Israel: Putsch oder Paranoia?

„Achtung, Oberlehrer!“ In Fragen wie Menschenrechte, Klimawandel oder gesunde Ernährung schwingen wir Deutschen gerne den Zeigefinger. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Diese Moral-Keule kommt keineswegs überall gut an. Siehe Katar, Polen oder … Israel. Israelkritik? Schwierig. Der deutsche Stresstest schlechthin. Wer wie ich in Israel war, ist von diesem kleinen Land mit der großen Geschichte fasziniert wie verwirrt zugleich. Jerusalem, Klagemauer, al Aksa-Moschee, Grabeskirche, Yad Vashem. Bethlehem, See Genezareth, Tel Aviv, Checkpoints, Mauern, Ramallah, Gaza. Auf engstem Raum knallen Glaube, Liebe, Hoffnung aufeinander, duellieren sich Ressentiments und blanker Hass. Als ich mit einer deutschen Gruppe die Gedenkstätte Yad Vashem verließ, sagte unser israelischer Reiseleiter: „Ihren Schäferhund haben sie besser behandelt. Das werden wir Euch nie vergessen.“

 

In der Altstadt von Jerusalem. Foto: Waldemar_RU

 

„Das war doch nicht ich, auch nicht meine Eltern“, murmelte ich, meine Gedanken behielt ich für mich. Aber Ackermann, so der Spitzname unseres Schwejk`schen Begleiters bemerkte meinen zweifelnden Blick. „Weißt Du was? Schweigen ist Zustimmung. Gleichgültigkeit ist ein scharfes Schwert.“ Punkt. Das saß. „Aufsitzen zum nächsten Ziel“, rief er unserer schweigenden Gruppe zu. „Ich zeige Euch jetzt, wo es in dieser gottverdammten Stadt die beste arabische Falafel gibt.“ Das war vor langer Zeit, ein paar Jahre nach der deutschen Einheit, als unser Land wieder groß geworden war. Die Lage in Jerusalem ist in diesen Tagen einmal mehr scharf wie eine Rasierklinge, an der man sich leicht verletzen kann. Israel mit seinen neun Millionen Menschen ist aufgewühlt. Juden, israelische Araber und Christen, Regierungsanhänger und Gegner streiten um eine Justizreform. Und wie!

 

Jerusalem. Stadt der drei Religionen. Ein Ort voller Geschichte und Konflikte. Foto: rquevenco

 

Großdemonstrationen, Straßenblockaden und angedrohte Befehlsverweigerung durch Eliteoffiziere, Kampfjetpiloten und sogar Generäle erschüttern seit Monaten das Land. Die Regierung Netanjahu will die Justiz reformieren, damit „endlich die schweigende Mehrheit“ entscheiden könne. Demnach soll die einfache Mehrheit des Parlaments (Knesset) Entscheidungen des Obersten Gerichts außer Kraft setzen können. Benjamin „Bibi“ Netanjahus Koalition aus national-konservativen Likud, den religiösen Ultraorthodoxen und 14 Abgeordneten des Religiösen Zionismus wollen mit ihrem Gesetz die Herrschaft der „liberalen Elite“, verkörpert durch das Hohe Gericht, abschaffen. Es sind ähnliche Konflikte wie in Polen, Ungarn oder auch in der Türkei. Entmachtung der Demokratie durch „Reformen“ wie einst beim „NS-Ermächtigungsgesetz“, protestieren Kritiker. Tausend israelische Intellektuelle haben in einem Aufruf Alarm geschlagen.

 

Seit fast drei Monaten demonstrieren Zehntausende jeden Samstag in Israel gegen die Justizreform. Eine Gruppe von Frauen in den Kostümen der Fernsehserie „The Handmaid’s Tale“ in Tel Aviv. Bild: AFP

 

Dazu Schweigen? Geht nicht. Besser als belehren aber ist zuhören. Daher folgen einige Passagen aus einem Text des israelischen Historikers Yuval Noah Harari („Eine kurze Geschichte der Menschheit“), die bedenkenswert sind. „Das ist keine Rechtsreform – es ist ein Staatstreich“, schreibt Harari und weiter:

„Historisch betrachtet gibt es vor allem zwei Arten von Staatsstreichen. Die eine ist der „Putsch von unten“, und sie ist leicht zu erkennen: Der machthungrige General Strongman zum Beispiel beschließt, die Kontrolle in einer Bananenrepublik an sich zu reißen. Eines Morgens wachen die Bürger auf und sehen Panzer auf den Straßen der Hauptstadt. Ein Panzerbataillon umstellt das Parlament und feuert Granaten auf das elegante Marmorgebäude. Eine Kompanie von Fallschirmjägern stürmt das Haus des Premierministers, legt ihm Handschellen an und sperrt ihn in ein Militärgefängnis.

In der Zwischenzeit beschlagnahmt eine zweite Fallschirmjägerkompanie die zentrale Rundfunkstation. Um acht Uhr morgens schalten die verängstigten Bürger ihre Fernsehgeräte ein. Dort verkündet der mit goldenen Orden schwer dekorierte General Strongman mit gebieterischer Stimme, er ergreife hiermit „zum Wohle des Volkes“ die Macht im Land.

So etwas schwebt uns vor, wenn wir an einen Staatsstreich denken. Aber es gibt noch eine andere Sorte, für die es in der Geschichte zahlreiche Beispiele gibt: den „Putsch von oben“. Er ist weniger leicht zu erkennen.

Mit einem solchen Staatsstreich hat man es zu tun, wenn eine Regierung, die auf ganz legale Weise gewählt wurde, gegen die ihr vom Gesetz auferlegten Beschränkungen verstößt und versucht, unbegrenzte Macht zu erlangen. Das ist ein alter Trick: Erst das Gesetz nutzen, um Macht zu erlangen, dann die Macht nutzen, um das Gesetz bis zur Unkenntlichkeit zu verdrehen.

Die Regierung spricht von Reformen „zum Wohle des Volkes“.

 

Yuval Noah Harari. „Das ist keine Rechtsreform – es ist ein Staatstreich“.

 

Ein Putsch von oben kann eine sehr verwirrende Erfahrung sein. Auf den ersten Blick fühlt sich alles normal an. Es rollen keine Panzer auf den Straßen. Kein General mit einer vor Orden strotzenden Uniform unterbricht das Fernsehprogramm. Der Staatsstreich findet hinter verschlossenen Türen statt. Dort werden Gesetze verabschiedet und Dekrete unterzeichnet, welche die Regierung von jeder Einschränkung befreien und sämtliche Kontrollmechanismen außer Kraft setzen. Natürlich verkündet die Regierung den Staatsstreich nicht offiziell. Sie behauptet lediglich, sie führe nun einige dringend notwendige Reformen „zum Wohle des Volkes“ ein. Woran können wir nun erkennen, ob das, was derzeit in Israel vor sich geht, wirklich eine Reform ist, oder doch ein Staatsstreich? Der einfachste Test ist folgende Frage: Sind der Macht der Regierung noch Grenzen gesetzt? (…)

Ob ein Bataillon oder ein Gesetz den Staat dem Herrscher unterwirft, spielt keine Rolle Fragt man die Putschisten geradeheraus, was die Macht der Regierung unter den neuen Regelungen begrenzen wird, lautet die einzige Antwort: „Unsere wohlwollende Haltung. Vertraut uns.“ Die klassische Antwort jedes Diktators. Auch General Strongman erklärt nach der Machtübernahme mit Hilfe eines Panzerbataillons in seiner Rede an die Nation: „Vertraut mir. Ich werde euch beschützen. Ich werde für euch sorgen.“

 

 

Der ganze Essay von Yuval Noah Harari erschien am 16. März 2023 in der Süddeutschen Zeitung. Die Regierung Benjamin Netanjahu plant mit ihrer Mehrheit das neue Justiz-Gesetz Anfang April zu verabschieden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.