Archive for : Februar, 2025

post image

Einer wie keiner

Der Gundermann auch Erd-Efeu ist eine krautige, in Europa weit verbreitete Pflanze. Aufgrund der ätherischen Öle und Bitterstoffe ist der Gundermann früher als Gewürzpflanze verwendet worden. Die Pflanze fand bei den germanischen Völkern als Heil- und Zauberpflanze Verwendung. Ende des 20. Jahrhunderts verzauberte ein Liedermacher namens Gundermann seine Mitmenschen mit mutmachenden Liedern. Gundermanns Verbreitungsgebiet beschränkte sich besonders auf die Lausitz, ein armer Landstrich im Südosten der DDR. Ein kleines Land, das es nicht mehr gibt. Sein vollständiger Name: Gerhard Gundermann, genannt Gundi. In diesen Tagen wird in der Heimatstadt Hoyerswerda sein 70. Geburtstag gefeiert. Der Singer-Songwriter wurde 43 Jahre alt.

 

Gerhard „Gundi“ Gundermann. (21. Februar 1955 – 21. Juni 1998)

 

Im Sommer 1998 wollte oder konnte Gundi nicht mehr. Eine Woche vor seinem Tod am 21. Juni zitierte er bei seinem letzten Konzert eines seiner Lieder:

„Meine Mutter ist so tot wie auch mein Vater, so muss ich einsam durch die Lande ziehen.

Zum Geldverdienen spiele ich Theater, die Leute nennen mich den Harlekin.“

Heute ist Gundermann im Osten Kult, im Westen weiter nur in wenigen Feinkostabteilungen der Musikszene bekannt. Der Baggerfahrer, der rastlos mit Fleischerhemd, Hosenträger und Klampfe unterwegs war. Ein Musiker mit bittersüßen Liedern über Heimat, Verlust und Vergänglichkeit. Mit seiner Band Seilschaft tourte er vor vollen Sälen im gebeutelten Nachwendeland. Die Medien nannten ihn Springsteen des Ostens. Dylan des Tagebaus oder Rio (Reiser) des Ostens.

 

Gundermann im Lausitzer Revier. Er lieferte den Soundtrack der Vorwende- und Nachwende-Depression.

 

„Irritation“ wäre wohl ein passender, zweiter Vorname. Gundermann war zu Lebzeiten ein wandelnder Widerspruch auf zwei Beinen: Baggerfahrer und Liedermacher. Offiziersschüler und Befehlsverweigerer. Spitzel und Bespitzelter. Ein zerrissener Weltverbesserer und unverbesserlicher Idealist. Er wollte verändern und eckte ständig an.

„Immer wieder wächst das Gras/Wild und hoch und grün/bis die Sensen ohne Hass/ihre Kreise ziehn

Immer wieder wächst das Gras/klammert all die Wunden zu/manchmal stark und manchmal blass“/so wie ich und du.“

 

 

2018 adelte Regisseur Andreas Dresen mit seinem Spielfilm Gundermann den Mann aus dem Lausitzer Tagebau. Auf einen Schlag wurde Gundi bundesweit bekannt. In der Hauptrolle Alexander Scheer. Er setzte sich sogar Gundis starke Kassengestell-Brille auf, wird heute noch erzählt, um jede Faser seines realen Vorbildes nachempfinden zu können.  Selbst der Spiegel schwärmte damals: „Gundermann“ ist einer der reichsten, differenziertesten, tollsten Filme über die DDR. Und vielleicht der beste, den Dresen je gemacht hat, weil sich dessen Menschenfreundlichkeit hier am Ende nicht auf dem Parkplatz der Versöhnung abstellen lässt.“ Seit dem großen Erfolg covern Alexander Scheer und Andreas Dresen mit ihrer Band Gundis Songs. Die Konzerte sind regelmäßig ausverkauft.

 

 

Mittlerweile sind Gundermanns Songtexte in Schulbüchern verewigt. So leben seine Geschichten von Menschen aus den „Braunkohle-Badlands“ weiter. Seine sehr poetische wie politische Annäherung an Arbeitslose und Abgehängte, an Enttäuschte und Verzweifelte aus der abgewickelten DDR. Besonders diesen Menschen wollte er mit seinen Liedern Mut machen. Auffallend, wie zeitlos aktuell seine Texte sind.

Happy Birthday zum 70ten, Gundi!

post image

„Mein Opa war Nazi“

EU-Spitzenkandidat Maximilian Krah der AfD veröffentlichte im Sommer 2023 ein Video, im dem er sinngemäß sagte: „Krieg’ mal raus, was Oma, Opa, Uroma und Uropa alles Tolles gemacht haben, denn die waren keine Verbrecher…“ Fast jeder zweite junge Deutsche zwischen 16 und 25 Jahren hat sich laut einer Umfrage noch nie mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Heute kennen wir die „Omas gegen rechts.“ Aber was ist, wenn die eigene Oma rechts war? Und der Opa Nazi? Oder der Uropa. Nicht nur Normalos, auch Prominente entdecken die Geschichte ihrer Vorfahren und Großeltern. Da gibt es dicke Überraschungen.

 

Der Uropa von Robert Habeck: SS-Brigadeführer Walter Gramzow. Drei Jahre im britischen Kriegsgefangenenlager Fallingbostel interniert. Sein Vermögen wurde eingezogen. Die Akte Walter Gramzow umfasst im Bundesarchiv 170 Seiten.

 

Robert Habeck (*1969). Vizekanzler. Sein Uropa Walter Gramzow (1887-1952) war ein verurteilter Kriegsverbrecher. Er gehörte als SS-Brigadeführer, NSDAP-Ministerpräsident in Mecklenburg-Schwerin und Reichstagsabgeordneter quasi zum inneren Führungszirkel des Hitler-Regimes. Urgroßvater Gramzow verwaltete das Gut Severin und richtete dort 1931 die Hochzeit des späteren Propagandaministers Joseph Goebbels mit Magda Quandt aus. Auch Habecks Großvater Kurt Gramzow (1912-1952) war als Obersturmführer der SA nicht nur ein einfacher Mitläufer. Habeck hat sich seiner Familiengeschichte gestellt. Als die Hamas Israel im Oktober 2023 überfiel, sagte der grüne Kanzlerkandidat: „Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.“

NS-Militärjurist, SS-Mitglied und Oberstabs-Richter Hans Weidel. Großvater von Alice Weidel.

Alice Weidel. (*1979) Kanzlerkandidatin der AfD. Ihr Großvater Hans Weidel (1903-1985) war promovierter Jurist und NS-Funktionär. 1932 Eintritt in die NSDAP, ab Januar 1933 Mitglied der SS. Im Krieg war er ab 1941 einer von dreitausend Heeresrichtern. 1943 wurde er zum Ober-Stabsrichter befördert. Er setzte NS-Recht in Warschau und anderen besetzten Gebieten durch. Nach dem Krieg arbeitete er als Rechtsanwalt in Gütersloh. Seine Enkelin Alice Weidel sagt, die habe „aufgrund familiärer Dissonanzen keinen Kontakt zum Großvater gehabt und nichts von seiner Vergangenheit gewusst“. Alice Weidel bezeichnet Hitler als Kommunisten.

Jens-Christian Wagner. (*1966) Historiker. Er gehört gleichfalls zu den sogenannten Täter-Enkelkindern. Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten KZ Buchenwald und KZ-Mittelbau Dora hatte zwei Großväter, die beide Nazis waren. Er offenbarte das Familiengeheimnis bisher ausschließlich in Seminaren und hat „es nicht offensiv vor sich hergetragen.“

Was bleibt, ist eine einfache Sache: „Es ist nicht deine Schuld, wie die Welt ist. Es ist deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Dieser Songtext der Ärzte trifft den Nagel auf den Punkt. Es geht nicht um „Schuldkult“, sondern um die Geschichte der eigenen Familie. Und die sollte man kennen.

 

 

Transparenzhinweis

Mein sehr geschätzter Großvater war im Dritten Reich NSDAP-Mitglied. Ein einfacher Volksgenosse ohne Amt, wie mein Vater (*1928) stets betonte. Erfahren habe ich diese Geschichte erst lange nach seinem Tod in den achtziger Jahren. Seitdem beschäftigt mich die Frage: Was hat ihn bewogen, als Musikdirektor und Bach-Liebhaber in Hitlers Partei einzutreten?

 

post image

Schlaflose Nächte können magisch sein

Wer kennt sie nicht? Schlaflose Nächte. Wenn Geist und Seele einfach nicht zur Ruhe kommen wollen, obwohl Kopf und Körper komplett erschöpft sind. Jede/r kennt dieses Gefühl. Die Stille der Nacht, die Einsamkeit und dieses vermaledeite Grübeln. Die Gedankenlöcher, die man gräbt und die immer tiefer werden; und die doch niemals zugeschüttet werden können. „Der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehen für die Uhr“, sagt Philosoph Arthur Schopenhauer. Wenn kluge Sprüche nicht mehr helfen, kann Musik mehr bewegen. Der Songwriter Michael Moravek hat sein soeben erschienenes Album Night Songs genannt. Seine balladenhaften Lieder erzählen genau von diesen Stunden, aus der Mitte der Nacht.

 

Songs aus der Nacht. Michael Moravek. Ein deutscher Singer-Songwriter zum Entdecken. Foto: Hans Bürkle

 

Michael Moravek ist ein Liedermacher aus dem oberschwäbischen Ravensburg. Er sagt, er kenne seit Jahren schlaflose Nächte und habe sich damit weitestgehend arrangiert. Moravek: „Manchmal gibt es Nächte, in denen ich es fast genieße, mich im Wohnzimmer auf das alte Sofa zu setzen, gegen drei oder vier Uhr einen Kaffee zu machen, weil der Schlaf nicht mehr in Reichweite scheint, etwas zu lesen und über Dinge nachzudenken. Die späten Stunden der Nacht und der frühe Morgen können eine besondere, fast magische Atmosphäre bieten. Das ganze Haus schläft, die Welt draußen ist still. Gedanken und Gefühle treten intensiver in den Vordergrund, manchmal übermächtig.“

 

 

Moravek ist ein Mann der leisen Töne. Seine Vorbilder sind Bruce Springsteen und Bob Dylan. „Ich bin seit jeher fasziniert von Springsteens Nebraska, das eigentlich als eine Sammlung von Demos gedacht und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Aber die Demoaufnahmen aus einem Schlafzimmer in New Jersey hatten etwas ganz Besonderes.“ Das Dylan-Album Blood On The Tracks sei ähnlich entstanden. „Die Studiomusiker, die für die Aufnahmen engagiert waren, beschwerten sich, dass sie keine Zeit und auch kein Notenmaterial zur Verfügung hatten, um sich vorzubereiten. Kaum hatten sie die Struktur und Harmonien eines Songs einigermaßen begriffen, wechselte Dylan zu einer völlig anderen Tonart oder änderte die Struktur und einer dieser Takes war dann die Aufnahme, die veröffentlicht wurde. Auf manchen hört man Fehler, und doch sind sie zu berühmten Aufnahmen geworden.“

 

 

So vereinbarte Moravek im Tonstudio, dass er seine fertigen Songs allein und direkt einspielt. „Ganz zum Schluss, als alle Songs geschrieben und aufgenommen waren, kam meine Band ins Studio und nahm an einem einzigen Nachmittag die zusätzlichen Instrumente auf, die hier und da die Intensität und Intimität der Aufnahmen noch verstärkten.“

So entführen die Night Songs in die Zwischenwelt von Dahindämmern und Gedankenkaskaden. In die Stunden zwischen Schlaflosigkeit und Morgendämmerung. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist das Rettende nah, beruhigte bereits Hölderlin alle unruhigen Geister. Und: „Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe.“

 

Songs zum Runterkommen – zwischen Nacht und Tag.

post image

„Hör zu!“

Bundestag. Eine hitzige Redeschlacht um das sog. „Zustrombegrenzungsgesetz“, das nach langer Debatte überraschend abgelehnt wird. Es geht um Migration und Integration. Um Sicherheit und Ordnung. Um Humanität und Kontrolle. Es geht giftig, gallig, gruselig zu. Es wird gebrüllt, gescholten und gegenseitig ausgelacht. Das Land steht vor dem Untergang, heißt es von rechts. Der Faschismus klopft wieder an die Tür, von links. Wer die Stunden im Reichstag verfolgt hat, kann im Wust der Angriffe und Unterstellungen zumindest einen roten Faden erkennen: Zuhören ist ein Fremdwort. Logisch, es ist Wahlkampf. Die Zeit der Fensterreden und Versprechen. So flattern Floskeln durch den Bundestag. Schlagworte purzeln: historischer Tabubruch, einstürzende Brandmauern, Remigration oder demokratische versus Kartellparteien.

 

 

Wie erreiche ich diejenigen, die einfach nicht mehr zuhören?

 

Was die Kameras manchmal in Nahaufnahme zeigen: Abgeordnete, die auf ihr Handy starren. Wer gerade persönlich attackiert wird, schaut wie gebannt auf sein/ihr Smartphone. Als würde dieses kleine Gerät die große Weltformel hervorzaubern können. Aber wie wäre es mit Zuhören? Mit Argumenten und Suche nach Lösungen? Fehlanzeige. Fensterreden gab es im Reichstag auch vor hundert Jahren. Nur: Heute verfügen wir über modernste Kommunikationstools in Echtzeit. Das Ergebnis: noch heftigere Empörungsrituale.

Google und andere Technikgiganten versprachen eine bessere Welt. Dieser Debattentag im Deutschen Bundestag wirkt ernüchternd. Wieder droht die politische Mitte auseinanderzufallen. Wieder könnten Extreme die Herrschaft übernehmen, wie am Ende der Weimarer Republik. Nur heutzutage mithilfe von TikTok, Algorithmen und YouTube-Propagandafilmchen.

 

 

Wer zuhört, hat mehr vom Leben? Unbedingt, meint Bernhard Pörksen, der Streiter für bessere Kommunikation. Zuhören sei mittlerweile eine Kernkompetenz, viel beschworen, nur ständig vernachlässigt. Die Leitfrage seines neuen Buches: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Existiert ein Gegenmittel gegen Ignoranz und Weghören? Wie geht geistige Offenheit in einer 24-Stunden-Onlinewelt? Der Medienwissenschaftler hat sich zehn Jahre mit diesen Fragen beschäftigt. „Es ist mein Thema.“

 „Jeder Skandal beginnt mit fehlendem Zuhören im System“. Pörksen bringt Beispiele, auch aus seinem eigenen Leben: Der lange vertuschte Missbrauch am Reformprojekt Odenwald-Schule. Ein „Seelenmord“ an Jugendlichen, schreibt Pörksen. Er selbst habe einen sadistischen Klassenlehrer an der Waldorfschule ertragen müssen. Wurde zugehört? Hat sich etwas geändert? Nein. Pörksen argumentiert u.a. mit der Situation in der Ukraine (Wem hört man im Krieg noch zu?) oder beschäftigt sich mit den Heilsversprechen der Jungs aus Silicon Valley. (mehr Kommunikation, mehr Austausch?) Ein typischer Fall für dieses Nicht-mehr-Zuhören-Wollen ist nach Pörksen eine Störaktion propalästinensischer Aktivisten bei einer Hannah-Arendt-Lesung in Berlin. Thema: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Was geschah? Die Aktivisten-Gruppe klagte an und brüllte alles nieder, statt Argumente auszutauschen und zuzuhören. Die Lesung der kubanischen Performance-Künstlerin Tania Bruguera musste abgebrochen werden. Pörksen: „Wir sind Profis der Ignoranz. Weghören stabilisiert uns.“

 

„It’s hard to listen while you preach“. Ein Song von U2. Every breaking wave.

 

Was tun? Der Professor aus Tübingen lobt die Kunst des Schweigens und der Stille. Besser eine Welt ohne X und Telegram? Unrealistisch, so Pörksen, aber vor der Einführung von TikTok & Co habe es „keine Anonymität, keine Werbung, kein Datamining“ gegeben. Bei einer guten Moderation seien „tiefere Gespräche, klügere Debatten, besseres Zuhören“ möglich gewesen. Sein Fazit: Wirkliches Zuhören sei „vielleicht nichts für die große Politik, nichts für die Arena der Talkshows … nichts für das Aufeinander-Eindreschen in sozialen Netzwerken“. Aber Zuhören bedeute „gelebte Demokratie im Kleinen“. Ein wenig Trost hält Pörksen parat. Man könne andere zum Schweigen bringen, aber sie „nicht zum Zuhören zwingen. Zuhören ist ein Akt der Freiheit“.

Bernhard Pörksen. Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser.