Mein erstes Mal

Frühe Morgenrunde durch den hochherrschaftlichen Schlosspark Neuhardenberg. Graue Wolken hängen tief über dem urpreußischen Anwesen nahe der deutsch-polnischen Grenze. Das Schlossensemble sieht aus, als wäre ein riesiges weißes Ufo mitten im märkischen Oderbruch gelandet. Ein Reiher lauert am Teich auf Beute. Ein paar Krähen krakeelen. Ansonsten: Stille, Friedfertigkeit, Harmonie. Einfach nur Durchatmen. Es sind meine ersten Stunden als frischgebackener Rentner. Ich bin einer von den vielen Babyboomern, die gerade den Ablauf ihrer Betriebszeit erleben. Plötzlich kreuzt ein kräftiger Landmann mit Muskelshirt und schwarzem Labrador-Schäferhund-Mischling meine Wege. Wir grüßen uns freundlich.

 

Neuhardenberg. Die Schinkelkirche. Ort für Konzerte, Lesungen, Kultur. Knapp zwei Autostunden östlich von Berlin.

 

Wir kommen ins Gespräch. Er drehe hier im Park regelmäßig seine Runden, zwischen Schloss, Eichen und Rotbuchen. Neuhardenberg habe sich prächtig entwickelt. Das gehöre hier alles der Sparkasse. „Gebaut mit unserem Geld.“ Wir lachen. Als er sein Haus finanzieren wollte, betont er, habe ihm die Sparkasse „das letzte Hemd ausziehen wollen“. Da habe er die Bank gewechselt. Diese Möglichkeit sei eine der wenigen Vorteile des „Westens“. Wir nähern uns im weitläufigen Park dem einstigen Hardenberg-Sitz mit mehreren Schlossflügeln und einer Schinkelkirche. Es werde heute nicht regnen, meint der Hundebesitzer fachmännisch, Petrus mache stets einen großen Bogen um Neuhardenberg. Warum? – Ganz einfach. Auf dem ehemaligen DDR-Regierungsflughafen befinde sich Europas größte Photovoltaikanlage. Die Abstrahlung, die Wärme! Der Mensch ruiniere die Natur.

 

Kit Armstrong. In Kalifornien geboren. Sohn einer Investmentbankerin aus Taiwan und eines Amerikaners. Seinen Vater hat er nie kennen gelernt. Mit fünf Jahren begann er mit dem Klavierspiel. Heute tritt Armstrong in den ersten Konzertsälen der Welt auf. Foto: Jean-Francois Mousseau

 

Was ich denn in Neuhardenberg mache, will er wissen. Ein schönes kurzes Wochenende verbringen, mit Freunden, Kultur und Musik, antworte ich. Ach so! Wer denn da sei, fragt er. Kit Armstrong, aber nicht der What-a-wonderful-World-Trompeter Louis Armstrong. Er schaut mich mit großen Augen an. Mein Armstrong sei ein junger, begnadeter Pianist, der in der Gutskirche auch Orgel gespielt habe. Die Journalistin Inge Kloepfer habe über das US-Wunderkind an den Tasten ein Buch geschrieben. „War´s gut?“ – Großartig. „Lustig. Sie kommen aus Berlin nach Neuhardenberg. Wir waren gestern in Berlin, in der Waldbühne. Sechs Stunden lang, bis der Rücken weh tat.“ Was gab´s? – „Na, Schlagerparade. War klasse.“ Wir verabschieden uns, gehen auf getrennten Wegen in den neuen Tag hinein.

 

 

Kit Armstrong hat fasziniert. Der 1992 in Los Angeles geborene Pianist glänzt an Klavier und Orgel mit Werken von Mozart, Bach, Liszt, William Byrd und einer Orgelsinfonie von Charles-Marie Widor, dem Lehrer von Albert Schweitzer. Im Gespräch mit Inge Kloepfer schwärmt der studierte Mathematiker von Bachs Kompositions-Fähigkeiten. In seinem C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier lasse Bach fünf Finger wie fünf lustige Gesellen auf den Tasten tanzen. Dazu der Kontrapunkt. „Genial“. Genau so interpretiert das „Jahrhunderttalent“ in der Kirche von Neuhardenberg Bachs fröhlichen Tanz aus fünf Tönen. Nach dem Konzert fragt er bei Spargel und Wein: „Was meint Ihr? Hat Bach Tomaten gekannt?“

 

 

Was für ein wunderschöner Einstieg in eine neue Zeit. Ruhestand genannt.

Inge Kloepfer. Kit Armstrong. Metamorphosen eines Wunderkinds. Piper. 2024.

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