Wenn Mauern fallen
Donnerstag, 9. November 1989. 11 Grad. Ein trüber Tag. Leichter Nieselregen. Wie jeden Tag fuhr ich morgens in die Redaktion. Abends war die Welt eine andere. So schnell kann es gehen, wenn ein System implodiert. Von heute auf morgen. Der 9. November 1989 vor 35 Jahren war ein Urknall. Friedlich, fröhlich und ohne Fanatismus. Ohne falsches Pathos, Hass und Blutvergießen. Tausende machten sich auf zur Grenze, stimmten mit den Füßen ab und … siegten. Am Brandenburger Tor und an vielen Grenzübergängen. Wenn es eine Lektion gibt, dann diese: Selbst höchste Mauern haben nur eine begrenzte Haltbarkeit. Die Berliner Befestigungsanlage stand genau 10.315 Tage. Dann war sie fällig.
In dieser Nacht der Nächte war ich als junger ZDF-Reporter in Berlin unterwegs. Nach der Ankündigung von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski kurz vor 19 Uhr, Reisen seien nun möglich … „nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“… passierte erst einmal nichts. Am Brandenburger Tor skandierten auf der Westseite ein paar Menschen lautstark: „Die Mauer muss weg“. Ansonsten war Normalität an den Grenzübergängen. Wir schickten die ersten Momentaufnahmen nach Mainz zum heute journal. Dann machten wir uns ein zweites Mal zum Brandenburger Tor auf. Kameramann Michael Koltermann, Assistent Hartmut Pauls und Lichttechniker Marco Mangelli. (Ja, so einen Kollegen gab es damals noch). Wir waren ohne Smartphone, Internet und LiveU unterwegs. Dafür mit offenen Augen, Herzklopfen und ungläubigem Staunen. Selten haben wir so viel Glanz in den Augen der Menschen gesehen.
Der 9. November 1989 einmal aus einer anderen Perspektive. DDR-Grenzer erzählen, wie sie die Nacht erlebt haben. Meine ZDF-Doku aus dem Jahre 2014.
Es war kein Einsatz wie jeder andere. Wir spürten das von Anfang an. Es lag etwas in der Luft. Wir erreichten gegen 23 Uhr das Brandenburger Tor. Dort hatten sich einige Hundert Menschen versammelt. Wir standen auf westlicher Seite an der Straße des 17. Juni. Über der äußeren Mauer baumelten Feuerwehrschläuche. Die Grenzer hatten zuvor erste Mauerstürmer mit kaltem Wasser abgewehrt.
Plötzlich stürmten erst einige, dann immer mehr junge Leute die sogenannte Panzermauer. Ich sah mit eigenen Augen, wie West-Berliner Polizisten die Erstürmung zu verhindern versuchten. Dann war alles großes Kino. Hunderte eroberten die Mauer, rissen die Arme hoch und jubelten. Wir kletterten mit und drehten alles.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Wir standen am Brandenburger Tor auf dem Bauwerk, das nach den Worten von SED-Chef Erich Honecker noch einhundert Jahre stehen sollte. Wir bewegten uns mitten auf der Mauer, die so viel Leid, Tränen und Tote gebracht hatte, die dieses Land so tief geteilt hatte. Auf der breiten Mauerkrone drängten DDR-Bürger vor unsere Kamera, wollten unbedingt etwas loswerden und diskutierten lebhaft das Für und Wider einer Einheit.
Überall ausgelassene, fröhliche, friedliche Menschen. Es wurden immer mehr. Sie kamen von überall her. Von Ost und West. Ein spontanes Volksfest. Kein Schuss fiel. Nur und ab und zu krächzte es aus Armee-Lautsprechern, „die Bürger“ sollten sofort die Staatsgrenze der DDR verlassen. Doch keiner reagierte. Das Grenzregime war am Ende und das Wort des 9. November 89 geboren: Wahnsinn. Der friedliche Verlauf war übrigens auch ein Verdienst der Grenzer. Unsere Bilder von der Erstürmung der Mauer am Brandenburger Tor sind vieltausendfach gezeigt worden.
Seriöse Journalisten sollen nüchtern und distanziert berichten. In diesen Stunden fiel das schwer. Meine Frau ist in der DDR aufgewachsen. Unsere Familien waren durch die Grenze getrennt. Ich spürte in dieser Nacht, dass sich eine einmalige Chance auftat. So war ich am 9. November 1989 nicht nur Reporter und Augenzeuge. Ich war dabei, als Geschichte geschrieben wurde. Was allerdings aus diesem Glücksfall wurde, ist eine andere Geschichte…
Berlin erinnert an den 35. Jahrestag des Mauerfalls am 8. und 9. November 2025 mit einer zweitägigen Party im Stadtzentrum entlang der ehemaligen Grenze. Hinzu kommen zahlreiche weitere Veranstaltungen. Motto: „Haltet die Freiheit hoch!“