Miteinander reden?
Die Republik ist in der Krise. Die Demokratie in Gefahr. Bei den letzten Wahlen verliert die regierende SPD deutlich Wählerstimmen. Ihre wankelmütige Vierer-Koalition war nach nur zwei Jahren auseinandergebrochen. Die Rechten feiern einen überwältigenden Aufschwung. Ihr Anteil schnellt hoch: von 2,6% auf 18,3% Zustimmung. Ein Plus von 15,7%. Achtung! Es handelt sich um den 18. September 1930. In Berlin wie in der gesamten Republik ist die Stimmung aufgeheizt. Ende Oktober 1930 organisiert der österreichische Dramaturg Arnolt Bronnen ein brisantes Radiogespräch für die „Berliner Funkstunde“. Thema: „Nationale und Internationale Kunst“. Der berühmte Theatermacher und überzeugte Kommunist Erwin Piscator soll sich mit dem ehrgeizigen NS-Demagogen Joseph Goebbels zu einem Streitgespräch treffen.
Beide Männer sind misstrauisch. Ein Vorgespräch wird vereinbart. Das auf fünfzehn Minuten anberaumte Treffen dauert am Ende mehrere Stunden. Es geht um Schiller und Goethe, um Mozarts Musik. Heftig diskutiert wird die Frage, ob Kunst „national“ (Goebbels) oder „international“ (Piscator) ausgerichtet zu sein habe. So jedenfalls ist es in einem Protokoll nachzulesen, das Goebbels später verfasst. In seinem Tagebuch notiert G.: »Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne. Dabei persönlich ein angenehmer und sauberer Bursche. Es war sehr amüsant und die ganze Bronzerie des Rundfunks hat gespannt zugelauscht.«
Die Kontrahenten kommen auf keinen gemeinsamen Nenner. Piscator seinerseits notiert, im anderen „ein Menschengesicht“ zu erkennen, „trotz des widerborstigen inneren Widerspruchs, trotz Unbehagen, Abwehr, physischer Widerwärtigkeit. Er gefiel mir plötzlich mehr, als er mir missfiel, er missfiel mir weniger, als er mir gefiel. Mir schien, wir beide kamen uns vor wie zwei sagenhafte aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die, über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren.“
Zum Zeitpunkt ihres bizarren Treffens ist Goebbels Gauleiter der NSDAP für Berlin. Der Mann fürs Grobe, der begnadete Hetzer („Alle Parteien haben das Volk belogen und betrogen“). Seit dem NS-Wahlerfolg sucht er auffallend Kontakt zu Künstlern und Intellektuellen, um gemäßigt und wählbar zu wirken. Piscator fühlt sich getäuscht, als ihm später Goebbels Protokoll vorgelegt wurde: »Er hatte alle meine grundsätzlichen Argumente sich selbst zu eigen gemacht, so als ob er sie erfunden und zugleich widerlegt hätte.«
Nach der legendenumwobenen Begegnung im Berliner Rundfunk, so eine weitere Anekdote, fragt Goebbels. „Piscator, wollen wir zusammen essen gehen?“ Der Angesprochene setzt sein charmantestes Lächeln auf: „Aber ich gehe doch nicht mit Ihnen über die Straße, Herr Dr. Goebbels!“ Ach, ja. Die Sendung fand nie statt. Dennoch gibt es eine Fortsetzung, ein letztes Kapitel: Goebbels bittet den großen Theatermann im Frühjahr 1935 aus seinem Moskauer Exil zurückzukehren. »Ich käme gerne zurück«, lässt Piscator ausrichten, »und zwar sofort — wenn er nicht mehr da wäre.«