Archive for : Oktober, 2024

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Wenn Mauern fallen

Donnerstag, 9. November 1989. 11 Grad. Ein trüber Tag. Leichter Nieselregen. Wie jeden Tag fuhr ich morgens in die Redaktion. Abends war die Welt eine andere. So schnell kann es gehen, wenn ein System implodiert. Von heute auf morgen. Der 9. November 1989 vor 35 Jahren war ein Urknall. Friedlich, fröhlich und ohne Fanatismus. Ohne falsches Pathos, Hass und Blutvergießen. Tausende machten sich auf zur Grenze, stimmten mit den Füßen ab und … siegten. Am Brandenburger Tor und an vielen Grenzübergängen. Wenn es eine Lektion gibt, dann diese: Selbst höchste Mauern haben nur eine begrenzte Haltbarkeit. Die Berliner Befestigungsanlage stand genau 10.315 Tage. Dann war sie fällig.

In dieser Nacht der Nächte war ich als junger ZDF-Reporter in Berlin unterwegs. Nach der Ankündigung von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski kurz vor 19 Uhr, Reisen seien nun möglich … „nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“…  passierte erst einmal nichts. Am Brandenburger Tor skandierten auf der Westseite ein paar Menschen lautstark: „Die Mauer muss weg“. Ansonsten war Normalität an den Grenzübergängen. Wir schickten die ersten Momentaufnahmen nach Mainz zum heute journal. Dann machten wir uns ein zweites Mal zum Brandenburger Tor auf. Kameramann Michael Koltermann, Assistent Hartmut Pauls und Lichttechniker Marco Mangelli. (Ja, so einen Kollegen gab es damals noch). Wir waren ohne Smartphone, Internet und LiveU unterwegs. Dafür mit offenen Augen, Herzklopfen und ungläubigem Staunen. Selten haben wir so viel Glanz in den Augen der Menschen gesehen.

 

 

Der 9. November 1989 einmal aus einer anderen Perspektive. DDR-Grenzer erzählen, wie sie die Nacht erlebt haben. Meine ZDF-Doku aus dem Jahre 2014.

 

Es war kein Einsatz wie jeder andere. Wir spürten das von Anfang an. Es lag etwas in der Luft. Wir erreichten gegen 23 Uhr das Brandenburger Tor. Dort hatten sich einige Hundert Menschen versammelt. Wir standen auf westlicher Seite an der Straße des 17. Juni. Über der äußeren Mauer baumelten Feuerwehrschläuche. Die Grenzer hatten zuvor erste Mauerstürmer mit kaltem Wasser abgewehrt.

Plötzlich stürmten erst einige, dann immer mehr junge Leute die sogenannte Panzermauer. Ich sah mit eigenen Augen, wie West-Berliner Polizisten die Erstürmung zu verhindern versuchten. Dann war alles großes Kino. Hunderte eroberten die Mauer, rissen die Arme hoch und jubelten. Wir kletterten mit und drehten alles.

 

Wer in dieser Nacht dabei war, wird sie nicht vergessen können. Das Brandenburger Tor in der Nacht zum 10. November 1989. Foto: Andreas Schoelzel

 

Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Wir standen am Brandenburger Tor auf dem Bauwerk, das nach den Worten von SED-Chef Erich Honecker noch einhundert Jahre stehen sollte. Wir bewegten uns mitten auf der Mauer, die so viel Leid, Tränen und Tote gebracht hatte, die dieses Land so tief geteilt hatte. Auf der breiten Mauerkrone drängten DDR-Bürger vor unsere Kamera, wollten unbedingt etwas loswerden und diskutierten lebhaft das Für und Wider einer Einheit.

Überall ausgelassene, fröhliche, friedliche Menschen. Es wurden immer mehr. Sie kamen von überall her. Von Ost und West. Ein spontanes Volksfest. Kein Schuss fiel. Nur und ab und zu krächzte es aus Armee-Lautsprechern, „die Bürger“ sollten sofort die Staatsgrenze der DDR verlassen. Doch keiner reagierte. Das Grenzregime war am Ende und das Wort des 9. November 89 geboren: Wahnsinn. Der friedliche Verlauf war übrigens auch ein Verdienst der Grenzer. Unsere Bilder von der Erstürmung der Mauer am Brandenburger Tor sind vieltausendfach gezeigt worden.

 

Mauergespräche am Brandenburger Tor mit Reporter (rechts) in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. Quelle: ZDF

 

Seriöse Journalisten sollen nüchtern und distanziert berichten. In diesen Stunden fiel das schwer. Meine Frau ist in der DDR aufgewachsen. Unsere Familien waren durch die Grenze getrennt. Ich spürte in dieser Nacht, dass sich eine einmalige Chance auftat. So war ich am 9. November 1989 nicht nur Reporter und Augenzeuge. Ich war dabei, als Geschichte geschrieben wurde. Was allerdings aus diesem Glücksfall wurde, ist eine andere Geschichte…

Berlin erinnert an den 35. Jahrestag des Mauerfalls am 8. und 9. November 2025 mit einer zweitägigen Party im Stadtzentrum entlang der ehemaligen Grenze. Hinzu kommen zahlreiche weitere Veranstaltungen. Motto: „Haltet die Freiheit hoch!“

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Im Auge der Aufklärung

Was sehen wir? Was erleben wir gerade? Eine aufgeklärte, vernunftbetonte Epoche? Oder überrollt uns in diesen Zeiten die Gegenaufklärung? Mit Desinformation, Manipulation und KI-gesteuerten Deep Fakes? Wer nach Antworten sucht, bleibt mit seinen Fragen oft allein. Es geht um das Menschheitsprojekt Aufklärung. Was hat sich seit den Zeiten von Immanuel Kant verbessert? Der Mann mit der Denkerstirn quält uns seit fast zweihundertfünfzig Jahren mit seinem einfachen Credo: „Aufklärung ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Der Kern seiner „Kritik der reinen Vernunft“ bedeutet: „Sapere aude. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

 

Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. 1781. Sein Versuch, die innere und äußere Welt zusammenzudenken.

 

Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert. Eine neue, ambitionierte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin will Anfänge und Geschichte der Aufklärung erzählen. 387 Objekte sind zu sehen. Vom künstlichen Auge bis zur Erklärung der Menschenrechte. Das Versprechen von damals: Mehr Wissen, mehr Vernunft, mehr Teilhabe. Was bedeutet diese Menschheitsidee heute – im Zeitalter von Google, TikTok und Künstlicher Intelligenz? Viel, betont Raphael Gross, Hausherr des DHM: „Statt mächtigen Emotionen zu folgen, müssen wir Unterscheidungen treffen – nach Gründen für ein Geschehen fragen. Etwa für das Anwachsen von Rassismus. Etwa für die massiv gestiegene Anzahl antisemitischer Straftaten. Etwa für die rapide Schwächung demokratischer Parteien.“

 

„Zwischen Wissenschaft und Ehe“. Aufklärung im 18. Jahrhundert war eine reine Männerdomäne. Das Gemälde von Georg Melchior Kraus (ca. 1770/1776) zeigt ein streitendes Ehepaar. Er verweigert ihr den Zugang zu Wissen und Büchern.

 

Aufklärung bedeute nicht, dass alle einer Meinung sein müssen, sagen die Ausstellungsmacher. Nur: ein gemeinsames Gespräch über unterschiedliche Meinungen ist Grundvoraussetzung, sonst geht nichts. Bleibt die Aufklärung, als erklärte Herrschaft der Vernunft, ein frommer Wunsch? Liliane Weissberg, Kuratorin aus Pennsylvania, lächelt. Sie weiß, wie paradox Aufklärung sein kann. „Nehmen wir Thomas Jefferson, der die Menschenrechte erklärt hat. Was viele nicht wissen: Er hatte Sklaven.“ Viele. Im Laufe seines Lebens bis zu 600. So findet sich im Historischen Museum neben der berühmten Erklärung der Menschenrechte des US-Gründervaters eine genaue Auflistung seiner Sklaven. – Alle sind frei? Alle sind gleich? – Von wegen. Ein genauer Blick enthüllt die Realität. Ein Highlight der Ausstellung, ganz im Geiste der Aufklärung.

 

Eine der Sklaven-Listen von Thomas Jeffersons (1743-1826). Einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten deklarierte die Ideen der Aufklärung, wonach „alle Menschen von Natur aus frei, gleich und mit denselben angeborenen Rechten ausgestattet sind“.

 

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sind solche Ideen mittlerweile museumsreif? Die fünfzehnjährige Romy meint: „Aufklärung hat auf jeden Fall etwas gebracht. Die Welt ist größer geworden. Man konzentriert sich nicht nur auf das eigene Land. Sonst würden wir wahrscheinlich noch im Mittelalter sein.“ Gibt es Fortschritte? Moritz, 23, überlegt: „Ich würde nicht sagen, wir leben in einer aufgeklärten Welt, dann würde die Welt ja funktionieren. Aber wir haben Fortschritte erzielt. Vor allem durch soziale Medien können schnell Wissen und Meinungen verbreitet werden. Da hat jeder die Möglichkeit gehört zu werden, vorausgesetzt man hat Zugang zu den Medien.“ Romy und Moritz gehören zu einem jungen Team, das mit dem Projekt Aufklärung Now für frischen Wind in der Ausstellung sorgen soll.

 

Romy und Moritz sind am Projekt Aufklärung Now beteiligt. In Workshops sammelten sie Fragen und Ideen zur Aufklärung.

 

Was bleibt? Aufklärung wirkt nur, wenn deren Ideen weitergetragen werden. Kurzum: Sei mutig. Wage Deinen Verstand zu benutzen.

 

Was ist Aufklärung? Deutsches Historisches Museum Berlin. Bis 6. April 2025.

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Zeit für Kultur?

Es ist gerade einmal zwei Jahre her: Da erhielt Kulturzeit den Deutschen Fernsehpreis. Das Kulturmagazin auf 3Sat wurde in der Kategorie „beste Information“ ausgezeichnet. Auswahl, Themen und Vielfalt überzeugten die Jury. Eine große Freude für das kleine Kulturmagazin. Täglich erreicht das Redaktionsteam mit Sitz in Mainz mehrere Hunderttausend Zuschauer. Zu sehen sind Trends und Tipps genau wie Innovatives, Überraschendes und Kontroverses aus Gesellschaft, Kunst und Kultur. Der Anspruch der Macher ist groß, der Etat bescheiden.

 

Deutscher Fernsehpreis 2022 für „Kulturzeit“. Die Moderatorinnen Lillian Moschen, Cécile Schortmann und Vivian Perkovic. Quelle: 3Sat

 

Die Fakten: Kulturzeit sendet seit 1995 im Rahmen des Kultur- und Wissenschaftskanals 3Sat, dessen Marktanteil insgesamt bei 1,6% im letzten Jahr lag. Für das Dreiländerprogramm (Deutschland, Schweiz, Österreich) stehen 92 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Diese Summe reicht übrigens heutzutage nicht einmal mehr für die Übertragungsrechte eines einzigen Champions-League-Finales. Exakt zwei Cent pro Gebührenzahler gehen jeden Monat an 3Sat. Die Rundfunkgebühren liegen derzeit bei insgesamt 18,36,- Euro/Monat. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten muss gespart werden, das liegt auf der Hand. Weniger Sender und Programme ist das Ziel der Politik. Nach dem Reformpaket der Ministerpräsidenten der Bundesländer soll 3Sat abgeschafft werden. Teile könnten mit dem Kulturkanal ARTE fusionieren. Zudem sollen weitere TV-Spartenkanäle und 16 Radiowellen eingestellt werden.

„3Sat steht seit vierzig Jahren für anspruchsvollen Journalismus. Kunst, Kultur und Wissenschaften haben hier ihre Heimat“, heißt es in einer Petition zum Erhalt des Senders. Binnen weniger Tage haben mehr als 130.000 Menschen die Protest-Resolution unterzeichnet. Zudem gingen rund 15.000 schriftliche Stellungnahmen und Kommentare bei der Rundfunkkommission ein. Die Zeit drängt. Bereits Ende Oktober 2024 wollen die sechzehn Bundesländer das Sparpaket verabschieden und im kommenden Jahr umsetzen. Während der Deutsche Kulturrat „katastrophale Auswirkungen auf das Kulturleben“ befürchtet und sich Elke Heidenreich über „diese Idioten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ empört, heißt es im Reformpapier: Das Angebot solle im Kern qualitativ gestärkt, die Menge quantitativ begrenzt werden. Kritiker wie Medienjournalist Stefan Niggemeier betonen zudem, 3sat sei eine „Abspielfläche für Wiederholungen“, ein Programm für „alte Naturdokus ohne Ende“. Hinzu kämen viele Zweitausstrahlungen – dazu genüge eine Mediathek.

 

Wer schaut noch 3Sat oder Arte? Zusammenlegung als Zukunft? Oder Streaming? Plakat gesehen in Berlin-Lichtenrade.

 

Weniger ist mehr? Das ist möglich. Aber mit Kulturzeit die einzige tägliche Kultursendung im deutschen Fernsehen abzuschaffen, erscheint absurd. Ist es schon zu spät? Keineswegs. Kultur kann kreative Kräfte freisetzen. Wo bleibt also das Positive in der aufgeregten Debatte? Dazu vier Zeilen von Erich Kästner.

„Vergesst in keinem Falle,

auch dann nicht, wenn vieles mißlingt:

Die Gescheiten werden nicht alle!

(So unwahrscheinlich alles klingt.)“

 

Transparenzhinweis: der Autor dieser Zeilen hat lange und gerne für Kulturzeit gearbeitet. Er hofft, dass diese kleine Perle des deutschen Fernsehens weiter glänzen kann.

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Darf ich bitten?

Seine Figuren sind üppig, voller Hingabe und stehen auf wunderbare Weise mitten im Leben. Es macht Freude, ihnen beim Sonntagstanz zuzuschauen. Wie sich die Paare festhalten, drehen und im Rhythmus der Melodien wiegen. Wie ihre Gedanken in die Ferne schweifen oder für Momente in bessere Welten verlieren. Der polnische Maler Andrzej Umiastowski hat ein Händchen für Stärken und Schwächen seiner Mitmenschen. Selbst dann, wenn sie beim eher stillen Schach am Ende matt sind, verbreiten sie beim Betrachtenden ein ganz bestimmtes Gefühl: Genauso ist es. Man kommt seinen Porträtierten nahe, ohne zum Voyeur zu werden. Trotz ihrer manchmal mächtigen Leibesfülle werden die Zeitgenossen weder vorgeführt noch zur Schau gestellt. Viele seiner Bilder spiegeln die kleinen und großen Freuden der einfachen Leute – mit einem Augenzwinkern im typischen Umiastowski-Stil.

 

Schachmatt 2024.

 

Nun feiert der gebürtige Sopoter sein vierzigjähriges Künstlerjubiläum. Sopot ist ein beliebter, einst mondäner Badeort an der Ostsee dicht bei Danzig. Klaus Kinski ist hier geboren, lange blieb seine Familie jedoch nicht. Heute zieht es viele Urlauber nach Sopot. Umiastowski malt nicht nur seine Heimatstadt, die an Ahlbeck auf Usedom oder Binz auf der Insel Rügen erinnert. Er widmet sich gerne Landschaftsmotiven aus der kaschubischen Umgebung. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen Menschen. In den kommunistischen Kriegsrechtjahren und in der nachfolgenden bleiernen Zeit bis 1989 waren seine Porträts eher abgewandt, grau und dunkel. Die Menschen schnappten nach Luft, wie Fische an Land, sagt der französische Maler und Weggefährte Alain Duronsoy über diese Phase.

Auch heute sind die Zeiten wieder unruhig und voller Spannungen. Polen ist ein zerrissenes Land. Politisch, gesellschaftlich, ökonomisch und sozial. Doch am Ende zählt für den polnischen Maler Andrzej Umiastowski der genaue Blick auf das, was seine Mitmenschen umtreibt. Stets verfeinert mit einer Prise Humor. Das macht seine Bilder so liebenswert.

 

Valentinstag. 2024.

 

 

Seine aktuelle Ausstellung hat den Titel „Obrazy“. Auf Deutsch übersetzt schlicht und einfach: „Bilder“. Bis zum 6. Oktober 2024 in der Panstwowa Galeria Sztuki, Sopot. Wer mehr erfahren will, hier geht es zu Andrzej Umiastowski.