Wenn das Volk nicht mehr will

Es war, als würde ein Funke in ein Benzinfass fallen. Hunderttausende Menschen erhoben sich in der DDR innerhalb weniger Stunden. Arbeiter streikten am 17. Juni 1953 gegen ihre Arbeiterregierung. Aus über 700 Orten wurden Proteste gemeldet. Auslöser war die im April 1953 beschlossene zehnprozentige Normerhöhung. Doch die Ursachen für die Revolte lagen tiefer. Der Aufbau der DDR führte zu Wirtschaftskrisen, Mangelwirtschaft und allgemeiner Unzufriedenheit. Preise wurden erhöht, viele Waren gab es nur gegen Marken, waren unbezahlbar oder Mangelware. Die Verfolgung „objektiver Feinde des Aufbaus“ wie Unternehmer, Junge Gemeinden oder Andersdenkende mit Hilfe von Gummiparagraphen wie Boykotthetze füllte Gefängnisse. Zwischen Juni 1952 und Mai 1953 stieg die Zahl der Häftlinge in der DDR von 37.000 auf über 65.000 – eine der Hauptursachen für den Aufstand am 17. Juni 1953.

 

DDR 1953. Das Versprechen: Mit Marx in eine bessere Zukunft. Die Realität sah anders aus.

 

Hundertausende stimmten mit den Füßen ab, flüchteten aus Angst vor Verfolgung oder Enteignung in den Westen. Das Konstrukt Sozialismus in den Farben der DDR war nach wenigen Jahren am Ende. Moskau ließ seine Panzer von der Kette. In der offiziellen SED-Lesart war daher stets die Rede vom „faschistischen Putschversuch“, von bezahlten Agenten und Saboteuren aus dem Westen. Zum großen von Bert Brecht geforderten Gespräch zwischen Regierung und Volk hingegen kam es  nie – bis zum Untergang des Regimes 1989.

 

17. Juni 1953. Ausnahmezustand ab 13 Uhr. Die Revolte wurde niedergewalzt. Verhaftungen setzten ein. Regierung und Volk hatten sich nichts mehr zu sagen.

 

Der damals elfjährige Günter Töpfer wird am Vormittag des 17. Juni 1953 von der Lehrerin nach Hause geschickt. Doch der Schüler aus Jena ist neugierig und streift mit seinem Rad durch die Innenstadt. Er sieht, wie das Gefängnis gestürmt und Gefangene befreit werden. Er ist dabei, als FDJ-Kreisleitung, Gewerkschaftshaus und SED-Zentrale besetzt werden. Papiere, Schreibmaschinen und Gewehre fliegen aus den Fenstern. Beinahe wird Töpfer von einem Stalin-Bild getroffen. Der Junge erlebt, wie eine Frau Gewehre aus der SED-Kreisleitung an einem Gully zerbricht und unbrauchbar macht. Am frühen Nachmittag rollen sowjetische Panzer durch Jena und treiben rund 20.000 Menschen auseinander. Töpfer steht unmittelbar neben einem Panzer, als ein sowjetischer Offizier über die Köpfe der Menge hinweg Warnschüsse abgibt. Wenig später bricht der Aufstand in Jena zusammen. Dennoch bleibt der 17. Juni 1953 für den Bauingenieur ein Meilenstein auf dem Weg zum Fall der Mauer am 9. November 1989. Der Volksaufstand sei zwar gescheitert, aber nicht vergeblich gewesen, sagt der heute 81-jährigen Zeitzeuge.

 

Jena, 17. Juni 1953 gegen 14 Uhr. Sowjetische Panzer fahren in die 20.000-köpfige Menge. Quelle: Stadtarchiv Jena

 

Lutz Rackow ist damals 21 Jahre alt. Als Jungredakteur vom Ost-Berliner „Morgen“ erfährt er am Morgen des 16. Juni 1953 von seinem Bruder über wilde Streiks an der Stalinallee. Er setzt sich ohne Auftrag aus der Redaktion sofort auf sein Motorrad und folgt dem Protestzug durch Ost-Berlin. Die Arbeiter rufen: „Berliner reiht euch ein, wir wollen keine Arbeitssklaven sein“. Die Menge zieht zum Haus der Ministerien. Die Arbeiter wollen mit der Staatsführung über die Rücknahme der Normen verhandeln, doch SED-Politiker gehen auf Tauchstation. Von einem Baugerüst beobachtet Rackow die vielköpfige Protestversammlung, sieht an Brechts Berliner Ensemble einen umgestürzten Lautsprecherwagen Er ist dabei, als am Ostberliner Polizeipräsidium Gefangene befreit werden. Rackow geht am nächsten Morgen, am Mittwoch, den 17. Juni früh um sieben zum Strausberger Platz. Dort verhindert Kasernierte Volkspolizei der DDR einen geplanten Aufmarsch der Unzufriedenen. Als am Mittag rund 600 sowjetische Panzer Richtung Brandenburger Tor rollen, beobachtet Rackow das dramatische Geschehen vom Dach seiner Redaktion in der Ost-Berliner Taubenstraße. „Da war es vorbei“, meint Rackow. Über zehntausend DDR-Bürger werden verhaftet. Mindestens 55 Menschen kommen ums Leben. Der 91-jährige Zeitzeuge sagt heute, er empfinde diesen Tag dennoch als „Sieg und nicht als Niederlage“. Der 17. Juni habe der Welt gezeigt, dass die SED mit der Bevölkerung nicht einfach machen konnte, was sie wollte.

 

SED-Volkswacht (Jena) vom 18. Juni 1953. „Zusammenbruch des Abenteuers ausländischer Agenten in Berlin“. ´Quelle: Stadtarchiv Jena

 

Der 17. Juni 1953 war ein Trauma für die Arbeiter- und Bauernregierung. Die SED-Spitze beschloss, Geheimdienst und Sicherheitsapparat massiv aufzurüsten. Bis 1989 hielt das SED-Regime, dann implodierte der SED-Sozialismus, weil Michail Gorbatschow keine Panzer mehr schickte.

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