Das Narrenschiff
„Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie.“ Diesen Phantomschmerz prophezeite in den neunziger Jahren der kluge Schriftsteller Jurek Becker. Der stets ironisch-melancholische Becker kannte sich mit den Deutschen aus, ob als Autor von „Jakob, der Lügner“ oder der TV-Serie „Liebling Kreuzberg“. Es dauert nicht mehr lange, dann ist die DDR so lange tot wie sie existiert hat – etwas mehr als vierzig Jahre. Jetzt hat der große Erzähler Christoph Hein die Geschichte dieses kleinen untergegangen Landes als Gesamtpanorama erzählt. Er berichtet auf 750 Seiten über die Reise eines Narrenschiffs. Losgesegelt mit großem Anspruch, am Ende kläglich gekentert. Im Mittelpunkt seines Opus magnum steht das mittlere Management des ersten Arbeiter- und Bauernstaates.

„Wer uns angreift, wird vernichtet!“ Die DDR im Kalten Krieg. Berlin-Mitte. Anfang der sechziger Jahre.
An Bord des Narrenschiffs versammeln sich „überzeugte Kommunisten, ehemals begeisterte Nazis, in Intrigen verstrickte Funktionäre, ihre Bürgerlichkeit in den Realsozialismus hinüberrettende Intellektuelle, Schuhverkäufer, Kellner, Fabrikarbeiter, Hausmeister“, dazu kleine und große Stasi-Leute. Alle richten sich irgendwie ein. Anpassung, Opportunismus und vorauseilender Gehorsam prägen die Nachkriegsfiguren. Ihr Ziel: Den Krieg vergessen, was Neues beginnen. Davon träumen die Soldatenwitwe und Bürohilfskraft Yvonne, der einstige Fahnenjunker-Feldwebel und Ingenieur Johannes. Rita, die Stellvertreterin des Bürgermeisters, ihr Ehemann der Ökonomieprofessor Karsten. Nicht zu vergessen der große Shakespeare-Experte Benaja, der in der DDR hängenbleibt.
Alle Aufbauhelden in Heins großer DDR-Geschichte von 1945 bis 1990 eint das Mitmachen. Wegducken. In-Kauf-Nehmen. Stets geht es um den kleinen Vorteil und das große Ganze. Opportunismus in allen Farben und Schattierungen. Weiß Gott, kein Alleinstellungsmerkmal der DDR. Hatte der SED-Staat jemals eine Chance einen Platz in der Weltgeschichte zu erringen? Nein, meint Romancier Hein. In dieser Frage ist er knallhart. Die DDR sei „ideologisch, wirtschaftlich und politisch chancenlos“ gewesen. In einem Interview mit dem SPIEGEL setzt der 81-jährige noch eins drauf: »Von der DDR wird nichts bleiben. Sie wird vergessen werden«
Für manche mag sein Erzählstil ein wenig altmodisch und betulich wirken. Aber Christoph Hein schreibt klar, präzise und ohne Scheuklappen. Hein urteilt nicht. Er belehrt nicht. Er verstehe sich keineswegs „als Ankläger, Verteidiger oder Richter“ seiner Figuren. Sein Credo: Er beobachte Menschen wie sie sind, was sie umtreibt, auf ihrer Suche nach dem kleinen und großen Glück. Die bittere Pointe am Ende von Heins Narrenschiff: In der neuen Zeit nach der Einheit von 1990 erlebten viele DDR-Bürger, dass ihre großen Hoffnungen auf einen Neuanfang platzten. Dass bei aller Freiheit nun das Grundbuch mehr zählt als das Grundgesetz. Diese große Nachwende-Geschichte seit der Vereinigung muss und kann noch geschrieben werden.
Sehr zu empfehlen: Christoph Hein. Das Narrenschiff. Suhrkamp. 2025