An der Grenze
Kann Kino die Welt verändern? Ja, manchmal für ein paar heitere Stunden. Ganz selten kann ein Film eine Gesellschaft aufrütteln oder ein ganzes System von Gewissheiten durchschütteln. Das ist Zielona Granica (Green Border) gelungen. Es ist der neue Spielfilm von Agnieszka Holland, der großen alten Dame des Kinos. Zweieinhalb Stunden emotionales Kino, genauer und aufwühlender als die meisten TV-Dokus oder Internetschnipsel zusammen. Wie alle großen Würfe ist die polnische Produktion Green Border höchst umstritten: Machwerk für die einen, Meisterwerk für andere. Bei den Filmfestspielen von Venedig 2023 mit Preisen überschüttet, in Polen attackiert und von der damaligen Regierung als NS-Propaganda diffamiert.
Die Geschichte spielt im Beloweschen Wald, einem der letzten Urwälder Europas an der belorussisch-polnischen Grenze. Im Sommer 2021 organisierten Putin und Lukaschenko eine Route für Armutsflüchtlinge aus aller Welt, schleusten Abertausende Menschen aus aller Welt, um sie als Waffe gen Westen zu schicken. Die überforderten polnische Grenzer schickten auf Geheiß ihrer nationalkonservativen PIS-Regierung die Menschen postwendend zurück. Die Folge: Brutale Push-Backs an der EU-Außengrenze, in Einzelfällen bis zu fünf- oder sechs Mal. Die gesamte Grenzregion wurde militarisiert. Eine Sperrzone errichtet. Flüchtlinge wurden hin- und hergetrieben, abgeschnitten von jeder Hilfe. Der Alltag: Tritte, Schläge, Schusswaffengebrauch, Pfefferspray, Ausziehen bei Leibesvisitationen, Verletzungen, Unterkühlung, Erfrieren. Bisher wurden 55 Tote registriert, über dreihundert Menschen gelten bis heute als vermisst. Die NGO-Hilfsorganisation „Grupa Granica“ konnte rund zehntausend Menschen in Not helfen. Mittlerweile hat Polen für vierhundert Millionen Dollar einen nahezu unüberwindbaren fünf Meter hohen Zaun gebaut.
„Die Realität an der Grenze ist härter als im Film, das Drama da draußen ist noch größer“, sagt die polnische Journalistin Anna Alboth. „Wie in jeder Gesellschaft gibt es diejenigen, die Leben retten, und diejenigen, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmern.“ Regisseurin Agnieszka Holland erzählt das Flüchtlingsdrama in ihrem Heimatland aus verschiedenen Perspektiven. Da sind: Bashir und Amina, sowie deren syrische Familie, die vor Krieg und Willkür nach Schweden flüchten. Jan, der sensible Grenzschützer. Seine Frau ist schwanger. Er baut ein Haus und will seinen Job nicht verlieren. Julia, die erschöpfte Psychotherapeutin. Sie will sich an ihrem Feriensitz neu erfinden, gerät in den Strudel der Ereignisse und entscheidet sich zu helfen.
Die vielfach ausgezeichnete 75-jährige Agnieszka Holland sagte bei der Premiere in Berlin, sie könne keine Dokus machen. Deshalb die Geschichte als Fiktion. Was ein Glück! Gerade der Spielfilm entwickelt die Kraft, hinter Mauern von Vorurteilen und Klischees zu schauen: Wer sind die Geflüchteten? Die Grenzer? Die Helfer? Der Film differenziert und holt ein Stück Wirklichkeit aus dem Hinterhof Europas auf die Leinwand. Regisseurin Holland: „Wir dürfen unsere Menschlichkeit nicht verlieren. Die Schutzimpfung durch den Holocaust hat an Wirkung verloren.“ Ihr Film hat eine Menge bewegt. Er war der zweiterfolgreichste Streifen des letzten Jahres in Polen, er löste leidenschaftliche Debatten aus, die Jarosław Kaczyński-Regierung wurde abgewählt. Jetzt läuft Green Border in Deutschland. Agnieszka Holland: „Europa hat Angst. Wir haben keine Antworten auf Krieg, Klimakrise und Migration. Die einzige Antwort sind Mauern.“