Südafrika. „An den Klippen spazieren gehen“, das ist das Lebensmotto von Ruth Weiss.

„Be a Mensch“

Sei ein Mensch, meinte einmal Hollywood-Regisseur Billy Wilder. Das zählt. Sonst nichts. So ein Mensch ist Ruth Weiss, 98 Jahre jung. Mit Kopfhörern und voller Elan gibt sie per skype ein Videointerview zum Reichstagsbrand. Ruth spricht ein wunderbares Thomas-Mann-Deutsch. Klar und deutlich, die Sprache ein wenig altmodisch, aber detailgenau und auf dem Punkt. Ihr Jahrhundertleben beginnt im Juli 1924. Das Elternhaus steht in Fürth, in der Theaterstraße. Die Eltern sind Kaufleute. Die kleine Ruth Löwenthal erlebt eine unbeschwerte Kindheit, wird mit „Wärme, Liebe und Geborgenheit“ groß, bis die Nazis an die Macht kommen. Da ist sie acht Jahre alt: „Ich ging um die Ecke, und da stand er vor mir, mit der Peitsche in der Hand: Julius Streicher.“  Der Mann mit der Peitsche ist der Gauleiter von Mittelfranken (Nürnberg/Fürth) und ein NS-Scharfmacher. In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage.

 

Ruth Weiss (2022) Seit 2020 Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Foto: CC BY-SA 4.0

 

1936, im Jahr der Olympischen Spiele können die Löwenthals nach Südafrika fliehen. Hier gehören sie zu den insgesamt rund sechstausend deutschen Juden. Ruth schließt sich als Teenager der „Unabhängigen Kulturvereinigung“ an, einem deutscher Exil-Club.  Dort lernt sie Hans Leopold Weiss (1909-1989) kennen, einen liberalen Intellektuellen, gleichfalls heimatlos wie sie. In jungen Jahren war Weiss in die KPD ein- und im Pariser Exil wieder ausgetreten. Als 24-jähriger Redakteur beim Berliner Tageblatt (Leitung Chefredakteur Theodor Wolff) sieht er als Augenzeuge wie der Reichstag brennt. Der Himmel über Berlin verfärbt sich blutrot, die Kuppel explodiert. Im dunklen Gebäude riecht es nach Benzin. Die Massenverfolgungen beginnen. Der damals 24-jährige Hans flüchtet Hals über Kopf nach Prag, bevor er über Frankreich nach Südafrika auswandert. Seine Rettung.

 

Ruth Weiss zwischen Alexander Mayer und Andrei S. Markovits vor ihrem Geburtshaus in Fürth. (Juli 2022) Foto: CC BY-SA 4.0

 

Ruth und Hans heiraten in Südafrika. Sie nimmt seinen Namen Weiss an. Ruth veröffentlicht als „Hans Weiss“ erste Artikel, so bleibt sie die „graue Maus“ im Hintergrund. „Er füllte mein Leben, glücklich war ich nie.“  Ruth beginnt sich zu lösen. „Wir trennten uns nach einigen Jahren wieder. Er wollte immer den deutschen Pass behalten.“ Ruth geht eigene Wege. Sie beginnt in einer Versicherungsgesellschaft, macht erste Schritte als Wirtschaftsredakteurin. Sie hat Talent. Und Ausdauer. Bald berichtet sie für den renommierten Guardian und die Deutsche Welle aus Afrika. Ihre zweite Heimat Südafrika jedoch bleibt für sie ein absurdes Land. Sie streitet gegen die Apartheid, gerät in den 60er Jahren rasch auf die „Schwarze Liste“, wird zur Persona non grata erklärt und ausgewiesen. Erst mit dem Amtsantritt von Nelson Mandela 1991 wird sie wieder von den Fahndungslisten gestrichen. Einmal erlebte sie den Anti-Apartheid-Führer, in der Küche einer Freundin, die mit ihm im Untergrund zusammenarbeitete: Da saß er am Küchentisch, „vor sich einen dampfenden Teller. Er lachte uns an. Nelson Mandela.“

 

 

Dreimal in ihrem Leben wurde Ruth Weiss ausgewiesen. Aus Deutschland, aus Südafrika und aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Warum? Weil sie sich als linke Jüdin nicht den Mund verbieten ließ. Ob gelber Stern oder schwarze Hautfarbe, sie hat sich in Afrika engagiert „wie dies nur sehr wenige Weiße getan haben“, schrieb Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer im Nachwort zu ihrer Autobiografie „Wege im harten Gras“ (1994). Mittlerweile hat die unermüdliche Autorin ihre siebenbändige Familiengeschichte Die Löws. Eine jüdische Familiensaga in Deutschland, vollendet. Ruth lebt heute in Dänemark. Als wir unseren Videocall zum Reichstagsbrand beendet haben, fragt sie noch: „Können Sie damit etwas anfangen?“ Und wie. Ruth Weiss ist ein Mensch, und was für einer. Eine Jahrhundertfrau, die etwas zu sagen hat. Ein Glück, dass es sie gibt. Im Juli wird sie 99.

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