Archive for : Dezember, 2025

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„Kein Mensch, kein Problem!“

Premiere von „Zwei Staatsanwälte“ im vornehmen Cinema Paris am Kurfürstendamm. „Das ist unser Weihnachtsfilm“, witzelt der junge Hauptdarsteller Aleksandr Kuznetsov. Er verkörpert den frisch gebackenen sowjetischen Regionalstaatsanwalt Kornew. Dem jungen Absolventen wird ein mit Blut beschriebenes Stück Pappe zugespielt. Darauf bittet ein Gefangener um Untersuchung seines Falls. Als der Staatsanwalt nach langem Ringen den Häftling aufsuchen kann, trifft er in einer stinkenden Einzelzelle den schwer misshandelten Jura-Dozenten Stepjanek. Er war sein Vorbild am Institut.  Es ist das Jahr 1937. Stalin sichert seine Herrschaft durch beispiellose Säuberungsaktionen. Etwa 800.000 Menschen werden in der Zeit des Großen Terrors erschossen.

Der renommierte Regisseur Sergei Loznitsa inszeniert das Kerker-System des Stalinismus als kafkaeskes Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gibt. Über den internierten, alten Genossen, vom NKWD-Geheimdienst als „Feind des Volkes“ beschuldigt, witzeln die Gefängnisaufseher: „Vor der Revolution hat er im Gefängnis gewartet. Nach der Revolution hat das Gefängnis auf ihn gewartet.“ Der Film steigt hinab in die geheimen Maschinenräume des Stalin-Systems. „Wo gehobelt wird, fallen Späne“, verkündete Josef Wissarionowitsch Stalin und: „Kein Mensch, kein Problem!“

 

 

Das Absurde, ja das Unfassbare: Reihenweise werden Kämpfer der ersten Stunde, verdiente Genossen und Weggefährten Lenins unter dem Vorwand der Konterrevolution eingesperrt und zum Geständnis gezwungen. „Verbannt ohne Recht auf Korrespondenz“, heißt es in den Akten. Eine Chiffre für „erschossen“. Wer „verdächtig“ ist, wird weggeräumt. „War freies Denken in Russland schon immer viel gefährlicher gewesen als Diebstahl, so war es jetzt beinah selbstmörderisch.“ Dieses Zitat verdanken wir dem Gulag-Überlebenden Georgi Demidow. Ein Physiker, der 1937 in Charkiw wegen einer kritischen Wandzeitung zu vierzehn Jahren Lagerhaft in Sibirien verurteilt wurde. Demidow schrieb alles auf. Seine Romane bleiben unveröffentlicht. Tragisch: Drei Jahre nach seinem Tod 1987 gibt Gorbatschow die konfiszierten Texte im Rahmen der Perestroika frei.

Der neue Film folgt konsequent der erschütternden Romanvorlage. Ein Höhepunkt ist das Treffen in der Kerkerzelle. Der misstrauische und vom Tod gezeichnete Alte sagt dem blutjungen Juristen: „Hör zu, Junge. Ich mache mir keine Sorgen um mich, ich bin sowieso tot. Für unsere revolutionäre Sache zerreisst´s mir die Seele. Wenn du ein wirklich ein echter Bolschewik bist, kein Feigling und ein ehrlicher sowjetischer Jurist, fahr heut nach Moskau. Verschaff dir eine Audienz bei Stalin.“

 

„Der Kapitän der Länder der Sowjets steuert uns von Sieg zu Sieg“ Propagandaplakat von 1933. © ullstein.

 

Regionalstaatsanwalt Michail Alexejewitsch Kornew schafft es mit „knabenhafter Hartnäckigkeit“ bis zum Generalstaatsanwalt in Moskau. Tatsächlich wird er vorgelassen. Der Oberste Hüter der sowjetischen Rechtsprechung hört sich den Bericht des Provinzstaatsanwalts an. Er werde sich kümmern, versichert er. Das Schicksal nimmt seinen Lauf…

War der wahrheitssuchende Staatsanwalt ein blauäugiger Naivling? Eine Art Don Quichotte? Der ukrainische Regisseur Loznitsa verneint diese Frage vehement. Nein, der junge Mann sei ein Idealist gewesen. Ohne Menschen wie ihn würden wir nichts über das wahre Gesicht der „sowjetischen Gerechtigkeit“ erfahren. Unter Stalin, so Losnitza, seien im Großen Terror täglich dreitausend Menschen erschossen worden. Heute würden jeden Tag tausend Menschen in den Schützengräben im Auftrag Moskaus verbluten.

 

Georgi Demidow. (1908-1987) Physiker. Gulag-Häftling. Autor. Die Veröffentlichung seiner Romane erlebte er nicht mehr.

 

Film und Buch berichten nüchtern und ohne falsches Pathos aus dem Hinterhof des Menschheitsversprechens Sozialismus. Bedrückend aktuell und zugegeben, es ist harte Kost. Allerdings mit hohem Erkenntnisgewinn. Das Buch „Zwei Staatsanwälte“ zählt laut Zeit zu den hundert wichtigsten Büchern des Jahres 2025. Der neue Film, uraufgeführt in Cannes, hat mindestens ähnliches Potenzial.

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Held der Arbeit

Wir brauchen sie. Andere erschaffen sie: Helden des Alltags. Sie helfen uns, den vielen Widrigkeiten zu trotzen. Am aufregendsten sind Helden wider Willen. Menschen wie du und ich, die über sich hinauswachsen. Wolfgang Becker ist so einer. Ein Mann, der im Stillen wirkte, hinter der Kamera, ohne großes Gedöns. Dieser Autor, Filmemacher und Kultregisseur. Good Bye, Lenin, sein Welterfolg. „Der witzigste deutsche Wendefilm aller Zeiten“, wie die internationale Presse jubelte. Vor genau einem Jahr ist Becker im Alter von siebzig Jahren verstorben. Bis zum Schluss hatte er an seinen letzten großen Kinofilm gearbeitet. „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße.“ Eine bittersüße Komödie vom Feinsten.

Nach der Romanvorlage von Maxim Leo entwickelte Becker eine rasante Schwindelgeschichte über Sensationsgier und Scheinheiligkeit von Medien, Politik und Gesellschaft. Denn: Das Land braucht neue Helden. Micha, ein erfolgloser Videothekenbetreiber, wird zum „ostdeutschen Oskar Schindler“ hochgejazzt. Eine Paraderolle für Charly Hübner. Der Plot: der ehemalige Reichsbahner Micha habe 1984 am Berliner Bahnhof Friedrichstraße die Weichen für eine vollbesetzte S-Bahn in die Freiheit gestellt. Alles Schabernack, alles erfunden, aber „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Mit dabei ein Starensemble von Christiane Paul über Daniel Brühl bis Jürgen Vogel. Sogar Eisprinzessin Kati Witt wirkt als Gast mit.

 

 

Regisseur Wolfgang Becker liebte Außenseiter, schräge Typen und Tagträumer. Er gab ihnen den nötigen Raum, ob bei Das Leben ist eine Baustelle (1997), Good Bye, Lenin (2003) oder in der Romanverfilmung Ich & Kaminski nach Daniel Kehlmann  (2015). Manchmal spielte der gebürtige Westfale in kleinen Nebenrollen selbst mit: als gescheiterter Stasi-Spitzel oder als KZ-Kommandant. Seine wenigen, gleichwohl wichtigen Filme zeichnen Herzenswärme, Genauigkeit und Komik aus. Das Einfache, das so schwer zu machen ist.

 

Das Heldenteam vom Bahnhof Friedrichstraße: Charly Hübner, Christiane Paul, Maxim Leo, Leonie Benesch und Wolfgang Becker. (von links nach rechts). Foto: X Verleih AG, Frederic Batie.

 

In seinem Abschiedsfilm „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ bringt Becker den Zeitgeist im vereinten Land auf den Punkt. Dieses Gebräu aus klick-geilen Medien, publicitysüchtigen Politikern und überhitzten TikTok-Trends. In diesem Biotop gedeihen blühende Landschaften voller Personenkult, Verdummung und Geschichtsverdrehung. Wolfgang Beckers Antwort: Versöhnung durch Humor. Er erzählt einmal mehr eine deutsch-deutsche Geschichte, die nicht nur von Siegern geschrieben wird. Sondern von „Helden wider Willen“ wie Micha alias Charly Hübner, der den Schriftsteller Uwe Johnson zitiert: „Kenntnisnahme voneinander.“ Das ist es. Dazu ein Augenzwinkern. Mehr geht nicht.

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„Mein Engel, mein alles, mein Ich“ 

Wann hat Sie der letzte handgeschriebene Brief erfreut? Wann haben Sie einen auf die Reise geschickt? Ja, mit Briefmarke draufgeklebt und zum Briefkasten getragen? – Vermutlich verdammt lang her. Im Zeitalter von WhatsApp, Snapchat und anderen Messenger-Diensten ist das Briefeschreiben völlig aus der Mode geraten. Es kommt noch dicker. Dänemark stellt als erstes europäische Land die Zustellung von Privatbriefen komplett ein. Ab Neujahr 2026 klingelt der Briefträger nicht mehr zweimal. Aus und vorbei. Die staatliche Post-Nord erklärt: In den vergangenen 25 Jahren sei das Briefvolumen um mehr als neunzig Prozent eingebrochen. Öffentliche Briefkästen werden abgebaut, Zustellnetze gekappt. Nach 160 Jahren Briefpost ist Schluss. Nur noch Pakete werden ausgeliefert.

 

Ein Schatz. (Liebes-)Briefe aus den frühen Achtzigern, den Mauerzeiten des 20. Jahrhunderts, als der Himmel über Berlin noch geteilt war. Ein Dank an das DDR-Ministerium für Staatssicherheit für deren Aufbewahrung.

 

Damit endet eine fünftausend jährige Geschichte der Postübermittlung. Angefangen mit den Papyrus-Botschaften im alten Ägypten über staatliche, nicht private Briefbeförderung unter Kaiser Augustus im Römischen Reich bis zur „Post für alle“, eingeführt von Reichskanzler Bismarck im Jahre 1871. In Deutschland existiert laut Postgesetz noch eine Zustellungspflicht an zwei Werktagen pro Woche. Private Briefe per Hand? Längst ein seltenes Luxusgut. Mehr als 95 Prozent der Briefe sind heute Rechnungen, Bußgeldbescheide oder Reklamekram. Wer schreibt noch Liebesbriefe, Abenteuergeschichten, Urlaubsberichte mit Füllfederhalter oder Kuli? Brieffreundschaften? Das war einmal. Alles Geschichten aus einem Land vor unserer Zeit.

„Ich küsse Dich Millionen Mal.“ Herzensbotschaften werden heute per Klick, mit Herzchen und Sonnenuntergangsbild in Sekundenschnelle gepostet. Handschrift? Briefumschlag? Porto? Anstrengend, aufwändig und langsam. Dabei verkörpert ein handgeschriebener Brief etwas, was digitale Kommunikation nie leisten kann: Persönlichkeit, Einmaligkeit, Intimität. Schreiben per Hand verlangsamt — im positiven Sinn. Man überlegt länger, formuliert bewusster und kommt nicht selten auf bessere Ideen und Gedanken.

 

Beethoven schreibt am 6. Juli 1812 an eine Unbekannte diesen Brief: „Mein Engel, mein alles, mein Ich. – … meine unsterbliche Geliebte.“ Der Brief ist bis heute erhalten. Welche Mail wird in zweihundert Jahren noch in welcher Cloud zu finden sein?

 

Franz Kafka hat seiner Verlobten Felice die schönsten Zeilen in Briefen gewidmet: „Nichts verbindet zwei Menschen so vollständig, besonders wenn sie, wie Sie und ich, nur Worte haben“. Schriftstellerin Ingeborg Bachmann schrieb mit 27 Jahren frisch verliebt an den Dichter Paul Celan: „Für mich bist Du Wüste und Meer und alles, was Geheimnis ist“. Der wohl berühmteste Liebesbrief stammt von Ludwig van Beethoven: „Meine unsterbliche Geliebte. Leben kann ich entweder nur ganz mit Dir oder gar nicht. Oh, liebe mich fort. Verkenne nie das treuste Herz Deines Geliebten. Ewig Dein. Ewig mein. Ewig Uns.“ Wer die Angebetete war, weiß nur Beethoven selbst. Seit 150 Jahren debattiert die Literaturwissenschaft die Frage, ob es sich vielleicht doch um Josephine Stackelberg geb. Brunsvick verwitwete Deym gehandelt haben könnte.

 

 

Beethovens achtseitiges Buhlen mit Bleistift auf vergilbtem Papier hat mehr als zweihundert Jahre überdauert: „Mein Engel, mein alles, mein Ich“. Ein Liebesbrief für die Ewigkeit. Schreibt Briefe, solange es noch geht.