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Chemnitz, mon amour?

Die Blätter fallen. Bald ist das europäische Kulturhauptstadtjahr Geschichte. Chemnitz feiert die letzten Herbsttage mit viel Kunst und Kultur. Dieses geschundene „sächsische Manchester“ mit mehr Schornsteinen als Kirchtürmen. Mehr Fabriken als Schlössern. Ein lebendiges Industriemuseum, mit Gießereien, Webmaschinen, Erz, Fahrzeugen, Fit, Karl Marx, Kraftclub und Kati Witt. Die Hoffnungen der einstigen Malocherstadt für die Zukunft: Start-ups, E-Mobilität, Wasserstoff-Energie und KI. Alles Visionen und Versprechen, zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum.

In Chemnitz ist einiges zu entdecken: von der großen Edvard Munch-Ausstellung über die hochgelobte Operninszenierung „Rummelplatz“ bis zum Projekt Offener Prozess, dem Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen. Eine Ausstellung mitten im Wahlkreis von Alexander Gauland, dem Gründervater der AfD. Ohne Kulturhauptstadtstatus wäre dieses Projekt undenkbar.

 

„Handwerkertöchter“. Selbst ist die Frau. Zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum Chemnitz.

 

Die meisten großen Events enden im November 2025. Was hat das Projekt nun gebracht? Es gebe ein neues Wir-Gefühl, sagen viele. Ja, die herbe Schönheit hat sich aufgehübscht. Ja, die großen Straßen und Plätze wirken abends weiter leer und verlassen, aber in vielen Industrieruinen blüht neues Leben auf. „C the Unseen“, das Motto der 250.000-Einwohner-Stadt, hat die Sachsen-Stadt ein Stück sichtbarer gemacht. Als lebenswerter Ort mit Ecken, Kanten und Brüchen. Chemnitz, das Aschenputtel, leuchtet in der Nacht. Jeden Abend schickt der 300 Meter-hohe Schornstein eines Heizkraftwerkes wie ein Leuchtturm seine Signale in die Ferne.

 

Chemnitz leuchtet: Der 302 Meter hohe Schornstein des Chemnitzer Heizkraftwerks leuchtet bereits seit 2017. Insgesamt 168 LED-Leuchten erhellen das vermutlich höchste Kunstwerk der Welt. Foto: Peter Zschage

 

Wer kann, hat jetzt eine letzte Gelegenheit, die Kulturhauptstadt Europas kennenzulernen. Jenseits aller üblichen Ost-Klischees bietet der Stadtteil Kaßberg hohe Lebensqualität mit Jugendstilvillen und Gründerzeitchic. Ein Geheimtipp ist das kleine Café Supp-Kultur. Freundliches Personal, nettes Ambiente, preisgünstiger Mittagstisch. Die Tagessuppe zu 4,20. Dafür gibt’s in Berlin-Mitte nicht einmal mehr den üblichen Latte Macchiato. Übrigens, eine hübsche Drei-Zimmer-Altbauwohnung wird für 670 Euro Warmmiete angeboten.

Auf nach Chemnitz? Tja. Wir alle wissen: Nichts ist stabiler als ein Vorurteil. Dagegen versuchen die Kulturleute seit Anfang des Jahres anzugehen: Bei der Ost Vision, eine Art Messe für Menschen unter 30 mit Musik, Workshops und Gesprächen wurden zunächst alle Klischees eingesammelt: „Alles Nazis dort, hässliche Stadt, kein Fortschritt, das Chemnitzer Lächeln gehe nur mit Mundwinkeln nach unten.“ Debattiert wurde die alte Ost-Frage: Bleiben oder gehen? Junge Menschen wollen Treffpunkte, die nicht früh schließen oder unbezahlbar sind. Jede/r – auch in Chemnitz – will mal an die Sonne. Beginnt nun etwas zu keimen? Immerhin wollen heute nicht mehr alle sofort nach der Schule weg.

 

Neues Leben in alten Gemäuern. Der Wirkbau mit seinem Club Atomino. Ein Hotspot in Chemnitz.

 

Das andere Chemnitz. Seit 25 Jahren trommelt der Kultclub Atomino mit Partys, Konzerten, Lesungen und Quizabenden gegen die Tristesse an. Mit „Absurdität, Übermut, Ekstase und Selbstironie“, so die Eigenwerbung und „dem schönsten Dachgarten der Welt“. Alles beheimatet in einem einst stolzen Textilmaschinenwerk, heute Wirkbau genannt, eines von 350 Industriedenkmalen der Stadt. In der Stadt ist tatsächlich viel Raum für Neues. Die Hauptattraktion jedoch bleibt ein großer, schwarzer, massiver Granitschädel, der „Nischl“. Ja, er ist noch da: Karl Marx. Bis 1990 trug die Stadt seinen Namen. Dabei war der Mann nie in Chemnitz. Wie so viele, die eher Klischees über die oft übersehene Stadt in Sachsen im Kopf haben. Noch ist das Kulturhauptstadtjahr nicht zu Ende.

 

So wirbt Chemnitz für die Kulturhauptstadt Europas 2025. Ziel: ein neues Wir-Gefühl!

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Mein Opa, der Nazi

Was tun, wenn der eigene Großvater Teil des NS-Regimes war? Unabdingbar stellen sich Fragen. War er in Verbrechen verstrickt oder einer der vielen Mitläufer? Wie konnte es dazu kommen? Was war seine Rolle? In vielen Familien wird die Geschichte der Vorfahren bis heute eher beschwiegen. Einige wenige haben sich dieser Frage gestellt: Albert Speer-Tochter Hilde Schramm oder Niklas Frank, Sohn der NS-Größe Hans Frank. Ein zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher, genannt der „Schlächter von Polen“. Jetzt wagt sich Unternehmer Dominik von Ribbentrop mit seinem lesenswerten Buch „Verstehen. Kein Verständnis“ auf vermintes Gelände. Joachim von Ribbentrop war sein Großvater und Hitlers Außenminister. Er fädelte 1939 den Hitler-Stalin-Pakt ein. Persönlich kannten sie sich nicht. Der Großvater wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet.

Ribbentrops letzte Worte auf dem Schafott: „Gott schütze Deutschland!“ Enkel Dominik versucht auf 336 Seiten eine Annäherung an einen Diplomaten, den Hitler als „besten Außenminister seit Bismarck“ lobte. Die Geschichte sieht in ihm einen „Erfüllungsgehilfen, Vasall, Schergen und Lakai“ Hitlers. Ein Hardliner und Karrierist. Eisig, arrogant und abweisend. Getrieben von einer Eitelkeit, die stets mehr verlangte.

 

Joachim von Ribbentrop (1893 – 1946) NS-Außenminister. Er fädelte 1939 den Hitler-Stalin-Pakt ein. Die Aufnahme entstand in Nürnberg, nach Kriegsende am Rande des Kriegsverbrecherprozesses.

 

Enkel Dominik beschreibt seinen Großvater als sprachbegabten Abenteurer. Ein preußischer Offizierssohn aus Wesel. Geigenspieler mit englischem Hauslehrer und Auslandsaufenthalten in Kanada und der Schweiz. Er heiratet nach dem I. Weltkrieg in die Familie des Sektkonzerns Henkell ein. Kurzum: Ein „Feingeist, und empathischer Romantiker“, im turbulent-nervösen Babylon Berlin Schaumwein- und Whiskeyhändler. Wohlhabend mit Luxus-Villa in Dahlem. Fünf Kinder, sorgenfrei und eher unpolitisch. In der Weltwirtschaftskrise sympathisiert er mit der aufsteigenden nationalen Rechten. 1932 stellen sich entscheidende Weichen.

Der Unternehmer und Kommunistengegner Ribbentrop lernt im August 1932 Hitler auf dem Berghof kennen. Er sieht in seine „hypnotisch beschriebenen blauen Augen“. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. 1932 Eintritt in die NSDAP, wenig später SS-Standartenführer. Hitler wird Patenonkel von Ribbentrop-Sohn Adolf, der Vater des Buchautors Dominik. Im Januar 1933 treffen sich im Ribbentrop-Anwesen in der Dahlemer Lentzeallee Teile des künftigen Hitler-Kabinetts. Dort wird die Machtübernahme vorbereitet, deren drei Voraussetzungen „tiefgreifende nationale Kränkung, wirtschaftliche Abstiegsängste und ein mitreißender Demagoge“ waren, so Enkel Ribbentrop.

 

Vom unpolitischen, wohlhabenden Schaumweinhändler zum überzeugten Nazi in der ersten Reihe. Ribbentrop (vorne) 1941 im Reichstag.

 

Sein Großvater macht als Sondergesandter Hitlers Karriere. Er schließt 1935 ein Flottenabkommen mit den Briten, wird 1938 Außenminister. „Der Führer“ ist längst sein Mephisto, sein „gewissenloser Verführer“.  Wie lässt sich diese Radikalisierung erklären? Im Großvater würden sich „typisch deutsche Eigenschaften wie Idealismus und Angst, auch Genialität, Naivität und Radikalität auf schicksalhafte Weise“ verdichten. Ribbentrops Coup: Der „Hitler-Stalin-Pakt“ vom 23. August 1939, wenige Tage vor Ausbruch des II. Weltkrieges.

Ein großer Deal der beiden Diktatoren, „ein Ereignis welthistorischen Formats“, so der Enkel. Das Abkommen in Moskau über die Teilung Polens sei mit viel Wodka und einem schlecht gespitzten Bleistift besiegelt worden, „so dass der Strich auf der Landkarte in der Realität zwei bis drei Kilometer entsprach“. Ribbentrop fragte Stalin, wie er so viel Wodka vertragen könne. „Der lachte verschmitzt und antwortete, dass er seinen Dienern befohlen habe, sein Glas immer nur mit leichtem Wein zu füllen“.

 

Der Händedruck von Moskau besiegelt im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt. Danach beginnt der II. Weltkrieg. Rechts: Joachim von Ribbentrop.

 

Joachim von Ribbentrop war nicht Organisator der „Endlösung“, aber Mitmacher und Zuarbeiter. Sein Auswärtiges Amt war für Vorbereitung, Mitwirkung und Abschirmung des Holocaust verantwortlich. In den Jahren 1942 bis 1945 wird der großbürgerliche ehemalige Schaumweinhändler Ribbentrop kaltgestellt, er gilt im innersten Zirkel der Hardcore-Nazis als bürgerlicher Sonderling. „Für mich sind sein Gesichtsausdruck und seine verkrampfte Körperhaltung in den späten Kriegsjahren vielsagend“, meint der Enkel. Doch sein „Schweigen … ausblenden, ignorieren, wegsehen waren zentral für das Funktionieren dieses Regimes“.

In seiner Rechtfertigungsschrift, verfasst in der Nürnberger Gefängniszelle, schreibt Joachim von Ribbentrop: „Mit wem soll ich eigentlich noch über außenpolitische Fragen im Ausland reden? Alle in Fragen kommenden ausländischen Gesprächspartnern gehörten irgendwelchen Gruppen an, denen wir auf die Füße treten. Es war nicht nur die Judenfrage, die eine große Belastung für eine deutsche Außenpolitik darstellte. Zu den weiteren ideologischen Gegnern gehörten Sozialisten, Liberale, Kapitalisten, Freimaurer, Monarchisten, bestimmte Rassen, bestimmte Kunstrichtungen und Künstler, nicht zuletzt die Kirchen, Rotary Clubs und andere mehr.“

 

Adolf Hitler und Joachim von Ribbentrop. 1935. Quelle: Familienarchiv Ribbentrop

 

Großvater Ribbentrop hält an seiner Nibelungentreue bis zum Untergang fest. Im Januar 1945 ein letzter Versuch. Er bietet Hitler an, mit seiner Familie als Pfand nach Moskau zu fliegen, um Friedensgespräche mit Stalin zu führen. Hitler lehnt ab: „Ribbentrop, machen Sie mir keine Sachen wie Heß!“ Im Mai 45 taucht er mit falschem Namen unter, wird denunziert und rasch festgenommen. Die eigene Nazi-Geschichte verstehen, heißt nicht Verständnis zeigen, ist das Mantra des Buches. Enkel Dominik: „Der Spagat zwischen das Gute doch wollen und das Böse mitmachen, war ein teuflisches und unüberwindbares Dilemma für den Außenminister und vermutlich für einen Großteil seiner Generation.“

 

 

Wiederholt sich Geschichte? Nein, aber sie reimt sich, meinte Mark Twain. Dominik Ribbentrop versucht sich am Ende seines Buches mit Anmerkungen eines Enkels. Seine Schlussfolgerungen für heute – stabile Wirtschaft, Selbstverantwortung, „pazifischer Realismus“ – lesen sich wie eine gut gemeinte Bergpredigt. Hilfreicher wäre es gewesen, mehr über „die Banalität des Bösen“ in der eigenen Familie zu erfahren. Was tun, wenn der Opa ein Nazi war, noch dazu in herausragender Position?

Dominik von Ribbentrop. Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels. Inkl. eines Dialogs mit Rüdiger Safranski. Westend-Verlag. 2025.

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Der eiserne Gustav

Der Volksmund warnt: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ Gustav Hartmann aus Berlin-Wannsee ist Droschkenfahrer mit Leib und Seele. Er setzt auf Pferdestärke, PS genannt. Doch der knorrige Alte setzt stur aufs falsche Pferd. Autos hasst er. Sie sind laut, stinken und eine Zeiterscheinung, die bald vergeht. Gustav ist sich sicher: „Mit solchen Benzinstinkern mache ich mich nicht gemein! Das sind doch alles bloß Todeskandidaten, und in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr was von ihren Töfftöffs. Da ist die Mode vorbei“. Der kauzige Gustav weigert sich, die neue benzingetriebene Konkurrenz ernst zu nehmen. Warum? Ich bin “immer pünktlich auf die Minute, und dann im schlanken Trabe durch, und dabei kein Gejachter mit Peitschengeknall und Gejohle, und vor allem nie Streit mit diesen neumodischen Automobilen!“ Auch wenn Gustav nur noch Urinproben vom Krankenhaus ins Labor kutschieren darf.

 

„Der eiserne Gustav“ (1938) von Hans Fallada. Es brauchte fast achtzig Jahre, bis der Roman unzensiert erscheinen konnte.

 

Wir schreiben das Jahr 1928. Die Motorisierungswelle überrollt das Land. Das Pferd verkommt zum Kollateralschaden der Moderne. Schriftsteller Hans Fallada setzt dem unbeugsamen Kutscher im „Eisernen Gustav“ 1938 ein Denkmal: „Man muss nur in sein Gesicht sehen, dieses faltige Gesicht wie ein scholliger Acker, Jahr um Jahr säte neue Enttäuschung, schlimmere Niederlage, bitteres Entbehren ein. Aber die Augen sind hell geblieben, der Mund findet immer noch ein Witzwort. Alles, was geschah, hat ihn nicht weichschlagen können, er ist wahrhaft der eiserne Gustav, er hat das Hoffen nicht verlernt.“

Es kommt, wie es kommen muss. Der echte Gustav geht pleite. Er muss sich mit einem Kneipenjob durchschlagen. Plötzlich hat er eine Idee: Ich zeige allen noch einmal, was ein Pferdekutscher kann. Am 2. April 1928 bricht er mit Wallach Grasmus und Reporter Hans Hermann Theobald zu einer Marathontour nach Paris auf. Die französische Hauptstadt erreicht er nach gut tausend Kilometern Anfang Juni 1928. Mit seiner Protestfahrt will er sich gegen den Niedergang des Droschkengewerbes stemmen. Das macht ihn als Don Quichote des 20. Jahrhunderts berühmt. Seine Rückkehr nach 165 Tagen wird zum Triumphzug. Es scheint als könne er die Zeit anhalten, wenn auch nur für einen Moment.

 

Hans Fallada. Kurz vor 1936. Erfolgsautor in Weimarer- und NS-Zeit. „Kleiner Mann – was nun“; „Bauern, Bonzen, Bomben“ uva.

 

Die tragisch-kuriose Geschichte des Kurzzeithelden Gustav gießt Volksschriftsteller Fallada in ein 800-Seiten-Epos. Sein Roman „Der Eiserne Gustav“ wartet 1938 mit Figuren aus Zilles Milieu auf, gespickt mit Aufsteigern, Hasardeuren und traurig-gescheiterten Existenzen. Berlin aus erster Hand: vom dritten Hinterhof über Nachtklubs bis hoch zum Reichstag.  Doch Bestsellerautor Fallada, bürgerlicher Name Rudolf Ditzen, zahlt für seinen Erfolg einen hohen Preis. Um unter den Nazis veröffentlichen zu können, muss er den Schluss NS-freundlich umschreiben. Joseph Goebbels besteht auf Änderungen. Ihm fehlen Juden, die an allem schuld seien. Zudem verlangt der Propagandaminister ein Happy End, sonst könne der Roman nicht erscheinen. Zumindest den Schluss, den sogenannten „Nazi-Schwanz“, ändert Fallada. Der Sohn des Kutschers wird im Finale zum SA-Mann.

War Fallada ein feiger Opportunist? In seinen geheimen Tagebüchern, geschrieben in der Gestapo-Zelle 1944 rechtfertigt er den Kotau: „Ich liebe nicht die hohe Geste vor Tyrannenthronen, mich sinnlos, niemandem zu nutzen, meinen Kindern zum Schaden abschlachten zu lassen, das liegt mir nicht; nach drei Minuten Überlegung nahm ich den Zusatz-Auftrag an. Was ich dann freilich mit mir zu Hause abzumachen hatte, das steht auf einem andern Blatt. Der Monat, durch den ich an diesen n.[ationalsozialistischen] Schwanz schrieb, steht mit schwarzer Tinte umrandet in meinem Kalender, die Welt kotzte mich an, ich mich selbst aber noch mehr.“

 

 

Falladas Eiserner Gustav wird nach Kriegsende in der DDR ein weiteres Mal umgeschrieben. 1962 streicht Herausgeber Günter Caspar den „Nazi-Schwanz“. Doch auch weitere Passagen fallen einer neuen, zweiten „Umschreibung“ zum Opfer. Nur ein Beispiel: Eine Episode in der November-Revolution 1918. Fallada lässt den Eisernen Gustav sagen: „Die Matrosen? Diese Herren mit der nackten Brust bilden sich ein, sie haben die Revolution gemacht! Weil sie es nicht abwarten konnten? Weil sie eine Woche zu früh losgeschlagen haben? Die sind kein Problem, das sind alles Dummköpfe!“ Er schnippte verächtlich mit den Fingern. „Ich war heute früh bei ihnen im Schloss! Wie das da aussieht! Saufen, plündern, huren.“ Das wird gestrichen.

So gerät der Eiserne Gustav zum dreifach gehäuteten Roman. Erst vor vier Jahren erscheint Falladas 832-Seiten-Werk unverfälscht und unzensiert. Zweimal wird die Geschichte verfilmt. 1958 mit Heinz Rühmann und 1979 mit Gustav Knuth in der Hauptrolle.

 

 

Eine Frage bleibt: Wer erzählt die aktuelle Geschichte von Gustav oder Gustava? Stoff gebe es genug. Künstliche Intelligenz, Profitstreben und Chatbot-GPT gefährden laut seriöser Studien demnächst drei Millionen Arbeitsplätze. Menschen, die überflüssig werden. Wie einst Kutscher Gustav. Auf Ihr Angehörigen in den Maschinenräumen der Datenverarbeitung, Dienstleistungs- oder Medienbranche. Wann wagt jemand wie Gustav eine Protesttour? Triumphal begleitet, glanzvoll gescheitert, doch möglicherweise dank eines packenden, zeitlosen Romans unvergessen. Das Pferd ist gesattelt.

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Unser Robert

Interviewtermin im Luxus-Hotel Regent am Berliner Gendarmenmarkt. Ein neuer Redford-Film wird präsentiert. Genehmigt sind genau fünfzehn Minuten. Der Star macht einen sogenannten medialen Massenabwurf. PR-Interviews, um das neue Werk „Von Löwen und Lämmern“ in Europa anzuteasern. Ich bin aufgeregt. Auch, weil mich zum ersten und übrigens einzigen Mal meine Frau begleiten möchte. Natürlich nur wegen Robert. Gut! Dann machen wir das. Gegenüber der Filmfirma erkläre ich Heike zur ZDF-Praktikantin. Der kleine Schwindel fällt zunächst nicht auf. Die Lobby in der Edel-Herberge ist voll. Alle wollen Robert Redford persönlich sehen. Ach, ja: Wir schreiben Herbst 2007, das ist nun schon eine Weile her.

Als wir nach einiger Wartezeit in die erste Etage ins Separee gerufen werden, klopfen mindestens zwei Herzen. Ich muss ihm ein paar originelle Antworten ergattern, sie will ihr Idol „den Robert“ sehen. Die Tür geht auf. Der Meister sitzt entspannt am anderen Ende der Suite auf seinem Interviewstuhl. Die PR-Frau stellt uns knapp als ZDF-Producer mit Praktikantin vor. Nun schlägts alle zwölfe! Heike und ich stehen wie Schulkinder vor dem Direktor. Was soll’s! Ich lege los, erkläre, dass ich mich ehrlich machen möchte. Das sei ein besonderer Moment. Zum ersten Mal begleite mich meine Frau zu einem offiziellen Interviewtermin.

 

Mein Robert.

 

„Oh, amazing“, sagt der blonde Mann in legeren Sneakers. Socken trägt er keine, obwohl es draußen novemberkalt ist. Ja, fahre ich fort, sie sei keine Praktikantin, sondern einfach ein Riesen-Fan. Schon sehr lange. Am Abend vor der Geburt unseres ersten Sohnes hätte sie an einem der heißesten Julitage im Sommer 1986 hochschwanger Jenseits von Afrika gesehen. Sie sei in Ost-Berlin aufgewachsen, könne daher – sorry – leider nur wenig Englisch. Robert Redford lächelt sein schönstes Hollywood-Lächeln. Wow. Er steht auf, geht zielstrebig an mir vorbei und umarmt Heike herzlich. Meine Frau strahlt, als hielte sie das dritte Kind in den Armen. Ich weiß gar nicht mehr, was „der Robert“ in diesem Moment gesagt hat. Ich erinnere nur, wie die Filmfrau faucht: „Das geht alles von Ihrer Zeit ab!“

 

 

Sein Film „Von Löwen und Lämmern“ erzählt eine Geschichte aus dem Afghanistan-Krieg. Es geht um die alte Frage, wie man sich in Krisenzeiten entscheidet. Mitmachen oder raushalten? Meryl Streep und Tom Cruise sind dabei, Redford führt Regie. Und der damals 71-Jährige selbst spielt einen frustrierten Dozenten der Woodstock-Generation – ein wenig wohl sich selbst. Er vergleicht im Film das heutige Washington mit dem alten Rom. Dekadenz und Zerstörung drohen. Er fordert seine jungen Studenten auf, endlich Haltung einzunehmen.

Im Interview sagt er: „Der Satz ‚Rom brennt‘ ist ein Euphemismus und eine Anspielung auf Kaiser Nero, der fiedelte, während seine Stadt brannte. So sehen viele die gegenwärtige Regierung. (…) Der Professor, den ich spiele, versucht im Film den Leuten klarzumachen: seht ihr nicht, was hier los ist, welche Sorgen wir haben. Wir brauchen eure Stimme. Die jungen Leute sind die, die ihre Zukunft gestalten können. Es ist ein Alarmruf. Steht auf und werdet endlich aktiv, bevor Rom bis auf die Grundmauern abbrennt. Der Professor ist verzweifelt, er hat die Nase voll. Er stellt die Jugendlichen vor die Entscheidung und das tun wir mit dem Publikum auch. Denkt darüber nach!“

 

Robert Redford 2012 mit Ehefrau Sibylle Szaggars, eine gebürtige Hamburgerin.

 

Als ich das Robert-Interview nachlese, wird mir heiß und kalt. Was haben wir aus dem desaströsen Afghanistan-Abenteuer gelernt? Redford 2007 über die damalige Bush-Administration: „Wir hatten nach dem 11. September die Unterstützung und das Mitgefühl der ganzen Welt, das haben wir missbraucht.“ Und er setzt noch eins drauf: „In meinem Land eine Haltung einzunehmen heißt, eine der wunderbaren Freiheiten in Anspruch zu nehmen. Die Freiheiten, die vor zweihundert Jahren in unsere Verfassung eingebaut wurden, die aber von der jetzigen Regierung missbraucht werden. Redefreiheit, Meinungsfreiheit, die freie Debatte und das Recht zum Neinsagen.“

Der Film „Von Löwen und Lämmern“ wurde ein Flop. Zu kritisch, zu verkopft, zu wenig Herz-Schmerz, hieß es. Robert Redford hat uns in diesen Tagen für immer verlassen. Das Hotel in Berlin-Mitte ist mittlerweile geschlossen. Ich bin nicht mehr beim ZDF. Der aktuelle US-Präsident führt sich wirklich wie Kaiser Nero im alten Rom auf. Die Welt brennt. Aber ein wunderbarer Moment bleibt: Heikes Augen strahlen noch heute, wenn sie den Namen Robert Redford nur hört. Das ist doch am Ende, was zählt.

 

Bis zuletzt im Umweltschutz aktiv. Sein letzter Film. The Way of the rain. 2025.

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Wiedersehen in Walhalla?

Wir sind in der Teestube von Wangerooge verabredet. Friedrich-Wilhelm Petrus kommt mit dem Rad. Pünktlich wie ein Schweizer Uhrmacher. Das Gehen fällt dem stattlichen Mann schwer. Er setzt sich an diesem milden Septembernachmittag zu uns ins Freie. Petrus geht stramm auf die Neunzig zu. Der Mann ist auf der autofreien Nordseeinsel Watt- und Inselführer, Zeitzeuge und eine Institution aus Schrot und Korn. „Moin! Was wollen Sie nun genau wissen?“ Als wir uns über seine Geburt 1936, die Schönheit seiner kleinen Insel, die Gezeiten, kurzum über das Auf und Ab im Leben zu unterhalten beginnen, ruft Petrus dem Wirt zu: „Ingo, die Bunkertür steht offen. Sorg mal dafür, dass die wieder geschlossen wird!“

 

Lazarettbunker auf Wangerooge. Die Tür stand offen.

 

Bunker? Davon gab es viele auf Wangerooge. Über 100 auf der heutigen Ferieninsel. Dazu „83 Artilleriegeschütze“ und zehntausend Marinesoldaten. „Festung Wangerooge! Schon gehört? Wir waren bis auf die Zähne bewaffnet.“ So musste das Schicksal der Insel im II. Weltkrieg seinen Lauf nehmen. Die geografische Lage vor dem Kriegshafen Wilhelmshaven besiegelte keine zwei Wochen vor Kriegsende das Schicksal des Inselchen. Am 25. April 1945 gegen 17 Uhr nachmittags attackierten alliierte Bombergeschwader Wangerooge und legten die Insel in Schutt und Asche. 311 Menschen kamen ums Leben. Soldaten, Zivilisten, Zwangsarbeiter, aber auch Besatzungsmitglieder der Bomberstaffeln. Über zweihundert Gebäude wurden völlig zerstört, darunter die Katholische Kirche am Bahnhof.

 

Friedrich-Wilhelm Petrus. Jahrgang 1936. Inselführer. Zeitzeuge. Einer, der etwas zu erzählen hat.

 

Petrus überlebte mit seinen acht Jahren das „Inferno“. Im Garten der Teestube berichtet er ruhig und überlegt von den fünfzehn Minuten, die alles änderten. Er erzählt, als wäre es gestern gewesen: „Es kamen schnelle Flugzeuge. Mosquitos. Man hörte ein unheimliches Sirren in der Luft. Es wurde von Minute zu Minute stärker. Einer hat aufgeschrien. Da kamen 400 „Fliegende Festungen“. Wir (Kinder) sind in alle Himmelsrichtungen weggelaufen. Mein Vater war in der Spee-Batterie. Ich bin am Deichfuß entlang gerast. In der Spee-Batterie war keiner mehr. Diesen Weg werde ich nie vergessen. Am Ortseingang wohnte der Polizist Klähn. Friedrich-August-Straße. Sein Haus ist in die Luft geflogen. Die Druckwelle warf mich fast um. Vor dem Haus lagen zwei tote Frauen und der tote Hund. Die Familie des Polizisten. Das Hotel Albers ist in die Luft geflogen. Ich habe mit meinen Kinderfäusten gegen die Bunkertür getrommelt. Es wurde aufgemacht. Dort waren die Offiziersfrauen. Ich war in Sicherheit. Meine Mutter hatte mich schon abgeschrieben.“

Schutzengel? „Ich habe meine Zweifel. „Wir nennen es einfach mal Glück. Oder Schicksal!“ Vater Wilhelm war Kapitän und Kommandant der Küstenbatterie, ein hohes Tier auf der Insel. Für ihn brach eine Welt zusammen, vor allem vierzehn Tage später, als das Dritte Reich kapitulierte. „Mein Vater musste ins Lazarett, dem heutigen Haus Meeresstern. Schwester Anselm hat dort gesagt: Gott hat den Tyrannen gestürzt! Das ist ihm durch Mark und Pfennig gegangen.“ Petrus setzt immer wieder Pausen. „Als der Krieg zu Ende war, dachte ich nur, irgendwann müssen sie meinen Vater abholen. So kam es. Zwei kanadische Offiziere stehen eines Tages vor der Tür. Der eine war Dolmetscher, der andere Offizier: Sie sagen: Sie sind verhaftet! Mein Vater ist in das Schlafzimmer, hat sich seine beste Uniform angezogen und ist mitgegangen. Wir haben nichts mehr von ihm gehört.“

 

Festung Wangerooge. In einem der ehem. 100 Bunker.

 

Der Vater kommt später als ein völlig anderer zurück. Er sei ein „Fremder“ geworden. Gebrochen. Er beginnt zu trinken. Sohn Friedrich-Wilhelm flüchtet 1952 nach Stuttgart. Dort wird der Ostfriese ein viel gefragter Elefantenpfleger, sein jüngerer Bruder kümmert sich um Pinguine. Eines Tages erfährt er, dass Vater Wilhelm an der zentralen Kreuzung auf Wangerooge brüllt: „Juda verrecke!“  Er schwört Besserung.  Sohn Petrus: „Er hat es natürlich wieder getan. Er ist bis zu seinem Ende 1971 ein Nazi geblieben.“ Bei der Trauerfeier auf der Insel tauchen Gestalten auf, die nicht ganz „koscher“ sind. „Aus der Gruppe geht jemand ans offene Grab und macht den Führergruß und sagt: ‚Wilhelm, wir sehen uns in Walhalla wieder.‘

 

Das Kreuz in den Dünen erinnert an die Toten des Infernos vom 25. April 1945. Unter dem Kreuz befand sich der Hartmann-Bunker. Keiner der 20 Insassen überlebte den Volltreffer. Viele Opfer waren junge Marinehelfer im Alter von 16 bis 17 Jahren.

 

So war das. Heute versucht Sohn Friedrich-Wilhelm bei seinen Inselführungen unermüdlich vor den Schrecken des Krieges zu warnen. Mit Erfolg? – „Tja.“ Petrus denkt lange nach. „„Das Interesse an der Vergangenheit ist nicht mehr sehr groß. Vor zwei Jahren sind wir zum Inselgymnasium gegangen. Wir fragten den Direktor, ob wir zum Jahrestag 25. April als Zeitzeugen kommen sollen. Das hat er rundweg abgelehnt. Das wird nicht mehr gefragt.“ Wiederholt sich Geschichte? Der alte Insulaner antwortet knapp: „Ich sage es ganz lapidar: Die Menschen können nicht ohne Kriege leben. Es wird Krieg geben. Immer und immer wieder.“

Plötzlich beginnen die Glocken der Inselkirche zu läuten. Wie jeden Tag kurz nach 17 Uhr, um an das Inferno vom 25. April 1945 zu erinnern. „Heute weiß niemand mehr, warum“, sagt der Inselführer. Zweimal die Woche führt Friedrich-Wilhelm Petrus Menschen über seine Insel. Erzählt von Flut und Ebbe. Von Vögeln und Watt. Von Glanz und Elend. Licht und Schatten auf dieser kleinen, so friedlichen Ferieninsel.

 

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Fährmann, hol über!

Wer in Ostfriesland bis ans Ende fährt, landet über kurz oder kurz lang auf einer schnurgeraden Schnellstraße Richtung Norddeich. Links und rechts der breiten Straße sieht es aus wie auf einer US-Interstate in Florida. Supermärkte, Baumärkte und Einkaufszentren mit riesigen Parkplätzen, MacDonalds und Tankstellen. Am Ende kurz vor dem Deich wird es endlich gemütlicher. Fischrestaurants, Cafés und Hotel geben sich die Hand. Es wird touristisch. Wer nun auf eine der beiden ostfriesischen Inseln Norderney oder Juist übersetzen will, für den wird es spannend. Die meisten Wegweiser führen auf direktem Weg zum Anleger der Frisia-Fährgesellschaft. Wer sich für den Newcomer „Meine Fähre“ entscheidet, muss einen langen Umweg quer durch die Hafenanlagen nehmen. Der Lohn: Eine Abenteuerreise in das „Deutschland des Jahres 2025“.

Am Anleger wollen wir mit unseren Rädern auf der funkelnagelneuen „Meine Fähre“ einchecken. Doch Obacht! So einfach geht das nicht. Ein kräftiger Matrose verhindert jede Annäherung. Unmissverständlich macht er klar, wer Chef ist, auch wenn er kein Wort Deutsch spricht, außer: „Nein!“ Der Mitarbeiter nimmt uns die Räder ab und schiebt sie vorsichtig auf die Fähre. Wir, insgesamt fünf Radtouristen mit Ziel Norderney, müssen am Kai warten. Schließlich fährt nach einigen Minuten ein VW-Shuttle-Bus vor. Wir müssen einsteigen, genau wie alle Fußgänger. So überwinden wir etwa zwanzig Meter Luftlinie von der Anlegerkante bis auf das Schiff. Erst dann dürfen wir aussteigen und uns einen Platz suchen.

 

Norderney. Wer hier zu Fuß weitergeht, verstößt gegen Behörden-Auflagen. Betreten nur mit einem Shuttle-Bus erlaubt. Vorschrift ist Vorschrift!

 

Das gesamte Beladungsmanöver dauert dadurch länger, vielleicht zwanzig Minuten. Der Shuttle-Bus muss noch weitere Fahrgäste die wenigen Meter an Bord lotsen. Warum in aller Welt? Warum nicht zu Fuß gehen? Der Fahrer zuckt genervt mit den Schultern. „Vorschriften! Sicherheit!“ Der Mann mag nicht weiter reden. Der Kapitän sagt nur: „Das ist Deutschland!“ Als ein freundlicher Mitarbeiter zum Abkassieren kommt, werden wir klüger: „Das sind Vorschriften des Hafenamtes!“ Die Gesellschaft „Meine Fähre“ sei eine reine Autofähre, daher müssten Rad- und Fußtouristen aus Sicherheitsgründen mit einem Shuttle an Bord chauffiert werden. Und wenn es nur ein paar Meter sind. Man wolle nicht die neue Lizenz verlieren.

Wir sind reif für die Insel. Die Überfahrt ist entspannt und großartig. Die schmucke neue Fähre dagegen ziemlich leer. Nur eine Handvoll Pkw, auch die Zahl der Passagiere ist überschaubar. Ob sich das rentiert? Als wir in Norderney anlegen, die gleiche Prozedur. Natürlich auch abends bei der Retourfahrt. Auf keinen Fall darf jemand einfach zu Fuß die Fähre betreten. Die paar Meter bis zur Fähre dürfen nur mit dem Shuttle-Bus bewältigt werden. Das dauert. Logisch. Auch die Räder darf nur der breitbeinige Matrose am Ende wieder an Land bringen. Vorschrift ist Vorschrift!

 

David gegen Goliath. Die neue Fährgesellschaft „Meine Fähre“ verspricht günstigen und schnellen Transport auf die Insel Norderney. Doch das wirkliche Leben sieht ein paar Überraschungen vor. Motto: „Willkommen in Deutschland!“

 

Wer hat sich das ausgedacht? Ist das ein schlechter Aprilscherz? – Pustekuchen! Die deutsche Bürokratie zeigt am Hafen von Norddeich, wozu sie imstande ist. Deren Begründung: Sicherheit geht vor. Das ist eine Autofähre, Punkt. Zu Fuß geht nicht. Auch wenn es komplett absurd ist und Loriot seine Freude daran hätte.

Motto: Wir machen das Leben kompliziert. Vermutlich gibt es noch einen gewichtigen Grund: Der mächtige Platzhirsch in Ostfriesland, der Frisia-Konzern wacht argwöhnisch darüber, dass die umständliche Ladungsprozedur des neuen Konkurrenten peinlich genau eingehalten wird. Den lästigen Mitbewerber will man wieder loswerden.

 

Eine Seefahrt, die ist lustig.

 

Sehen wir uns in Norddeich, wenn es heißt: Fährmann, hol über!

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Auf Maos Spuren

Moin. Früh, mittags, abends schallt einem dieses kurze Moin entgegen. Oben im hohen Norden. Mal zackig, mal vernuschelt, aber stets, wenn man sich irgendwo begegnet, zwischen Föhr und Wangerooge. Wer wie wir mit dem Rad ohne Elektro-Energie übers Land strampelt, vorbei an Maisfeldern, Kuhweiden und obligatorischen Windrädern, muss rasch feststellen: Der Menschenschlag im Norden ist wie der stramme Gegenwind: Steif, sturmfest und wortkarg. Hier macht man wenig Worte. Geredet wird in dieser Welt eh zu viel.

In den letzten Augusttagen ziehen wir unsere Kreise durch Ostfriesland. Mit vollen Packtaschen, ohne Hilfsmotor. Hier gibt es keine Steigungen. Nur der Wind ist selten unser Freund, häufig bläst er hartnäckig ins Gesicht, zwingt letzte Reserven in die Pedale, während behelmte E-Bikende Rentner vorbeiziehen – auf den langen Geraden entlang der Kanäle zwischen Wiesmoor und Aurich.

 

Moin. Morgens auf der Insel Föhr an der Nordsee.

 

Der beredte Guide vom Reiseveranstalter empfahl: In Ostfriesland am besten mit dem MAO-Motto reisen: Mund, Augen, Ohren auf. So funktionierts. Besser als jede App, die sowieso regelmäßig im Funkloch versinkt. Merkwürdig nur: Menschen trifft man kaum. Entweder rasen sie über die größeren Landstraßen, sitzen in Monster-Traktoren breit wie die Chaussee oder mähen stumpfsinnig ihre Rasen. In den Dörfern sind ständig Pflegedienste und Amazon im Einsatz. So passieren wir endlose Einfamilienhaus-Einöden. Klinkergebäude, Carport, große Vorgärten, Rasenroboter.

 

Weiter Himmel. Der Geschmack vom Meer. Irgendwo hinterm Horizont.

 

Die Wohnkultur auf dem Lande? Eine Selbstdarstellung der Bundesrepublik, wie sie leibt und lebt: Buchenhecken, Buchsbaum-Orgien, Wembley-Rasen, gepflasterte Zufahrten, Kiesornamente oder vergitterte Steinwälle. Ein Land, reicher denn je, präsentiert gestalterische Monotonie und Austauschbarkeit, soweit das Auge fällt. Manchmal ist ein Mensch zu sehen. Dann heißt es: Moin. Was sonst?

 

Beliebt: Ostfriesen-Mauer. Gesehen in Emden.

Unverzichtbar: Rasenroboter.

 

Nun gut. Ostfriesland rühmt sich für Bodenständigkeit, Gemeinschaft und Gastfreundschaft. Abends gibt es ein Schnäpschen auf Kosten des Hauses. Die Alten erzählen von Sturmfluten, kalten Wintern und heizbaren Stövchen, das die Damen in der Kirche unter ihre Röcke platziert haben. Die Kirchen sind wie Trutzburgen, heute stehen sie meistens leer. Manche Türme sind windschief, weil der Boden „Pudding“ ist. Wenn im Laufe der Jahrhunderte das Eichenfundament vermodert, gibt es – schwups – eine neue Touristenattraktion wie in Suurhusen bei Emden. Der Kirchturm gilt als einer der schiefsten Türme der Welt. 2 Meter 47 Überhang. Jedes Jahr ein paar Zentimeter mehr. Mehr als in Pisa! Kein Gotteswille, kein Teufelswerk. Nein, schlicht der ostfriesische Untergrund. Marsch, Wasser, Moore. „Kannst nichts machen. Haste sonst noch Fragen?“

 

Der schiefe Kirchturm von Suurhusen. 2 Meter 47 Überhang. Eine Touristenattraktion in Ostfriesland.

 

Was begeistert, ist die entspannte Ruhe. Der weite Blick. Die Weiden, Wiesen und Felder. Man spürt: Das Meer ist nah. Wolken wie Wattebäusche. Für Caspar David Friedrich symbolisierten Wolken stets das Göttliche. Eine Anekdote erzählt, dass seine Kinder jederzeit in sein Dresdner Atelier kommen durften, außer wenn er mit Himmelszeichnungen beschäftigt war. Maler-Ikone Friedrich war kein Ostfriese. Aber auch einer von der Küste. Von der Ostsee. Aus Pommern. Vom Menschenschlag scheinen sich Ostfriesen und Vorpommern nahe zu sein. Die gleiche Dickschädlichkeit, der gleiche trockene Humor. Nur nicht zu viel reden. Wortmüll gibt’s genug in dieser Welt. Moin, Moin! Und Tschüss.

 

Hol über! Auf der Fähre von Glückstadt.

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Die Löwin von Neukölln

Berlin-Neukölln. Rollbergviertel: Betonburgen, Tiefgaragen, Müllcontainer. Dazwischen ein bisschen Grün. Ein sogenannter sozialer Brennpunkt. Für Güner Balci Kindheit, Jugend und ein Stück Heimat: „Für uns Kinder war die Großsiedlung ein Raum, in dem jeder sein konnte, wie er war. Wir waren die Herrscher über Treppenaufgänge, Kellerräume und Garagen. Wir, das waren hunderte Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Ländern eingewandert oder Deutsche ohne Migrationsgeschichte waren.“ Alle Familien hätten viele Kinder gehabt. „Man hatte sein Auskommen, sofern die Eltern arbeiten gingen. Nicht alle taten das – die ersten Anzeichen der späteren fatalen Entwicklung.“

Eine Kindheit ohne Klavierunterricht, Ballett, Helikoptereltern und Nachhilfestunden. „Der Rollbergkiez war meine Lebensschule“, schreibt die 50-jährige Autorin und Integrationsbeauftragte von Neukölln in ihrem neuen Buch „Heimatland“. „Wir kannten keine Nanny und keine durchgeplanten und betreuten Kinderfreizeiten. Wir hatten das Columbia-Bad. Aber nicht alle hatten Geld für den Eintritt. Da half alles nichts: Man musste über den mit Stacheldraht bewehrten Zaun klettern. Einmal trug mir das eine klaffende Fleischwunde am Oberschenkel ein.“

 

Neuköllner Rasselbande in den vierziger Jahren. Neukölln war schon immer – anders.

 

Die waschechte Neuköllnerin Güner Balci ist ein Gastarbeiterkind. Ihre Eltern Mahmut und Fatma waren einfache, herzenskluge Bergbauern. Aleviten aus Ost-Anatolien. Ihr Glück suchten sie in Almanya. Berlin wird ihre neue, zweite Heimat. Mutter Balci schrubbt vierzig Jahre in Krankenhäusern, damit es ihren vier Kindern einmal besser geht. Die junge Güner genießt viele Freiheiten und lernt rasch die Gesetze der Straße kennen. Abenteuer, Gemeinschaft, Langeweile, erste Liebe, Mädchenladen MaDonna, aber auch Klauen von Nike-Sportschuhen oder Gegnern „die Nase putzen“: „Nach Myriaden blauer Flecken und einigen ausgeschlagenen Zähnen lernte ich, mich wehrhafter zu zeigen. Es kann nicht immer falsch sein, dem Richtigen eins auf die Fresse zu geben.“

Anfang der achtziger Jahre, so Güner Balci, ändert sich vieles im Kiez. Arabische Familien ziehen ins Rollbergviertel. Es gibt neue Abschottungen und Kontrolle durch Sittenwächter. Die Macht der Imame zeigt Folgen: Geschlechterapartheid und Gewalt gegen „Ungläubige“. Was besonders auffällt: Mädchen verschwinden von der Straße. Sie werden zu „Schattenwesen“. Für sie heißt es plötzlich: „Freunde, Freizeit, Freiheit waren jetzt Haram, verboten.“

 

Der Himmel über Neukölln. Blick vom Szenetreff Klunkerkranich über die Dächer der Stadt. Auch hier ist Neukölln anders – als viele Klischees.

 

Güner Balci studiert. Sie lebt ihren Traum als junge, selbstbewusste Migrantin. Ihre erste große Liebe ist Tschabo, ein Sinto und „der weltbeste Rhythmusgitarrist“. Beim Prince-Konzert in der Deutschlandhalle erklimmt Güner die Bühne, um mit ihrem Idol zu tanzen. Sie wird Journalistin, arbeitet unter anderem für das ZDF-Magazin Frontal 21. Ihre Beiträge über Islamismus, Migrantenalltag und Parallelgesellschaften sind gründlich recherchiert, aber äußerst unbequem. Islamisten und Konservative laufen Sturm. Unermüdlich warnt Balci auch in ihren Büchern (Arabboy, ArabQueen) vor einem weit verbreiteten Kulturrelativismus. („Die sind eben anders“). Gleiche Maßstäbe für alle, egal ob Migrationshintergrund oder nicht, das ist der Kern ihrer Botschaft.

Als sie 2020 Integrationsbeauftragte von Neukölln werden soll, gilt sie für Teile der Linken und Grünen als „ungeeignet“. Güner Balci polarisiert. Bei ihrem Namen bekommen viele Bedenkenträger einen dicken Hals. Sie sei eine „Erfolgsrassistin“, heißt es. „Wallah, die spinnt!“ Doch die Shitstorms feuern die streitbare Löwin von Neukölln eher noch an. Sie betont: „Wenn bei vielen Dingen, die ich in der Öffentlichkeit sage, Neonazis, Rechtsextreme, Islamisten, türkische Faschisten und bestimmte extremistische linke Gruppen Puls kriegen, dann habe ich alles richtig gemacht.“

 

 

Ihr Buch „Heimatland“ ist eine einzige große Liebeserklärung. An ihren Kiez in Neukölln, an Berlin und – ja – an Deutschland. In der heiß diskutierten Migrationsfrage ist Balci überzeugt: „Wir hätten heute vielleicht keine AfD, wenn wir schon seit Jahrzehnten mehr Mut zur Wahrheit und Verantwortung gehabt hätten.“ Mit ihrer Sicht wird sie sicher wieder anecken. Aber Kämpfen ist Güner Balci seit Rollberg-Zeiten gewohnt. Was hat sie von ihrer alevitischen Mutter gelernt: Nie unterkriegen lassen, nie!

Güner Yasemin Balci. Heimatland. Berlin Verlag. 2025

Transparenzhinweis: In den 10er-Jahren haben Güner Balci und ich mehrfach für das Kulturmagazin aspekte zusammengearbeitet.

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Am Ende der Welt

Sommerzeit, Reisezeit. Die Autobahnen sind voll. Rechts eine endlose LKW-Karawane, häufig zweispurig blockiert. Links eine glitzernde Perlenkette von Wohnmobilen, Familienkutschen, eiligen Kleintransportern, Dränglern und Rasern. Überall Baustellen. Stillstand. Kilometerlange Staus in der Augusthitze. Wenn es dreispurig weitergeht, wird sofort auf die Tube gedrückt. Frust-Raserei, als gebe es kein Morgen. Bis zur nächsten Baustelle oder bis zur nächsten Vollsperrung. Der Grund: Massenkarambolage. Wieder Stillstand. Der Stau macht alle gleich. Vom Porschefahrer bis zum rumänischen Schwertransporter. Irgendwann kommt Bewegung in die Blechlawine. Weiter geht’s. Bis zum nächsten Halt. Für die Strecke Stuttgart – Berlin brauche ich an diesem Sommertag neun Stunden.

In Thüringen habe ich die Nase voll. Ich biege auf der Höhe von Schleiz ab. Die Welt wird sofort anders. Hügelig, heimelig, entspannter, geradezu beruhigend. Ich lasse mich auf schmalen, kurvigen Landstraßen ein Stück weit treiben, bis ich an einem aufgelassenen Steinbruch anhalte. Absolute Ruhe. In der Tiefe des Steinbruchs hat sich ein azurblauer Baggersee aufgestaut. Ich schließe mein Mercedes-Veteran ab und laufe einfach los. Bergauf, bergab. Am Himmel kreist ein Mäusebussard. Irgendwo tuckert ein Traktor. Hinter einem Hügel ragt ein wuchtiger Kirchturm mit Haube hervor. Das wird mein Ziel. In der abendlichen Augusthitze erreiche ich rasch eine barocke Trutzburg, umfasst von einer vierseitigen Feldsteinmauer. Am Ortsschild steht: Göschitz.

 

Kirche mit Fußballplatz. Göschitz. 200 Einwohner. Saale-Orla-Kreis Thüringen. August 2025

 

Vor der Kirche ein einsamer Fußballplatz. Durch den Torbogen gelangt man zum Eingang. Die Tür steht weit offen. Irgendwo brummt ein Rasenmäher. Im Innern ein heller, großer Kirchenraum. Schlicht, spartanisch, protestantisch. Auf der Westempore eine stattliche Orgel. Plötzlich bellt ein Hund. Sekunden später stehe ich dem Mann am Rasenmäher gegenüber. Er stellt sich als Kirchenältester vor. Ein brummiger Anfang Sechziger. Zuerst misstrauisch, kommen wir ins Gespräch. Ja, das sei eine alte Kirche im Reußenland. Viel Arbeit, wenig los. Zum Gottesdienst alle sechs bis acht Wochen kommen noch fünf oder sechs Menschen. Er sei für alles zuständig. Vom Rasenmähen über Reparaturen bis zu den Gemeindefinanzen. Die Zuständigkeit wolle ihm Erfurt jetzt wegnehmen: „Sparen. Die wissen alles besser, haben aber keine Ahnung, was auf dem Dorf los ist.“

Der Mann taut auf. Seine Kinder seien alle in der Nähe geblieben. Das mache ihn stolz. Ansonsten? Die Gemeinde! „Wenn´s so weiter geht, ist bald Schluss!“ Ich frage nach Daniel Sturm, der auf einer Gedenktafel steht. „Kennen Sie den nicht? Ein bekannter Dichter, war hier Pfarrer.“ In der St. Jodocus-Kirche von Göschitz gab es sogar beheizte Kirchenbänke. „Wegen der Winterkälte. Die Heizung ist kaputt. Der Elektriker, der sie eingebaut hat, ist tot.“ Ich frage, ob ich die Orgel spielen darf. „Ja, aber wenn Sie falsch spielen, ist Schluss“, lächelt er.

Auf der Empore angelangt, werfe ich die elektrische zwei-manualige Dorforgel an, ziehe jede Menge Register. Wow! Ein kräftiger, vielstimmiger Klang. Das Beste: im tiefsten ostthüringischen Winkel stammt die Orgel aus dem Jahre 1911 von der Firma Walcker – aus meiner Geburtsstadt Ludwigsburg. Ich darf spielen, solange ich will. Beim Abschied ruft er mir zu: „Sie können hier Urlaub machen. Wir haben einen Gasthof mit Übernachtung.

 

St. Jodocus-Kirche Göschitz. Hier ist viel Platz. Sonntags alle sechs bis acht Wochen kommen noch fünf, sechs Gottesdienstbesucher.

 

Wem die Stunde schlägt. Als ich zum Steinbruch zurückwandere, höre ich drei Glocken läuten. Die erste für jede Viertelstunde, die zweite für die volle. Die dritte setzt ein, weil es 18 Uhr wird. Das Tagewerk ist vollbracht. Das Bimmeln begleitet mich fast bis zum Baggersee. Dort am anderen Ufer vergnügt sich ein junges Pärchen, nackt wie Adam und Eva. Sie kichert fröhlich. Er wirft sein Moped an. Als ich wieder auf der Autobahn A9 Richtung Berlin bin: Aufatmen. Es ist deutlich weniger voll, keine Staus mehr. Auf einer der nächsten Autobahnbrücken taucht plötzlich ein blaues Fahnenmeer auf. Auf einem großen Transparent steht: „Scheiß ARD!“ Wenig später grüßt eine weitere AfD-Brücken-Demo. Ein Tag im Sommer 2025.

Liebe in Zeiten des Hasses? Dieser Song wird in Thüringen und Sachsen gerne gehört. Roland Kaiser: „Liebe kann uns retten“. Kaisermania im AfD-Land:

 

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Wenzel, die Wärmepumpe

Wenzel – wer? Um ehrlich zu sein. Ich kannte nur seinen Namen, mehr nicht. Das war ein Fehler. Der Mann hat über 500 Lieder geschrieben. Liebes-Lieder, Balladen, bitterböse Satiren und manchmal auch derbe Sauf- und Rauflieder. „Hans-Eckardt Wenzel ist ein deutscher Liedermacher, autodidaktischer Multiinstrumentalist, Autor, Regisseur und Komponist. Auf Plakaten, Alben und Konzertankündigungen verwendet er ausschließlich seinen Nachnamen Wenzel als seinen Künstlernamen“, teilt Wikipedia mit. Nun ist Wenzel siebzig geworden. Ein Grund zum Feiern. Und eine Möglichkeit, Wenzel endlich kennenzulernen. „Glaubt nie, was ich singe“, heißt eines seiner fünfzig Alben. Ja, es lohnt sich.

 

 

Wenzel sieht sich gerne in der Rolle des Narren. Er nimmt sich auf dem Narrenschiff – unsere aktuelle Weltbühne – alle Freiheiten. Er sagt: „Wehe dem Volk, das keine Narren hat, Spott ist die Waffe der Bedrängten gegen den Hochmut der Macht.“ Und weiter: „Wehe dem Volk, das Narren nötig hat. Es taugt der Mensch als Feind nicht, wenn er lacht. Weg mit der Kunst, es siegt das Militär, der Frieden fällt den Reichen viel zu schwer.“ Trotz aller Gedankenschwere sucht er in seinen Liedern nach mozartscher Leichtigkeit. Musik ist sein Medium. Anspruchsvoll, witzig, wach, aber nicht woke. Sein Befund zur Lage der Nation: „Eine stalinistische Humorlosigkeit hat dieses Land befallen“.

Wenzel beherzigt das Motto seines großen Vorbildes Woody Guthrie: „Mein Frieden ist alles, was ich dir geben kann.“ Tochter Nora Guthrie, die den gelernten DDR-Songpoeten nach New York und Nashville auf große Bühnen geholt hat. „Wenzel ist impulsiv wie ein Kind.“ Und seine Texte scharf wie eine Rasierklinge: „Die Präsidenten lügen, als wären wir blödes Vieh. Doch wir werden uns nicht fügen – dieser Idiotie.“

 

 

Hans-Eckhardt Wenzel gilt als einer der bedeutendsten deutschen Songpoeten. Er ist ein Melancholiker und Nachtarbeiter. Ein Träumer und Textschmied. Poet und Barde. Romantiker und Frauenliebhaber. Ein überzeugter Pazifist, der in der DDR Soldatenlieder schrieb. Bach- und Brecht-Fan. Weltverbesserer und Dissident. Ein ewig junger, alter Querkopf. Ein Hingucker und Zuhörer. Ein vielfach ausgezeichneter Preisträger. Zum Star in analogen wie digitalen Welten hat es aber nie gereicht. Zu wenig angepasst.

Wenzel sagt: Fürs Nachdenken und für Neugier gibt es keine Altersgrenze. Entscheidend sei: Berührt ein Song? Oder eben nicht? Was im Leben und in Gesellschaftssystemen für ihn zählt: Anständig bleiben, sich nicht verbiegen. „Ach, wie ist das Leben ungesund. Immer einen heben, immer gibt es einen Grund. Froh, dass wir am Leben sind.“

 

Song: Zeit der Irren und Idioten: „Es ist wie Sommer heut im Mai. Die Nutten haben Hitzefrei. Die Polizei putzt ihre Scheiben. Die Heiratsschwindler übertreiben. Die Stadt riecht schweißig und nach Äther. Es kichert leis der Attentäter. Noch unentdeckt sind all die Toten. Das ist die Zeit der Irren und Idioten.“

 

Auf einem seiner letzten Konzerte sagte Wenzel, der Dichter, Denker und Musiker, aufgewachsen in der Lutherstadt Wittenberg, jetzt in Berlin und Vorpommern zu Hause: „Es ist eine kurze Zeit, die wir auf der Erde sind. Wir müssen sie nutzen.“ Oh, ja. Einer, der in kalten Zeiten Herz, Seele und Verstand wärmt.