Archive for : Oktober, 2025

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Der Kunstmaler vom Heldenplatz

Wien. Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Habsburger Reich versprüht Prunk und Pomp. Kaiser Franz Josef schenkt seinem Volk imperialen Glanz und Gloria. Auf gut vier Kilometern und in sechzig Meter Breite reiht sich am Ring ein Monumentalbau am anderen: Börse, Universität, Rathaus, Burgtheater, Parlament, Hofburg, Kunst- und Naturhistorisches Museum, Staatsoper. Eine perfekt inszenierte Selbstdarstellung der k.u.k. Monarchie, heute von Millionen Touristen bestaunt. Im Zentrum Wiens die Hofburg. Residenz und Herzkammer des Habsburger Reiches. Heute Sitz von Museen mit Schatzkammer, Hofreitschule, Hof- und Volksgarten. Maria Theresa und Mozart-Denkmäler. Doch der unübersehbare Blickfang ist der Altan. Heiligtum der Habsburger und bis heute toxische Tabuzone der Republik. Das hat einen Grund.

 

Blick auf Altan und Heldenplatz in Wien. Der Name Altan hat verschiedene Bedeutungen: Er bedeutet „Gold“ auf Mongolisch und „rote Morgendämmerung“ auf Türkisch.

 

Die 200qm-große Terrasse mit dem grandiosen Blick auf den Heldenplatz heißt im Wiener Volksmund nur „Hitler-Balkon“. Hier verkündete am 15. März 1938 der Mann mit dem Schnauzer einer jubelnden Masse den „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland. Noch ein Jahr zuvor war auf dem Balkon probeweise eine große Holzschablone mit einem geplanten Denkmal für Kaiser Franz Josef platziert worden. Es kommt radikal anders! Auf die Habsburger Herrschaft folgt nach kurzer Republik das Hakenkreuz-Reich.

An der Balkontür heißt es: „Betreten verboten!“ Zunächst verfügte Hitler selbst, der Altan dürfe nicht mehr genutzt werden. Nach seinem Ende 1945 blieb die Terrasse weiter gesperrt. Eine No-go-Area bis heute. Offiziell aus baulichen Gründen, die Balustrade sei zu niedrig. Vermutlich wohl eher, um eine Wallfahrtsstätte zu verhindern. Erlaubt ist daher nur, durch die verriegelte Balkontür zu blinzeln.

 

Soll der Zugang zum „Hitler-Balkon“ geöffnet werden? Oder soll die Tür zum Altan in der Wiener Hofburg weiter geschlossen bleiben?

 

Was wäre, wenn? „Tja, wäre wohl besser gewesen, wenn’s ihn damals genommen hätten“, sagt die Museumsfrau im schönsten Wienerisch an der nicht weit entfernten Kunstakademie am Schillerplatz. Hier hatte sich 1907 der achtzehnjährige Adolf H. an der Malschule beworben. Die Akademie ist ein weiterer Habsburger Prachtbau. Italienische Hochrenaissance, im Innern eine beeindruckende Aula mit Deckenbildern von Anselm Feuerbach. Im Obergeschoss eine Galerie, prallvoll mit Meisterwerken aus fünf Jahrhunderten.  Von Cranach dem Älteren über Rembrandt bis Rubens. Adolf H., der Junge aus der Provinz und Schulabbrecher, dessen Mutter Clara mit Brustkrebs im Sterben liegt, scheitert zweimal. Das Prüfungsprotokoll von 1907 vermerkt sinngemäß: „Die Zeichnungen zeigen keinen ausreichenden Sinn für figürliches Gestalten.“

 

Wiener Staatsoper von Adolf Hitler. 1912. Viele seiner Bilder sind in den USA unter Verschluss.

 

Die Herren Professoren bescheinigen dem Kunsteleven immerhin eine gewisse „architektonische Begabung“. Tief enttäuscht zieht sich der abgelehnte Kunstmaler zurück, wohnt in einfachen Zimmern, zuerst in Mariahilf im 6., später im 15. Bezirk. Als die Mutter stirbt, reicht die winzige Waisenpension kaum zum Überleben. Von Februar 1910 bis Mai 1913 bezieht Hitler im 20. Bezirk in der Meldemannstraße in einem Männerheim eine Schlafstelle mit Gemeinschaftsküche. Heute wirbt dort das Pflegeheim „Seniorenschlössl“ mit dem Motto „Wie daham“ und einer Regenbogenfahne vor der Eingangstür.

 

Ehem. Männerwohnheim in der Meldemannstraße 27, Wien-Brigittenau, im 20. Bezirk. Einst eine Art Obdachlosenheim, heute ein Pflegeheim.

 

Kunstmaler Adolf fertigt in seinen Hunger- und Künstlerjahren selbstgemalte Postkarten und kleine Aquarell-Stadtansichten.  Hunderte, gar tausende Bilder malt er wie am Fließband, alle zum schnellen Verkauf. Von der Wiener Staatsoper bis zum Bergbauernhof, auch einmal Porträts wie das „Mutter Maria“-Motiv. Seine Käufer seien in der Mehrheit Juden gewesen, berichten Biografen. Ein Rechtsanwalt namens Josef Feingold, habe eine ganze Reihe von Bildern Hitlers gekauft, die das alte Wien darstellen. Von Pracht und Pomp des kaiserlichen Wiens mit glanzvollen Opernbällen, Sachertorte und Dreiviertel-Takt ist Kopist Hitler selbst Lichtjahre entfernt. Der Postkartenmaler malt, um zu überleben und das, was sich verkaufen lässt.

 

„Mutter Maria“ von Adolf Hitler, 1913. Eine seiner ganz seltenen Porträt-Zeichnungen.

 

Im August 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als Hitler im Zenit steht, vertraut er dem britischen Botschafter Nevile Henderson  in Berlin an: „Ich bin Künstler und kein Politiker. Sobald die polnische Frage geklärt ist, möchte ich mein Leben als Künstler beenden.“

 

Die Aula der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Immer einen Besuch wert. In der Gemäldegalerie werden Tradition und Moderne gepflegt. Hier wurde Hitler zweimal abgelehnt.

 

„Ach, es wäre uns viel erspart geblieben, hätten sie ihn an der Akademie aufgenommen“, betont noch einmal die aufgeweckte Wienerin, die in der Kunstakademie Rubens, Rembrandt und Hieronymus Boschs berühmtes „Weltgericht“ mit Himmel und Hölle beaufsichtigt. Währenddessen bleibt in der nahen Hofburg der „Hitler-Balkon“ weiter fest verschlossen. Auch achtzig Jahre danach. An einer Informationssäule auf dem Weg zum Balkon kann abgestimmt werden, ob der Altan gesperrt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Das Ergebnis ist eindeutig. Die Befürworter für eine Öffnung liegen Ende Oktober 2025 bei über 200.000 Stimmen, die Gegner bei rund 26.000. Und? Was denken Sie?

 

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Endstation Elbschlosskeller

In der Nacht ist der Mensch nicht gerne alleine! An der Macht allerdings ganz gerne. Was tun, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt? Netflix schauen, Dating-Portals checken oder Katzenvideos gucken? Es gibt Alternativen. Eine befindet sich in St. Pauli auf der Reeperbahn. Mitten im Kiez. Ein Laden mit viel Bier, Schnaps, Rauch, Paradiesvögeln, Gestrandeten und langer Tradition. Hier trifft sich rund um die Uhr das Bodenpersonal der Abteilung Lonely Hearts. 24/7 geöffnet, 365 Tage im Jahr, seit 1952. „Deutschlands immer noch härteste und sozialste Kneipe“, behauptet Wirt Daniel Schmidt, bald 41. Ein eloquenter, bunt tätowierter Kneipenchef eines Familienbetriebes der besonderen Art. Willkommen im Elbschlosskeller!

Daniel Schmidt ist ein Kraftpaket, ein Mann mit klarer Ansage, dazu ein perfekter Entertainer, RTL 2-gestählt. Er hat ein ausgesprochen sensibles Radar für Menschen, Situationen, Hoffnungen, Ängste und Sorgen. Keine Frage: Am Kneipentresen kommt nach dem fünften Pils die Wahrheit auf den Tisch, oder was man dafür hält. Jedes Leben ist wie ein Roman. In den durchzechten Nächten verbreitet sich das berühmt-berüchtigte Elbschlosskeller-Aroma: „Eine Mischung aus Alkohol, Rauch, Schweiß und einfach vielen Menschen und gelebtem Leben.“ So steht es im neuen Buch von Daniel Schmidt. „Löwengrube. Durch den Vorhof zur Hölle zu einem Leben in Liebe.“ Auf dem Buchcover ist ein kleiner Zusatz vermerkt: „Kein Roman“.

 

Daniel Schmidt. Zu Hause im Elbschlosskeller auf St. Pauli und auf vielen Bühnen dieser Welt.

 

Also ein Sachbuch? Von wegen. Daniel in der Löwengrube schildert höchst unterhaltsam sein abenteuerliches St-Pauli-Leben. Angeblich hinterm Tresen im Elbschlosskeller gezeugt, entwickelt er eine rasante Tour durch „Deutschlands sündigste Meile“. Es ist die filmreife Vita vom neunjährigen Bettnässer über den Hooligan zum achtzehnjährigen Jungkneipenwirt, der sich nach oben zapft. Nichts lässt er anbrennen. Sex, Drugs and Rock ‘n Roll.  Es geht um Elbschlosskeller-Schicksale wie Miss Piggy. Sie lässt ihr frisch entbundenes Baby draußen alleine im Kinderwagen, weil sie lieber sabbeln will und Durst hat. Oder Thomas alias Tamara. Er kündigt sein Leben als Unternehmer mit Familie auf. Aus dem Porschefahrer wird Tamara, „die immer aussah als käme sie frisch vom Friseur“. Er stirbt an Aids.

 

 

Der Tod ist Stammgast im Elbschlosskeller. „88 Tote“ zählt Daniel in den letzten fünf Jahren. Zu viel Alk, Drogen, Frust, Einsamkeit und Selbst-Zerstörungswut. Als Urgestein Lars, der 150-Kilo-Mann und Türsteher von rausgeworfenen Gästen mit einem Metallmülleimer erschlagen wird, bleibt selbst Daniel Schmidt einmal kurz die Sprache weg. Sein Wendung aus dem „Vorhof zur Hölle“ zu Jesus ist sicher überraschend und wirft neue Fragen auf. Ist das ernst gemeint? Sichtbar hat sich Daniel Jesus is King auf seinen Nacken tätowieren lassen.

 

 

Kneipier Schmidt gründet und organisiert auf St. Pauli seinen Hilfsverein „Wer, wenn nicht wir“. Dort hilft er Obdachlosen, Verzweifelten und Gestrandeten. Sein Traum für die Zukunft: Ein Reste- oder Gnadenhof auf dem platten Land. Ein Asyl für gequälte Menschen und Tiere. Das ist seine Vision, dank Jesus. Daniel steht weiter am Tresen, allerdings deutlich weniger als in seiner Sturm- und Drangzeit. Etwas anderes macht er mittlerweile täglich: Beten. Ja, richtig: Beten! Wer glaubt, wird selig. Nachzulesen in seiner Kellergeschichte, die sich wie ein Thriller liest, ständig auf hoher See zwischen Drama, Drogen, Herzschmerz, Freundschaft und Tragödie, genau wie seine Gäste in den langen Nächten. Daniel in der Löwengrube wird nicht müde zu wiederholen, alles sei so passiert in seinen berührenden Geschichten aus dem Keller der Gesellschaft. Alles, bloß kein Roman. Echt wahr!

Daniel Schmidt. Löwengrube. Kösel, 2025.

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Chemnitz, mon amour?

Die Blätter fallen. Bald ist das europäische Kulturhauptstadtjahr Geschichte. Chemnitz feiert die letzten Herbsttage mit viel Kunst und Kultur. Dieses geschundene „sächsische Manchester“ mit mehr Schornsteinen als Kirchtürmen. Mehr Fabriken als Schlössern. Ein lebendiges Industriemuseum, mit Gießereien, Webmaschinen, Erz, Fahrzeugen, Fit, Karl Marx, Kraftclub und Kati Witt. Die Hoffnungen der einstigen Malocherstadt für die Zukunft: Start-ups, E-Mobilität, Wasserstoff-Energie und KI. Alles Visionen und Versprechen, zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum.

In Chemnitz ist einiges zu entdecken: von der großen Edvard Munch-Ausstellung über die hochgelobte Operninszenierung „Rummelplatz“ bis zum Projekt Offener Prozess, dem Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen. Eine Ausstellung mitten im Wahlkreis von Alexander Gauland, dem Gründervater der AfD. Ohne Kulturhauptstadtstatus wäre dieses Projekt undenkbar.

 

„Handwerkertöchter“. Selbst ist die Frau. Zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum Chemnitz.

 

Die meisten großen Events enden im November 2025. Was hat das Projekt nun gebracht? Es gebe ein neues Wir-Gefühl, sagen viele. Ja, die herbe Schönheit hat sich aufgehübscht. Ja, die großen Straßen und Plätze wirken abends weiter leer und verlassen, aber in vielen Industrieruinen blüht neues Leben auf. „C the Unseen“, das Motto der 250.000-Einwohner-Stadt, hat die Sachsen-Stadt ein Stück sichtbarer gemacht. Als lebenswerter Ort mit Ecken, Kanten und Brüchen. Chemnitz, das Aschenputtel, leuchtet in der Nacht. Jeden Abend schickt der 300 Meter-hohe Schornstein eines Heizkraftwerkes wie ein Leuchtturm seine Signale in die Ferne.

 

Chemnitz leuchtet: Der 302 Meter hohe Schornstein des Chemnitzer Heizkraftwerks leuchtet bereits seit 2017. Insgesamt 168 LED-Leuchten erhellen das vermutlich höchste Kunstwerk der Welt. Foto: Peter Zschage

 

Wer kann, hat jetzt eine letzte Gelegenheit, die Kulturhauptstadt Europas kennenzulernen. Jenseits aller üblichen Ost-Klischees bietet der Stadtteil Kaßberg hohe Lebensqualität mit Jugendstilvillen und Gründerzeitchic. Ein Geheimtipp ist das kleine Café Supp-Kultur. Freundliches Personal, nettes Ambiente, preisgünstiger Mittagstisch. Die Tagessuppe zu 4,20. Dafür gibt’s in Berlin-Mitte nicht einmal mehr den üblichen Latte Macchiato. Übrigens, eine hübsche Drei-Zimmer-Altbauwohnung wird für 670 Euro Warmmiete angeboten.

Auf nach Chemnitz? Tja. Wir alle wissen: Nichts ist stabiler als ein Vorurteil. Dagegen versuchen die Kulturleute seit Anfang des Jahres anzugehen: Bei der Ost Vision, eine Art Messe für Menschen unter 30 mit Musik, Workshops und Gesprächen wurden zunächst alle Klischees eingesammelt: „Alles Nazis dort, hässliche Stadt, kein Fortschritt, das Chemnitzer Lächeln gehe nur mit Mundwinkeln nach unten.“ Debattiert wurde die alte Ost-Frage: Bleiben oder gehen? Junge Menschen wollen Treffpunkte, die nicht früh schließen oder unbezahlbar sind. Jede/r – auch in Chemnitz – will mal an die Sonne. Beginnt nun etwas zu keimen? Immerhin wollen heute nicht mehr alle sofort nach der Schule weg.

 

Neues Leben in alten Gemäuern. Der Wirkbau mit seinem Club Atomino. Ein Hotspot in Chemnitz.

 

Das andere Chemnitz. Seit 25 Jahren trommelt der Kultclub Atomino mit Partys, Konzerten, Lesungen und Quizabenden gegen die Tristesse an. Mit „Absurdität, Übermut, Ekstase und Selbstironie“, so die Eigenwerbung und „dem schönsten Dachgarten der Welt“. Alles beheimatet in einem einst stolzen Textilmaschinenwerk, heute Wirkbau genannt, eines von 350 Industriedenkmalen der Stadt. In der Stadt ist tatsächlich viel Raum für Neues. Die Hauptattraktion jedoch bleibt ein großer, schwarzer, massiver Granitschädel, der „Nischl“. Ja, er ist noch da: Karl Marx. Bis 1990 trug die Stadt seinen Namen. Dabei war der Mann nie in Chemnitz. Wie so viele, die eher Klischees über die oft übersehene Stadt in Sachsen im Kopf haben. Noch ist das Kulturhauptstadtjahr nicht zu Ende.

 

So wirbt Chemnitz für die Kulturhauptstadt Europas 2025. Ziel: ein neues Wir-Gefühl!

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Mein Opa, der Nazi

Was tun, wenn der eigene Großvater Teil des NS-Regimes war? Unabdingbar stellen sich Fragen. War er in Verbrechen verstrickt oder einer der vielen Mitläufer? Wie konnte es dazu kommen? Was war seine Rolle? In vielen Familien wird die Geschichte der Vorfahren bis heute eher beschwiegen. Einige wenige haben sich dieser Frage gestellt: Albert Speer-Tochter Hilde Schramm oder Niklas Frank, Sohn der NS-Größe Hans Frank. Ein zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher, genannt der „Schlächter von Polen“. Jetzt wagt sich Unternehmer Dominik von Ribbentrop mit seinem lesenswerten Buch „Verstehen. Kein Verständnis“ auf vermintes Gelände. Joachim von Ribbentrop war sein Großvater und Hitlers Außenminister. Er fädelte 1939 den Hitler-Stalin-Pakt ein. Persönlich kannten sie sich nicht. Der Großvater wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet.

Ribbentrops letzte Worte auf dem Schafott: „Gott schütze Deutschland!“ Enkel Dominik versucht auf 336 Seiten eine Annäherung an einen Diplomaten, den Hitler als „besten Außenminister seit Bismarck“ lobte. Die Geschichte sieht in ihm einen „Erfüllungsgehilfen, Vasall, Schergen und Lakai“ Hitlers. Ein Hardliner und Karrierist. Eisig, arrogant und abweisend. Getrieben von einer Eitelkeit, die stets mehr verlangte.

 

Joachim von Ribbentrop (1893 – 1946) NS-Außenminister. Er fädelte 1939 den Hitler-Stalin-Pakt ein. Die Aufnahme entstand in Nürnberg, nach Kriegsende am Rande des Kriegsverbrecherprozesses.

 

Enkel Dominik beschreibt seinen Großvater als sprachbegabten Abenteurer. Ein preußischer Offizierssohn aus Wesel. Geigenspieler mit englischem Hauslehrer und Auslandsaufenthalten in Kanada und der Schweiz. Er heiratet nach dem I. Weltkrieg in die Familie des Sektkonzerns Henkell ein. Kurzum: Ein „Feingeist, und empathischer Romantiker“, im turbulent-nervösen Babylon Berlin Schaumwein- und Whiskeyhändler. Wohlhabend mit Luxus-Villa in Dahlem. Fünf Kinder, sorgenfrei und eher unpolitisch. In der Weltwirtschaftskrise sympathisiert er mit der aufsteigenden nationalen Rechten. 1932 stellen sich entscheidende Weichen.

Der Unternehmer und Kommunistengegner Ribbentrop lernt im August 1932 Hitler auf dem Berghof kennen. Er sieht in seine „hypnotisch beschriebenen blauen Augen“. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. 1932 Eintritt in die NSDAP, wenig später SS-Standartenführer. Hitler wird Patenonkel von Ribbentrop-Sohn Adolf, der Vater des Buchautors Dominik. Im Januar 1933 treffen sich im Ribbentrop-Anwesen in der Dahlemer Lentzeallee Teile des künftigen Hitler-Kabinetts. Dort wird die Machtübernahme vorbereitet, deren drei Voraussetzungen „tiefgreifende nationale Kränkung, wirtschaftliche Abstiegsängste und ein mitreißender Demagoge“ waren, so Enkel Ribbentrop.

 

Vom unpolitischen, wohlhabenden Schaumweinhändler zum überzeugten Nazi in der ersten Reihe. Ribbentrop (vorne) 1941 im Reichstag.

 

Sein Großvater macht als Sondergesandter Hitlers Karriere. Er schließt 1935 ein Flottenabkommen mit den Briten, wird 1938 Außenminister. „Der Führer“ ist längst sein Mephisto, sein „gewissenloser Verführer“.  Wie lässt sich diese Radikalisierung erklären? Im Großvater würden sich „typisch deutsche Eigenschaften wie Idealismus und Angst, auch Genialität, Naivität und Radikalität auf schicksalhafte Weise“ verdichten. Ribbentrops Coup: Der „Hitler-Stalin-Pakt“ vom 23. August 1939, wenige Tage vor Ausbruch des II. Weltkrieges.

Ein großer Deal der beiden Diktatoren, „ein Ereignis welthistorischen Formats“, so der Enkel. Das Abkommen in Moskau über die Teilung Polens sei mit viel Wodka und einem schlecht gespitzten Bleistift besiegelt worden, „so dass der Strich auf der Landkarte in der Realität zwei bis drei Kilometer entsprach“. Ribbentrop fragte Stalin, wie er so viel Wodka vertragen könne. „Der lachte verschmitzt und antwortete, dass er seinen Dienern befohlen habe, sein Glas immer nur mit leichtem Wein zu füllen“.

 

Der Händedruck von Moskau besiegelt im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt. Danach beginnt der II. Weltkrieg. Rechts: Joachim von Ribbentrop.

 

Joachim von Ribbentrop war nicht Organisator der „Endlösung“, aber Mitmacher und Zuarbeiter. Sein Auswärtiges Amt war für Vorbereitung, Mitwirkung und Abschirmung des Holocaust verantwortlich. In den Jahren 1942 bis 1945 wird der großbürgerliche ehemalige Schaumweinhändler Ribbentrop kaltgestellt, er gilt im innersten Zirkel der Hardcore-Nazis als bürgerlicher Sonderling. „Für mich sind sein Gesichtsausdruck und seine verkrampfte Körperhaltung in den späten Kriegsjahren vielsagend“, meint der Enkel. Doch sein „Schweigen … ausblenden, ignorieren, wegsehen waren zentral für das Funktionieren dieses Regimes“.

In seiner Rechtfertigungsschrift, verfasst in der Nürnberger Gefängniszelle, schreibt Joachim von Ribbentrop: „Mit wem soll ich eigentlich noch über außenpolitische Fragen im Ausland reden? Alle in Fragen kommenden ausländischen Gesprächspartnern gehörten irgendwelchen Gruppen an, denen wir auf die Füße treten. Es war nicht nur die Judenfrage, die eine große Belastung für eine deutsche Außenpolitik darstellte. Zu den weiteren ideologischen Gegnern gehörten Sozialisten, Liberale, Kapitalisten, Freimaurer, Monarchisten, bestimmte Rassen, bestimmte Kunstrichtungen und Künstler, nicht zuletzt die Kirchen, Rotary Clubs und andere mehr.“

 

Adolf Hitler und Joachim von Ribbentrop. 1935. Quelle: Familienarchiv Ribbentrop

 

Großvater Ribbentrop hält an seiner Nibelungentreue bis zum Untergang fest. Im Januar 1945 ein letzter Versuch. Er bietet Hitler an, mit seiner Familie als Pfand nach Moskau zu fliegen, um Friedensgespräche mit Stalin zu führen. Hitler lehnt ab: „Ribbentrop, machen Sie mir keine Sachen wie Heß!“ Im Mai 45 taucht er mit falschem Namen unter, wird denunziert und rasch festgenommen. Die eigene Nazi-Geschichte verstehen, heißt nicht Verständnis zeigen, ist das Mantra des Buches. Enkel Dominik: „Der Spagat zwischen das Gute doch wollen und das Böse mitmachen, war ein teuflisches und unüberwindbares Dilemma für den Außenminister und vermutlich für einen Großteil seiner Generation.“

 

 

Wiederholt sich Geschichte? Nein, aber sie reimt sich, meinte Mark Twain. Dominik Ribbentrop versucht sich am Ende seines Buches mit Anmerkungen eines Enkels. Seine Schlussfolgerungen für heute – stabile Wirtschaft, Selbstverantwortung, „pazifischer Realismus“ – lesen sich wie eine gut gemeinte Bergpredigt. Hilfreicher wäre es gewesen, mehr über „die Banalität des Bösen“ in der eigenen Familie zu erfahren. Was tun, wenn der Opa ein Nazi war, noch dazu in herausragender Position?

Dominik von Ribbentrop. Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels. Inkl. eines Dialogs mit Rüdiger Safranski. Westend-Verlag. 2025.