„Da müssen wir durch“
Leben im Sperrgebiet. Die Sonne strahlt. Kraniche ziehen übers Land. Birken blühen auf. Kröten wandern. Nicht wenige bleiben platt am Straßenrand zurück. Trecker auf Feldwegen wirbeln dickbraune Staubwolken auf. Sie schütten literweise streng riechende Gülle auf ihre Äcker. Es ist eigentlich wie jedes Frühjahr. Die märkische Heide ist im dritten Jahr staubtrocken. Wir warten auf die Störche. Oder gilt für sie auch das neue Einreiseverbot wie für alle Fremden, besonders diejenigen aus Berlin? Das kleine Herzdorf, wie unser Dorf in meinem Buch heißt, befindet sich seit zwei Wochen mitten in der Verbotszone. Der zuständige brandenburgische Landkreis OPR (Ostprignitz-Ruppin) hat ein Betretungsverbot erlassen. Corona führt Regie.
Wenige Tage vor Ostern fiel überraschend das Einreiseverbot. Nun dürfen Berliner mit Zweitwohnsitz ihre Feriendomizile wieder betreten. Zwei Berliner hatten sich mit ihrer Klage vor Gericht durchgesetzt. Einer der Kläger ist unser Nachbar. Und die Einheimischen? Sie sind hin- und hergerissen. Sie ziehen sich auf eingeübte Positionen zurück. „Was soll man machen? Die da oben machen sowieso was sie wollen.“ Selbst in schlimmsten Corona-Zeiten wie diesen bewährt sich die gewohnt märkische Sturheit. Manche nennen es Lebensklugheit.
Auf den ersten Blick präsentiert sich das „verbotene Land“ wie immer zu Ostern. In den Vorgärten mit bunten Eiern geschmückte Sträucher. Im Park ein beeindruckender Holzstapel. Doch das Osterfeuer fällt aus. Erstens wegen Waldbrandgefahr. Wie im Vorjahr. Zweitens wegen Corona, natürlich. Dieses Jahr gibt es strafverschärfend weder Bier am Feuerwehrhaus. Noch das Osterkonzert für bildungshungrige Besucher. Kein Reiten für Kinder. Kein Bett über Nacht. Eine Landfrau winkt ab. „Da müssen wir durch. Ist immer noch besser als Krieg. Wir haben zu essen, zu trinken, der Fernseher läuft. Wird schon werden.“ Sie lächelt und geht hinter die Scheune Holz hacken.
Die Corona-Krise erinnert die Älteren im Dorf an den ungewöhnlich warmen Frühling 1945. Es waren Monate der Zeitenwende ohne Fernseher, Whatsapp oder Facebook aber mit Durchhalteparolen, Endsieg-Geschrei, Tieffliegern, Rotarmisten auf Panje-Wagen, Wodka, Vergewaltigungen, Kapitulation, Befreiung. Als urplötzlich alle Nazis weg waren und der Hunger zum täglichen Küchenmeister wurde. Als aus Graupen Suppen gezaubert und Katzen zu Delikatessen verarbeitet wurden. Als ein einziges Brot einen ganzen Wochenlohn wert war. Was die Kunst des Erinnerns heute ausrichten kann, ist möglicherweise die Erfahrung, dass uns das Erzählen solcher Situationen wieder zu Bodenhaftung und Demut verhelfen kann. Wenn wir bereit sind zuzuhören.
Aktualisierung: Eine gute Nachricht vom Lande. Der Storch ist seit dem 10. April 2020 wieder da.
Zur Kunst des Erinnerns noch eine spannende viertelstündige Kurzgeschichte von einem gewissen Robert Zimmermann, besser bekannt als Bob Dylan. Er lässt in seinem brandneuen Sprechgesang Murder most foul einen Mann aus hoffnungsvollen Zeiten wiederauferstehen – John F. Kennedy. Es ist Dylans Geschichte zu Ostern 2020.
Seid in diesen Ausnahmezeiten alle digital gedrückt!