Last Exit, Kabul
Check-in Kabul. Am deutschen Flughafen pflaumt uns die Lufthansa-Mitarbeiterin an: „Da haben wir nichts zu suchen!“ In der Maschine sitzt eine merkwürdige Mischung aus Geheimdienstleuten, Militärs, Vertretern von NGOs, mein Kameramann und ich. Eine Woche lang wollen wir herausfinden, wie der Stand der Demokratisierung im Land am Hindukusch ist. Wir treffen Frauenrechtlerinnen, Journalistinnen, den Leiter einer Lehrlingswerkstatt, einen vorsichtigen, einheimischen Wahlbeobachter und einen traumatisierten Filmemacher. Das war vor gut zehn Jahren. Was hat sich geändert? Was die Hoffnungen betrifft, nichts. Was die Befürchtungen angeht, alles. Ein filmreifes Ende wie in einem Hollywood-Blockbuster. Die korrupte Elite hat sich im Hubschrauber abgesetzt. Doch für die Menschen sind alle Illusionen zerstört.
Der 36-jährige Regisseur Aboozar Amini hat Anfang 2021 den beeindruckenden Dokumentarfilm Kabul, City in in the Wind in Deutschland veröffentlicht. Die Fortsetzung als Spielfilm „Ways to run“ musste in den letzten Tagen gestoppt werden. Amini ist in Sicherheit. Sein ganzes Team aber in Kabul in großer Gefahr.
Hier sollen einige Stimmen aus der afghanischen Kulturbranche zu Wort kommen. Es sind selbstbewusste, stolze, mutige Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte aktiv einsetzen. Sie leben in Angst. Ihre Namen sind geändert.
„T. hat über einhundert Filme produziert. Er liebt das Action-Kino, in dem am Ende immer das Gute siegt. T. ist eine Art Bud Spencer. Er nimmt selbst auswegloseste Situationen mit Humor. In einem kleinen Kabuler Studio arbeitet er wie ein Besessener. Außer Actionkino hat er unzählige Dokumentarfilme über Drogen, Armut und Frauenrechte in seinem Land gedreht. „Bei den Dreharbeiten habe ich einmal acht Mitarbeiter verloren. Wir wurden während unserer Aufnahmen von den Taliban beschossen.“ T. wurde verletzt, machte weiter: „Zukunft? Das ist wohl ein Witz. Unsere Regierung ist korrupt, die Taliban sprengen uns in die Luft, unsere Kinder hungern und der Rest der Welt versucht seit Jahren etwas zu verbessern. Ich mache Filme, das ist alles. Ich habe bei den Märtyrern geschworen, das afghanische Kino Tag für Tag besser zu machen.“
Afghanistan ist eine Männergesellschaft. In einem unscheinbaren Hinterhof der Hauptstadt arbeitet einer der mutigsten Frauen des Neuanfangs. Die Journalistin Z. hat einen Terminkalender wie eine Managerin. Pausenlos klingeln ihre drei Telefone. Die Mutter von fünf Kindern ist eine viel gefragte Gesprächspartnerin: „Uns gibt es wirklich. Das Afghanische Frauenradio. Dieser Sender ist die erste weibliche Stimme in unserer Geschichte.“ Die Angehörige einer alteingesessenen Familie mit 150-jähriger Stammesgeschichte hat unzählige Morddrohungen erhalten. Aber nur vor einem hat sie Angst, dass sie mit den Taliban allein gelassen wird. „Ich denke ein guter Mensch lässt seinen Freund in schweren Zeiten nicht in Stich. Wenn Ihre Streitkräfte uns jetzt verlassen, bleibt alles auf halber Strecke stehen. Wollen Sie das wirklich?“
Die Mehrheit der Afghanen ist unter zwanzig. Die Jugend hat vom Krieg die Nase gestrichen voll. Die Jungen wollen ein neues, ein anderes Afghanistan, dafür steht der Sender Tolo TV. Nachrichtenchefin A. hat wenig Zeit. Die Mittzwanzigerin betont, Afghanistan sei viel mehr als Attentate, Bomben und Gewalt. Dann schaut sie uns direkt an: „Warten Sie! Ich möchte noch etwas Wichtiges sagen. Afghanistan ist auch für den Rest der Welt wichtig. Falls andere Länder uns im Stich lassen, ist es möglich, dass diese Länder eines Tages selbst Probleme bekommen.“
„Eine Reise nach Kabul“ lief 2010 im ZDF. Unser afghanischer Producer konnte sich mittlerweile in Sicherheit bringen.
Nichts gelernt? Die traurige Wahrheit ist eindeutig ja. „Was haben wir dort zu suchen“, war die Frage schon vor 12 Jahren. Beklemmend aktuelle Antworten damals u.a. von Khazan Gul („Freundeskreis Afghanistan“) und Peter Scholl-Latour. Man hätte nur zuhören müssen. Sehr zu empfehlen.