollte es sich beim Onkel aus Buxtehude um eine „Person öffentlichen Interesses“ handeln, können Sie ihn ruhig namentlich nennen. Start frei für „Germanys Next Top Blaming“.

„Wir sind überrannt worden – es ist erschreckend zu sehen, wie viele Fälle schon reingekommen sind“, sagt Judith Rahner, Initiatorin der Meldestelle bei der Antonio-Stiftung der WELT. Endlich können „organisierte Kampagnen gegen geschlechtergerechte Sprache“ oder „Angriffe auf queere Menschen und Einrichtungen“ gemeldet werden. Eingehende Daten würden nach Art und Anlass kategorisiert. Das gesammelte Wissen soll zur Schulung für Polizei und Justiz genutzt worden. Kritik an der staatlichen Meldestelle kontert das federführende Familienministerium: „Bitte beachten Sie, dass grundsätzlich keine Klarnamen oder persönlicher Personen mitgeteilt werden“. Ausnahme, „sofern es sich nicht um Personen öffentlichen Interesses handelt“. Wie gesagt, Achtung! Ihr Brüderles, Kubickis, Lindners und alle anderen im Lande: Zügelt Eure Zungen.

 

Bitte melden! Das neue Portal des Bildungsministeriums.

 

Wäre es da nicht konsequent weitere Meldestellen einzurichten? Für eine bessere Politik, im Namen des Fortschritts? Der Urtrieb des Menschen missliebige Menschen anzuschwärzen ist unermesslich und kann optimiert werden. Was ist mit abfälligen Äußerungen über Klimawandel, Elektroautos, Lastenfahrräder, Corona-Impfungen, Hafermilchtrinker oder Mitglieder der Bundesregierung? Kurzum: warum nicht politisch unkorrekte Worte oder Witze direkt melden können? Sinnvoll wäre zurzeit auch eine Meldestelle Putinversteher oder eine Meldestelle Grundsteuerverweigerer. (hier bitte eigene Wünsche ergänzen und an die Bundesregierung schicken) Somit könnte „total innovativ“ und mit viel Wumms eine neue Dimension der Debattenkultur nach dem deutschen Reinheitsgebot erreicht werden. Melden. Enter. Genau.

 

Schöne Neue Welt. 2023. Meldet, was stört. Quelle: Amadeo-Antonio-Stiftung-

 

„Winstons Umerziehung macht Fortschritte. Er übt sich im „Doppeldenk“: widersprechende Argumente entweder gar nicht sehen oder nicht begreifen. Doch als ihm Julia im Traum erscheint und er laut nach ihr ruft, erkennt O’Brien, dass Winstons Liebe zu Julia ungebrochen ist. Er wird in das berüchtigte Zimmer 101 gebracht. Dort erwartet jeden Menschen seine persönliche Hölle. Danach glaubt Winston endlich frei zu sein, durch seine neu entdeckte Liebe zum Großen Bruder. Die Gehirnwäsche war erfolgreich.“

 

 

Wir ersetzen Orwells Großen Bruder (1984) durch das 2023 zeitgemäßere Große Schwester. So könnte das grüne „Petz-Portal“ zur Erlangung von „Täter*innendaten“ (Antonio-Stiftung), ausgestattet mit Staatsknete und dem Versprechen „ausnahmslos anonymisiert“ zu sein, in eine progressive Zukunft führen. Wer das meint, glaubt vermutlich auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Sorry, Falter*innen!

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Mona Lisa

„Lisa, der YouTube-Star aus Hollywood, genießt ihren Erfolg in vollen Zügen. Mit ihren charmanten Videos hat sie eine riesige Fangemeinde aufgebaut und ist zu einer festen Größe in der Online-Community geworden. Doch mit dem Ruhm kommen auch Intrigen und Neid. Viele Neider versuchen, Lisa zu schaden und ihr den Erfolg zu nehmen. Trotzdem lässt sich Lisa von solchen Dingen nicht beeinflussen und bleibt positiv und optimistisch. Sie weiß, dass hinter jeder Intrige auch ein Stück Eifersucht und Neid steckt und dass sie es sich durch ihre harte Arbeit und ihr Können verdient hat, wo sie heute steht.

Doch auch wenn Lisa glücklich und erfolgreich ist, spürt sie manchmal eine tiefe Sehnsucht nach ihrer Heimat. Sie vermisst ihre Familie und Freunde und das Gefühl von Geborgenheit. Doch dann denkt sie an all die unvergesslichen Erlebnisse, die sie in Hollywood hatte, und weiß, dass sie am richtigen Ort ist. Lisa ist ein Vorbild für viele junge Menschen und zeigt, dass man mit harter Arbeit, Mut und Positivität alles erreichen kann. Sie beweist, dass Erfolg keine Frage des Zufalls ist, sondern dass man selbst dafür verantwortlich ist.“

 

KI macht´s möglich. Texte, Bilder, Grafiken in Sekundenschnelle zu allen Themen, Wünschen, Lebenslagen.

 

Voilà. Vorsicht Falle! Unser Mona Lisa-Anfang ist komplett KI-gesteuert. Dank ChatbotGPT . Ein paar Stichwörter eingeben. Los geht´s. Die neue digitale Wundermaschine erobert in diesen Tagen Herzen und Hirne. Mit Rückenwind von Microsoft und Elon Musk gepusht, soll ChatbotGPT dem Marktführer Google Paroli bieten. Das Feuilleton überschlägt sich. Digital generierte Texte. Alles wird anders: Schule, Universitäten, Journalismus, Behörden, Business und Politik werden eine KI-Revolution erleben. Eine Veränderung, die so bahnbrechend sein soll wie die Einführung des Smartphones vor fünfzehn Jahren. Schöne Neue Welt! Alles Klar. Wir testen weiter: Was empfiehlt nun meine neue Mitarbeiterin ChatbotGPT? Welches Video soll ich mir von Lisa anschauen?

„Als KI habe ich keine Möglichkeit, Videos anzusehen, aber ich kann Ihnen empfehlen, nach Videos von Lisa auf beliebten Plattformen wie YouTube oder TikTok zu suchen. Sie können auch nach bestimmten Themen suchen, die Sie interessieren, wie zum Beispiel Mode, Beauty, Lifestyle oder Reisen, um ein Video von Lisa zu finden, das Ihnen gefällt. Wichtig ist, dass Sie immer darauf achten, dass Sie vertrauenswürdigen Quellen folgen und aufpassen, dass Sie keine gefälschten oder unangemessenen Inhalte anschauen.“

 

 

Aha. Also wähle ich die Musik auf YouTube selbst aus. Allerdings steuen auch hier die Algorithmen die Ergebnisse. Vorneweg US-Teenie-Girl Lisa mit Money, bislang 765 Millionen Klicks. Die eher relaxte und Bossa-Nova-jazzige Lisa Ono 6.1 millionenmal. Alle anderen Lisas, ob Stansfield, Eckhart oder wie auch immer überlasse ich Ihrer eigenen digital beflügelten Fantasie. Marktführer Google liefert in 57 Sekunden zurzeit 1.750.000.000 Lisa-Treffer. Da wird sich doch was finden.

 

 

Ein Gedanke zum Schluss. Meine Texte werden weiter handgemacht. Ohne KI. Aber mit all meinen Leidenschaften, Irrtümern, Ecken und Kanten. Versprochen!

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Wo ist Kamala?

„Lass dir von niemanden sagen, wer du bist. Sag du ihnen, wer du bist.“ Mamas Motto für Kamala Harris, Vizepräsidentin der USA. Das Einwandererkind, das es bis ganz nach oben geschafft hat. Vater Donald, ein Wirtschaftswissenschaftler aus Jamaika, Mutter Shyamala Gopalan aus dem Südosten Indiens, Krebsforscherin. Ihre Eltern waren wie Feuer und Wasser. Sie nannten ihre Tochter Kamala, das bedeutet Lotusblüte. Die Kleine war fünf, als sie sich trennten. Und doch symbolisiert Kamala den amerikanischen Traum: „Du kannst die Erste sein, aber bleib nicht die Einzige“. Kamala, die Perfektionistin. Malocherin. „Top-Cop“, Kämpferin für Gerechtigkeit.

Viele fragen sich: Was macht die große Hoffnungsträgerin? Warum hört man nichts? Liegt es an den Medien, an der Bürde des Amtes oder an ihr? Zu ihrer Halbzeitbilanz twitterte die 58-jährige lediglich: „Nach zwei Jahren im Amt kann ich zuversichtlich sagen, dass wir an einer besseren Zukunft arbeiten.“

 

Kamala Harris und Joe Biden. 3. Februar 2023. Das offizielle Bild des Weißen Hauses zur Halbzeitbilanz.

 

Die Zeit schreibt, sie sei nicht nur für ihre Fans eine Enttäuschung. Die Welt kolportiert Beschwerden aus dem Weißen Haus, Mitarbeiter müssten sich erheben, wenn sie einen Raum betrete. Kaum zu glauben. Vor ihrem Amtsantritt sagte sie: „Wenn man durch die gläserne Decke stößt, dann schneidet man sich, und es tut weh. Es geht nicht ohne Schmerz.“ Kamala Harris hat als schwarze Zuwanderertochter „zweischneidige Erfahrungen“ gemacht. Ein starkes Gefühl der Zielstrebigkeit und Hoffnung, einen „tiefen Glauben an den amerikanischen Traum und die unbegrenzten Möglichkeiten“. Zugleich erfuhr sie alltäglich Vorurteile, Schuldzuweisungen und Diskriminierung. Jede Passkontrolle als Herausforderung.

 

Wie aus einer anderen Zeit. Washington. Juli 2021. Originaltext: Vice President Kamala Harris greets German Chancellor Angela Merkel Thursday, July 15, 2021, at the Vice President’s Residence in Washington, D.C. (Official White House Photo by Lawrence Jackson)

 

„Schau dich um. Denk nach“, gab ihre Mutter Kamala auf den Weg: Aufgeben gilt nicht.  Doch selbst die Kämpferin stößt an Grenzen. Ihre geliebte Mutter, die Krebsforscherin, erliegt 2009 genau der Krankheit. Sie studiert Jura, stürzt sich in Arbeit. Als erste schwarze Bezirksstaatsanwältin kämpft sie gegen eine „kaputte Strafjustiz“, mit Willkür und Rassismus.  Sie ermittelt wegen Mord, Menschenschmuggel, Hassverbrechen, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Schulschwänzer, Bankenopfer, betrogene Studenten (Corinthian Colleges) kriminelle Banden. Sie kämpft für Zuwanderer, Frauen und Senioren, gegen Abschiebung von Einwandererkindern. Und sie macht Karriere, an der Seite des zuweilen senilen Joe Biden bis hinauf ins Weiße Haus.

 

Kamala Harris als Bezirksstaatsanwältin. Spitzname: „Top-Cop“. 2014 anlässlich der Feier „50 Jahre Civil Rights Act“.

 

„Ich bin überzeugt, dass es kein stärkeres Mittel gegen das Gift unserer Zeit gibt als gegenseitiges Vertrauen.“ So verspricht sie für ihre Vizepräsidentschaft gegen Masseninhaftierungen, Pharmakonzerne, Kredithaie und die Leugnung des Klimawandels vorzugehen. In ihren ersten Amtsjahren reibt sie sich jedoch eher an der Reform des Wahlrechts auf, achtet als Vize penibel darauf, nicht die Kreise des Chefs, des Präsidenten zu stören. Auffällig: Für die Linken ist sie nicht „schwarz“ und progressiv genug, für die Rechten ist sie als People of Colour im Weißen Haus eine tägliche Provokation. Demnächst hält Joe Biden zur Halbzeitbilanz seine Rede zur Lage der Nation. Kamala Harris steht an seiner Seite, lächelt routiniert und kontrolliert. Nicht mehr unbefangen, selbstbewusst und fröhlich wie früher. Ist das der Preis der Macht?

 

Im Hause Harris eine Hymne. Aretha Franklins: Young, gifted and black.