Tanz den Hotzenplotz
Er ist ein Räuber, kennt keine Gnade. Na, ja! Manchmal schon. Der Mann mit dem Donnernamen Hotzenplotz nimmt sich, was er begehrt. Sogar Großmutters Kaffeemühle, die beim Kurbeln so schön „Alles neu macht der Mai“ spielt. Kasperl und Seppel ziehen los, um dem breitbeinigen Räuberhauptmann mit Schlapphut, Feder und Pistole das Handwerk zu legen. Gemeinsam mit Wachtmeister Dimpfelmoser und Zauberer Petrosilius Zwackelmann triumphieren sie am Ende im Namen der Gerechtigkeit. Happy End! Wie schön. Als Babyboomer habe ich den Räuber Hotzenplotz geliebt. Ausgedacht hat sich diese Geschichte ein gemütlicher Mann mit vertrauensvoller Stimme: Otfried Preußler. Mit seiner „Der-Die-Das-Trilogie“ – Der Räuber Hotzenplotz (1962; Trilogie), Die kleine Hexe und Das Kleine Gespenst verkaufte er über 15 Millionen Bücher in 55 Sprachen und 275 Übersetzungen. Natürlich verschlang ich auch Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, Pippi Langstrumpf, Kater Mikesch, Emil und die Detektive, Krabat, Momo…
Kinder brauchen Geschichten, steht auf dem Grabstein von Otfried Preußler. Hochgeehrt verließ der Autor neunzigjährig unseren Planeten. Er hinterließ Bücher, Filme und bei Kindern viele Erinnerungen. 22 Schulen tragen seinen Namen. Eine, die Otfried-Preußler-Schule in Pullach, will nun seinen Namen ablegen. Grund sei die verschwiegene NS-Vergangenheit des Kinderbuchautors. Er könne kein Vorbild mehr sein. Eine „große Mehrheit“ der Schüler-, Lehrer- und Elternschaft habe laut Schuldirektor nach fünfjähriger Debatte die Umbenennung beschlossen. Potzblitz, würde der Räuberhauptmann sagen: Preußler – ein Betrüger? Das geht auf keine Kuhhaut.
Wer war Otfried Preußler? Geboren 1923 in Reichenbach, Sudetenland. Heute Liberec, Tschechische Republik. Geburtsname: Syrowatka. Seine Oma erzählt wunderbare böhmische Geschichten. Als Jugendlicher verfällt er „dem braunen Hexer“, wie er selbst schreibt. Preußler wird HJ-Oberjungführer. Mit siebzehn schreibt er 1940 seinen ersten Roman „Erntelager Geyer“ Der Text über Pimpfe, Lagefeuer und Kameradschaft wird 1944 veröffentlicht. Mit achtzehn tritt er in die NSDAP ein, wenig später kämpft er als Kompanieführer an der Ostfront, erhält das Eiserne Kreuz II. Klasse. 1944 gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Typhus, Malaria und Fleckfieber überlebt er in seiner fünfjährigen Gefangenschaft wie durch ein Wunder nur dank einer russischen Ärztin. Abgemagert auf vierzig Kilo verfasst er im Lager Gedichte und kriegskritische Theaterstücke. Er sagt, er sei dem falschen Führer gefolgt.
Neuanfang 1949 im bayrischen Rosenheim. Das Land liegt noch in Trümmern. Seine neue Heimat wird der Chiemgau. Bis 1970 arbeitet er als Volksschullehrer in Klassen mit bis zu 52 Kindern. Generationen von Schülern folgen begeistert seinen Geschichten, die er gerne im Unterricht erzählt. Denn: Langweilig darf es nicht sein. Nebenbei veröffentlicht er im Bayrischen Rundfunk. Fleißig füttert Preußler in diesen Jahren „das große gefräßige Tier“, seinen Papierkorb. Darin verschwindet auch seine Hitler-Zeit, wie bei den meisten Nachkriegsdeutschen. Nur einmal erwähnt Preußler das Erntelager-Buch in einem Brief an die Künstlergilde Esslingen. Ein ganzes Jahrzehnt feilt Preußler an seinem Jugendroman Krabat. Die Geschichte eines vierzehnjährigen sorbischen Waisenjungen. Der Müllerbursche in der Oberlausitz lehnt sich im Großen Nordischen Krieg gegen seinen Meister auf. Preußler: „Mein Krabat ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ Das 1971 erschienene Buch wird ein Bestseller.
Nach Preußlers Tod 2013 mehren sich kritische Stimmen. Dem „Märchenonkel“ werden Hang zu starken Autoritäten und eine heile Welt vorgeworfen. Eine Medienexpertin stört, „dass er einen Standpunkt vertritt, der eigentlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.“ Schlechte Zeiten für Märchen aus früheren Zeiten? Preußler ergeht es nun wie Astrid Lindgren, Michael Ende (Jim Knopf), Erich Kästner oder Hans Fallada. Der Zeitgeist wirft ihnen falsche Begriffe vor. Die hypersensible Social-Media-Community legt Wert auf Achtsamkeit, Reinheit und Tugendhaftigkeit. Sensitive Reading ist das neue Zauberwort. Der Zeitgeist der Nachgeborenen kommt offenbar mit widersprüchlichen und wandelbaren Menschen nicht mehr klar.
„Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt“, notierte Aufklärer Immanuel Kant aus Königsberg. Auch er gilt als kontaminiert. Er sei ein Rassist, lautet der Vorwurf. Was heißt das? Muss dann Günter Grass, der seine Zeit als Heranwachsender in der Waffen-SS lange verschwiegen hat, nicht posthum der Nobelpreis aberkannt werden? Ist Otfried Preußler mit seiner NS-Jugendschwärmerei heute untragbar? Und: Gibt es lupenreine Biografien, unbefleckte Lebensläufe? Sollen „gefährliche Stellen“ ausgetauscht und entschärft werden, damit dadurch „zeitgemäße, korrekte“ Literatur entsteht? Wer entscheidet das?
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Mein Vater und mein Schwiegervater (beide Jahrgang 1928) waren als Flakhelfer an der Front. Beide gerieten sechzehnjährig in Gefangenschaft. Der eine einige Monate in Frankreich in einem ehemaligen deutschen KZ, der andere drei Jahre lang an der Wolga in sowjetischen Lagern. Diese Erfahrung hat ihr Leben geprägt – bis zuletzt.