Flüchtlingslager Moria/Lesbos

Hinterm Zaun

Der siebzehnjährige Yaser aus Afghanistan schafft es aus seiner Heimat über den Iran in die Türkei. Beim elften Versuch gelingt ihm die gefährliche Mittelmeer-Passage nach Griechenland. Der Junge, ein echter Filmfreak und Quentin Tarantino-Fan, landet auf Lesbos. Seine neue Heimat: Moria, 2020 das größte Flüchtlingslager der EU. Ausgelegt für dreitausend Menschen. Bis zu 22.000 Bewohner kampieren auf einem ehemaligen Militärgelände in glühender Sonne, umzäunt von Maschendraht. Der junge Afghane will Regisseur werden. Er hat Glück und ergattert einen Platz an der Filmschule im Lager. Das „ReFOCUS MediaLab“ wird von dem US-Dozenten Douglas und seiner Lebenspartnerin Sonia aus Polen geleitet. In dieser Filmschule lernt die Schauspielerin Katja Riemann unter anderem Yaser kennen.

Sechzehn Jahre lang war Riemann UNICEF-Botschafterin. Von 2020 bis 2023 bereiste sie nun Flüchtlingscamps wie Moria und Lipa (Bosnien-Herzegowina) oder Hotspots in Calais und in der spanischen Afrika-Enklave Ceuta. Orte, an denen niemand freiwillig ist. Schauplätze, die fast nur negativ in den News sind. Warum? Riemann: „Flüchtlinge sind zu allen Zeiten lästig“.

Katja Riemann. Bekannte Schauspielerin und „Reporterin“ im Auftrag der Menschlichkeit. Neues Buch: Zeit der Zäune. Orte der Flucht“.

 

Als „Reporterin ohne festen Auftrag“ erlebt die prominente Schauspielerin im Camp von Moria anrührende Gastfreundschaft. Sie wird im „Dschungel“ von mittelosen Familien mit Tee und Ashak bewirtet. Ashak sind mit Porree gefüllte Teigtaschen, dazu Bohnen und Minzsauce. „Wir wurden beschenkt von Menschen, die alles verloren hatten. Scham und Ohnmacht reichten sich die Hand.“ Sie lernt eine junge Frau aus Afghanistan kennen, die fließend Englisch spricht und ausgebildete Bankerin ist. Humor sei die stärkste Waffe, schreibt Riemann in ihrem neuen Buch „Zeit der Zäune“, nur so könne das Elend ertragen werden. Die Zeit in Lagern ist ein Leben im Interim, ein Hoffen und Bangen, der Wunsch nach Zukunft. Dieser Wartezustand interessiert Riemann. Über Hundert Millionen Menschen sind derzeit (UNHCR von 2022) auf der Flucht. So viele wie noch nie.

140 Millionen Euro hat die EU für neue Zäune in der spanischen Enklave Ceuta ausgegeben, so Riemann. Insgesamt drei Stacheldrahtverhaue wurden errichtet. „Todesstreifen“ mit eingebauten Push-Back-Türen. Die EU-Außengrenze sehe aus wie ein Hochsicherheitstrakt. „Humanitäre Arbeit ist ganz konkret“, betont die Schauspielerin. Oder doch eher kriminell? Helfen ist gefährlich. Unterstützer werden bedroht, schikaniert und kriminalisiert. Riemann: „Ich glaube, man sucht sich den schwächeren Feind. Es ist einfacher Volontäre, die Seenotrettung machen, oder Humanitäre, die Distribution für Flüchtende leisten, zusammenzuscheißen, vor Gericht zu ziehen und mit Hass zu überziehen.“

 

 

Griechenland beispielsweise klagt Aktivisten und Helfer wie Staatsfeinde an: Die Vorwürfe: „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Unterstützung von Menschenhandel, Beihilfe zur illegalen Einreise, Geldwäsche, Urkundenfälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage“. Bis zu zwanzig Jahre Haft drohen. Auch die Filmleute Douglas und Sonia bekommen den Druck zu spüren. Erst brennt ihre ReFocus-Filmschule für Studierende aus zwölf Nationen in Moria nieder, dann wird Douglas des Landes verwiesen. Sein „Exil“ hat der US-Amerikaner mittlerweile mit Sonia in Warschau bezogen. Dort erteilen die beiden weiter Online-Kurse für Geflüchtete.

 

 

Das 445-Seiten-Buch von Katja Riemann ist eine echte Überraschung. Sie sieht dort hin, wo die meisten wegschauen. Sie wagt einen vorurteilsfreien Blick hinter Zäune, die in unserem Namen errichtet werden. Sie spricht mit Beteiligten statt über sie. Vielen Namenlosen gibt sie eine Stimme. So findet Riemann den passenden Ton in einer Zeit, in der Europa sich massiv abschottet und Wutbürger lautstark eine viel härtere Gangart fordern. Ihre Reportage in die Hinterhöfe Europas ist keine Verklärung des Flüchtlingsdramas. Nüchtern stellt Katja Riemann fest: „Die Anzahl der Arschgeigen ist in jeder Gruppe gleich groß, auch unter Humanitären.“

Katja Riemann. Zeit der Zäune. Orte der Flucht. S. Fischer Verlag. 2024.

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