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„Mein Engel, mein alles, mein Ich“ 

Wann hat Sie der letzte handgeschriebene Brief erfreut? Wann haben Sie einen auf die Reise geschickt? Ja, mit Briefmarke draufgeklebt und zum Briefkasten getragen? – Vermutlich verdammt lang her. Im Zeitalter von WhatsApp, Snapchat und anderen Messenger-Diensten ist das Briefeschreiben völlig aus der Mode geraten. Es kommt noch dicker. Dänemark stellt als erstes europäische Land die Zustellung von Privatbriefen komplett ein. Ab Neujahr 2026 klingelt der Briefträger nicht mehr zweimal. Aus und vorbei. Die staatliche Post-Nord erklärt: In den vergangenen 25 Jahren sei das Briefvolumen um mehr als neunzig Prozent eingebrochen. Öffentliche Briefkästen werden abgebaut, Zustellnetze gekappt. Nach 160 Jahren Briefpost ist Schluss. Nur noch Pakete werden ausgeliefert.

 

Ein Schatz. (Liebes-)Briefe aus den frühen Achtzigern, den Mauerzeiten des 20. Jahrhunderts, als der Himmel über Berlin noch geteilt war. Ein Dank an das DDR-Ministerium für Staatssicherheit für deren Aufbewahrung.

 

Damit endet eine fünftausend jährige Geschichte der Postübermittlung. Angefangen mit den Papyrus-Botschaften im alten Ägypten über staatliche, nicht private Briefbeförderung unter Kaiser Augustus im Römischen Reich bis zur „Post für alle“, eingeführt von Reichskanzler Bismarck im Jahre 1871. In Deutschland existiert laut Postgesetz noch eine Zustellungspflicht an zwei Werktagen pro Woche. Private Briefe per Hand? Längst ein seltenes Luxusgut. Mehr als 95 Prozent der Briefe sind heute Rechnungen, Bußgeldbescheide oder Reklamekram. Wer schreibt noch Liebesbriefe, Abenteuergeschichten, Urlaubsberichte mit Füllfederhalter oder Kuli? Brieffreundschaften? Das war einmal. Alles Geschichten aus einem Land vor unserer Zeit.

„Ich küsse Dich Millionen Mal.“ Herzensbotschaften werden heute per Klick, mit Herzchen und Sonnenuntergangsbild in Sekundenschnelle gepostet. Handschrift? Briefumschlag? Porto? Anstrengend, aufwändig und langsam. Dabei verkörpert ein handgeschriebener Brief etwas, was digitale Kommunikation nie leisten kann: Persönlichkeit, Einmaligkeit, Intimität. Schreiben per Hand verlangsamt — im positiven Sinn. Man überlegt länger, formuliert bewusster und kommt nicht selten auf bessere Ideen und Gedanken.

 

Beethoven schreibt am 6. Juli 1812 an eine Unbekannte diesen Brief: „Mein Engel, mein alles, mein Ich. – … meine unsterbliche Geliebte.“ Der Brief ist bis heute erhalten. Welche Mail wird in zweihundert Jahren noch in welcher Cloud zu finden sein?

 

Franz Kafka hat seiner Verlobten Felice die schönsten Zeilen in Briefen gewidmet: „Nichts verbindet zwei Menschen so vollständig, besonders wenn sie, wie Sie und ich, nur Worte haben“. Schriftstellerin Ingeborg Bachmann schrieb mit 27 Jahren frisch verliebt an den Dichter Paul Celan: „Für mich bist Du Wüste und Meer und alles, was Geheimnis ist“. Der wohl berühmteste Liebesbrief stammt von Ludwig van Beethoven: „Meine unsterbliche Geliebte. Leben kann ich entweder nur ganz mit Dir oder gar nicht. Oh, liebe mich fort. Verkenne nie das treuste Herz Deines Geliebten. Ewig Dein. Ewig mein. Ewig Uns.“ Wer die Angebetete war, weiß nur Beethoven selbst. Seit 150 Jahren debattiert die Literaturwissenschaft die Frage, ob es sich vielleicht doch um Josephine Stackelberg geb. Brunsvick verwitwete Deym gehandelt haben könnte.

 

 

Beethovens achtseitiges Buhlen mit Bleistift auf vergilbtem Papier hat mehr als zweihundert Jahre überdauert: „Mein Engel, mein alles, mein Ich“. Ein Liebesbrief für die Ewigkeit. Schreibt Briefe, solange es noch geht.

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„Man will einmal Ruhe haben.“

Zwölf Jahre lang recherchierte der Journalist Claude Lanzmann eines der dunkelsten Menschheitsverbrechen: den Massenmord an Millionen Juden in den Gaskammern. Der Sohn eines französischen Resistance-Kämpfers wollte wissen: »Was bedeutet es, nackt bei minus zwanzig Grad zu warten, bis man vergast wurde?« Herausgekommen ist 1985 ein aufwühlendes Roadmovie nach vielen Schwierigkeiten, gedreht mit einem kleinen Kamerateam, zwei Assistentinnen kreuz und quer durch Europa mit einem VW-Bus.

Ein Mammutprojekt ohne Fördermittel. Ohne Fernsehen. Im eigenen Auftrag. Privat finanziert, stets bei knapper Kasse, rastlos auf der Suche nach Antworten dreißig Jahre nach dem Holocaust. Im Februar 1986 feierte Lanzmann auf der Berlinale Premiere. Ein Film wie kein anderer. „Shoah“ mit einer Länge von 9 Stunden und 26 Minuten. Ohne historisches Archivmaterial oder Musik. Dafür lange Interviews mit Opfern, Tätern und Zeugen. Neuneinhalb Stunden ziehen endlos Straßen, Wälder, Gräber, Bahngleise, Dörfer und Wohnzimmer über die Leinwand. Alles, nur keine Hitler-Reden, NS-Aufmärsche oder Leichenberge. Sein stiller XXL-Film fordert höchste Konzentration.

 

 

Claude Lanzmann wollte „das Unmögliche erreichen: das „Unbenennbare benennen.“ Den Holocaust mit den Todesfabriken, seinen Opfern und Tätern erfahrbar machen. Damals in den Siebzigern konnten Überlebende noch befragt werden, keine dreißig Jahre nach Kriegsende. So gelingt ihm ein einmaliges Zeitdokument mit KZ-Überlebenden, SS-Kommandanten und polnischen Dorfbewohnern. Ungeschminkt, oft ungekürzt. So erschüttern Schilderungen des Friseurs Abraham Bomba, der unbekleideten Frauen die Haare vor ihrer Vergasung schneiden musste. Oder die des Auschwitz-Augenzeugen Filip Müller. Ein junger Slowake im sogenannten Sonderkommando, der die Leichen aus den Gaskammern bergen und verbrennen musste. Müller gehört zu den gerade mal fünf Überlebenden des Sonderkommandos, die von Anfang an in Auschwitz dabei waren.

Die Täter reagieren ausweichend, abwehrend bis aggressiv. Beim Treffen mit dem Leiter der SS-Einsatzgruppen Schubert muss Lanzmann mit versteckter Kamera in der Tasche flüchten.  Lanzmann: „Ehrlichkeit hatte nur Niederlagen gebracht. Man musste lernen, die Betrüger zu betrügen. Es war eine Pflicht.“ Andere wie der SS-Brigadeführer und Diplomat im Auswärtigen Amt Eduard Veesenmayer leugnet 1975 ungebrochen die Verbrechen. Er sagt: „In Deutschland hat man die Nase voll. Man will einmal Ruhe haben.“ Andere Verantwortliche wollen erst nach Kriegsende vom „Judenmord“ erfahren haben. Karl Wolff, General der Waffen-SS und Adjutant Himmlers antwortet in die Kamera von Claude Lanzmann: „Es gab keinen Führerbefehl. Das ist jüdische Propaganda seit zwanzig Jahren.“ Der frühere SS-Verbindungsoffizier in Hitlers Führerhauptquartier war 1964 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen in Treblinka zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden. 1969 wurde er entlassen.

 

Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen. Eine Ausstellung für die Ohren – und das Herz. Der Filmemacher: „Nur Zeugnisse können Revisionismus verhindern.“ Jüdisches Museum Berlin. Foto: Jens Ziehe

 

Seit 2023 gehört die Sammlung Lanzmann mit Shoah zum UNESCO-Weltkulturerbe. Pünktlich zum 100. Todestag des französischen Chronisten der Shoah präsentiert das Jüdische Museum Berlin neunzig Minuten Aussagen und Interviews aus 220 Stunden Audiokassetten und 530 Stunden Filmmaterial. „Es gibt wenig zu sehen, aber viel zu hören“, betont Direktorin Hetty Berg. Die Beispiele jedoch gehen unter die Haut, in insgesamt elf Hörinseln. Ein einmaliges Dokument gegen Gleichgültigkeit, Vergessen oder Verharmlosen. Auch hier gilt die Hoffnung: Vielleicht lernt die Menschheit doch aus ihren Fehlern? Bis Ende 2027 sollen alle Tonaufnahmen digitalisiert und zugänglich gemacht werden.

 

Audiokassetten Claude Lanzmann. Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März

 

Witwe Dominique Lanzmann-Petithory, Krankenhausärztin in Paris, sagt: „Shoah ist der passende Schlüssel. Ein Kunstwerk ohne Leichen, ohne Schüsse, ohne Blut – das zum Denken zwingt und die Vorstellungskraft aktiviert.“ Sein Werk sei für die Ewigkeit bestimmt, „ein Teil des Weltgedächtnisses.“

Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen. Jüdisches Museum Berlin.

Bis 12. April 2026. Zeitgleich in Paris (Le Mémorial de la Shoa) und New York (The New York Historical) zu sehen.

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Sein Kampf

Lachen ist schön. Andere zum Lachen bringen, noch schöner. Lachen als Beruf kann wunderbar sein. Aber Augen auf bei der Berufswahl! Eigentlich sind schlechte Zeiten beste Zeiten für Satiriker, Komiker, Kabarettisten, Zyniker und Comedians aller Art. Wenn es den Menschen mies geht, „mach Komödien“, meinte einst 1,2,3-Altmeister Billy Wilder. Serdar Somuncu ist so einer, der seit Jahrzehnten Menschen zum Lachen bringt, dass es einem im Halse stecken bleiben kann. In Istanbul geboren, in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, gibt er den furchtlosen, unbeugsamen „Quoten-Kanake“.

Wikipedia sortiert den Mann als Kabarettist, Autor und Regisseur ein. Studierter Schlagzeuger ist er auch. Die Bühne ist sein Leben, Provokation sein Geschäft. Motto: „Jede Minderheit hat ein Recht auf Diskriminierung.“ Als Macho-Türke mit großer Klappe legt er einen kometenhaften Aufstieg hin – dank Adolf Hitler. Jahrelang hat er „Mein Kampf“ unters Volk gebracht. Manchmal mit schusssicherer Weste und Polizeischutz, wenn er vor Neonazis den Führer durch den Kakao zog. Eines seiner Bücher heißt: „Der Adolf in mir!“ Somuncu 2020: „Mein Lebensthema ist die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus; mit Faschismus, mit Propaganda und der Durchsetzung von Denkstrukturen, die destruktiv sind.“

 

Serdar Somuncu in seiner Rolle als Hassprediger „Hassias“. Foto: Sebastian Igel

 

Serdar Somuncu hat über hundert Theaterstücke inszeniert, darunter Kafkas Bericht für eine Akademie. Unaufhaltsam macht er wortmächtig Karriere.  Von 2016 bis 2023 moderiert er „Die blaue Stunde“ auf radioeins. Er tritt bei der „heute-show“ auf und ist bei n-tv als „So! Muncu!“ präsent. Seine Leib- und Magen-Rolle: Der Hassprediger „Hassias“ – ein Serdar-Worteigengebräu aus Messias und „GröHaZ“ –dem größten Hassias aller Zeiten. Sein Erfolgsrezept: Regierungen kommen und gehen. Hass bleibt.

Somuncu tritt in die Fußstapfen von TV-Kultfigur „Ekel-Alfred“. In Corona-Zeiten attackiert er „Ungesundheitsminister“ Lauterbach und stellt sich immer unverblümter auf die Seite der Ungeimpften. Plötzlich erhält der bekennende Antifaschist Beifall von rechts und Konflikte mit den sogenannten Mainstreammedien. Im September 2023 verkündet er sein Karriereende; da ist er 55 Jahre alt. Viel zu jung, um in Rente zu gehen.

Es wird stiller, die Bühnen kleiner. Provokationskünstler Somuncu feiert folgerichtig im Netz sein Comeback. Auf Instagram und YouTube präsentiert er sich als Kulturkämpfer gegen Wokeness und produziert platte Beschimpfungsvideos, besonders im Visier Frauen: Dunja Hayali sei eine „systemtreue Handlangerin“, Heidi Reichinnek „eine linke Klimperkiste, die schneller als ein Maschinengewehr“ spreche und Annalena Baerbock etikettiert er als „Anal-Ena“. Willkommen im tiefsten Souterrain der Satire.

Satire darf alles. Natürlich. Jedenfalls in einem freien Land. Doch für schale Sprüche wie: man dürfe hier nichts mehr sagen, gibt es keine Erfolgsgarantie. Plötzlich fühlt sich Somuncu „sanktioniert“, weil er nicht mehr „genehm“ sei. Der Hassprediger macht weiter, was er kann: Er teilt aus: gegen Ukraine-Präsident Selenskyj als „räudigen, bettelnden Straßenköter“ und bezeichnet das TV-Geschäft als Scheinwelt. „Die Leute verstellen sich. Es ist asozial.“ Jeder Text werde minutiös geprüft. Das sei faschistoid. Er beklagt in einem neuen Podcast mangelnde Solidarität unter Comedians.

 

 

Was für ein Wandel. Der Mann, der punktgenau und schlagkräftig austeilt, inszeniert sich als Opfer, das beleidigt auf Kritik reagiert. Die lautet: Er mache mittlerweile alles für Applaus. Er liefere den Wütenden seine Wut, um Klicks zu generieren; seine Gags würden immer verbissener und ernster, er sei eine Art Mario Barth geworden. Humor unter Aldi-Niveau.

Menschen zum Lachen zu bringen, ist eine Kunst. Und Kunst ist eine ernste Sache, meinte einst der Urvater des subtilen und befreienden Humors, Karl Valentin. Sein Geheimnis? Ein Augenzwinkern. Was ist nur los mit Serdar Somuncu? Vom rotzfrechen Hitler-Imitator zum schwurbeligen AfD-Hofsänger? Als ich das letzte seiner vielen Wut-Videos gesehen habe, bescheren mir die YouTube-Algorithmen eine musikalische Überraschung. Weiter geht’s mit Tannhäuser von Richard Wagner. Danke KI, für diese herrliche Pointe zum Schluss.

 

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„Ich halte doch nicht die Luft an“

Anruf bei Cornelia Schleime. Wir kennen uns schone eine ganze Weile: „Wie geht’s Dir? Was läuft?“ – „Meinem Hund geht es schlecht. Susi ist 17, das wäre bei uns Menschen hundert. Ich kann nicht mehr verreisen. Geht nicht mit der alten Dame.“ – Und sonst? – „Ich mache einen Tango-Kurs.“ Wer Cornelia Schleime kennenlernt, wird sie nicht vergessen. Jetzt also Tango mit Wiegeschritt. So viel Energie, Tatendrang und noch mehr Lust auf Neues. Das Leben ist Tanz. Ihre künstlerischen Arbeiten sind derzeit auf gleich drei Ausstellungen in der Republik zu sehen: Augsburg, Stuttgart und Frankfurt/Oder.

Kaum zu glauben. Cornelia Schleime ist mittlerweile 72 Jahre. In Denken, Fühlen und Handeln zeigt sie sich geistig beweglicher als viele aus der Gen Z. Von Verzagtheit und Weltschmerz keine Spur. Die Vollblut-Malerin, Autorin, Filmerin und Performerin ist ein Gesamtkunstwerk. Sie ist wie ihre Vaterstadt Berlin: Crazy und krass, unangepasst und verwegen. Dabei lebt sie die meiste Zeit in der märkischen Streusandbüchse. Draußen auf dem Lande. Zwischen Blumenkohl, Fuchs, Hase und Windrädern.

 

Selbstporträt als Schaf. 2010 – alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Cornelia Schleime.

 

Farbe ist ihr Element. Ihr Fundament ein wilder Mix aus Romantizismus, Figürlichkeit und Vielschichtigkeit. Plus jede Menge Fantasie, Selbstironie und Witz. Malen ist für sie „ein Liebesakt“. Einer ihrer Vorbilder ist der Surrealist Louis Bunuel. Schleimes Bildkompositionen kombinieren häufig Frauen mit Tieren. Auf die Leinwand zaubert sie Fabelwesen, stark und selbstbewusst. Die Schleime-Menschen. Das Besondere: Die Blicke der Porträtierten ziehen die Betrachtenden magisch ins Bild hinein. Schau mir in die Augen!

Man nennt sie eine Rebellin. Das einstige Punk-Girl vom Prenzlauer Berg, als das Altbauviertel kaputt, aber kreativ war. Mit Ofenheizung, begehbaren Dächern und Klo auf halber Treppe. Kunst Made in GDR. Die Berliner Pflanze Conny kann sanft und poetisch sein, wenn sie will: „Eine Fabuliererin mit Lust am Absurden“, lobt eine Kunstkritikerin. Schleimes Motto: „Überleben durch Schönheit, um nicht an der hässlichen Wahrheit durchzudrehen.“

 

Bondage. Hüpstedt/DDR. 1982. Foto: Bernd Hiepe

 

„Sie hasst Langeweile und Glattheit. In der DDR wurden ihre Arbeiten verboten, heute hängen sie weltweit in Museen und Galerien“, vermerkt der Deutschlandfunk. Schleime hat jeden Schritt in ihrem Leben selbst erkämpft. Mal verträumt und mädchenhaft, mal durchgeladen wie eine Kalaschnikow. Die waschechte Berlinerin lernt Friseurin, jobbt als Pferdepflegerin auf der Rennbahn in Dresden. Dabei möchte sie mit siebzehn nur eines werden: Künstlerin. Doch die DDR, in der sie erwachsen wird, setzt enge Grenzen. Unbeeindruckt probiert sie sich aus: als Grenzgängerin. Sie wird Frontfrau der ersten DDR-Punkband „Zwitschermaschine“, Friedhofswächterin, Maskenbildnerin, Aktmodell und Fotografin.

Sie studiert Malerei in Dresden, lernt mit achtzehn den Lyriker Sascha Anderson kennen. Leitfigur der Untergrund-Szene vom Prenzlauer Berg und zeitgleich Haus- und Hoflieferant der Stasi. Er verrät viele in der Szene und seine Freundin Conny gleich mit. Schleime wird mit Ausstellungs- und Berufsverbot belegt. „Natürlich hat mich das persönlich hart getroffen. Er hat sich bei mir entschuldigt und diese Entschuldigung habe ich auch angenommen.“

 

Rotkäppchen. 2020

 

Sie ist Anfang dreißig, als sie die kleine DDR mit dem großen Sozialismus-Anspruch verlässt. Das war 1984. Sie reist „mit Sohn Moritz, einem Koffer und einem Federbett“ nach West-Berlin aus. Zurück blieben etwa hundert Ölbilder und tausend Zeichnungen. Beschlagnahmt oder vernichtet? Niemand weiß es. Ihre frühen Arbeiten sind bis auf Fotos und einige Super8mm-Filme bis heute nicht aufgetaucht.

Seit einem halben Jahrhundert malt, dichtet, singt, schreibt, filmt und inszeniert Schleime, was ihr auf der Seele brennt. Sie lacht gerne, redet viel und schnell, mag kein Kunstgelaber. Die Berlinerin ist bodenständig und künstlerisch enorm kreativ. Der lebende Gegenentwurf zu verkopften und dogmatischen Intellektuellen. Sie sagt: „Lachen befreit.“

 

Für den, der von mir will, was ihm nicht zusteht. 2022

 

In letzter Zeit wird sie mit Auszeichnungen und Preisen überschüttet, „obwohl Frauen in der Kunstbranche das Doppelte, bis Dreifache leisten müssen, bis sie anerkannt werden“, sagt ihr Galerist Judin. Heute gilt Cornelia Schleime als „Grand Dame“ und „eine der besten Malerinnen des Landes“, so die Kunstkritik.

Stellen Sie sich mal vor! Für diese Gesprächsreihe möchte ich sie gewinnen. Spontan sagt Conny zu. „Klar mache ich mit, wenn ich Zeit habe. Ich kann ja nicht weg, der alte Hund.“ Am 21. März 2026 kommt die freiheitsliebende Grand Dame des deutschen Kunstbetriebs in das kleine Theaterdorf Netzeband. „Für Euch mache ich das. Aber vorbereiten ist nicht. Kommt nicht in die Tüte.“ Klar: Conny braucht kein Drehbuch, sie atmet das Leben – in jeder Sekunde.

 

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F*ck mich Finch

Wer kennt Finch? Fast alle Arme schnellen nach oben. Die 13- bis 15-jährigen Kids vom Gymnasium Strausberg II mögen ihn. „Der ist von hier! – Ein cooler Ossi, der sich nicht unterbuttern lässt. – Ein Unioner. – Super Texte“, lauten die Antworten. Ein Schüler durfte mit den Eltern zum Konzert. Gemeinsam mit 15.000 Fans in der ausverkauften Berliner Arena in Friedrichshain. Um Finch geht es auch beim Projekttag an einem ostdeutschen Gymnasium. In drei Workshops sollen Fragen zur Rolle der Mediennutzung von Literatur bis TikTok angesprochen werden. YouTube nutzen alle. YouTube hat Finch zum Star gemacht. Jetzt füllt der Rapper mit dem Ossi-Bonus die größten Hallen von Hamburg bis München.

Im Osten geht die Sonne auf. Für Finch ist das Programm. Als Nils Wehowsky am 13. April 1990 in Frankfurt/Oder geboren, ist er ein waschechtes Wendekind. Gelandet in einer Welt im totalen Wandel zwischen Mauerfall und Einheit. Zwischen Aufbruch und Treuhand-Jahren. Über Kindheit und Jugend sagt er: „Wir hatten wenig, aber wir hatten uns.“ Er macht eine Mechatroniker-Lehre, nebenbei schreibt er auf, was er sieht. Die ersten Textversuche schickt er seinem Deutschlehrer. Vor gut zehn Jahren wird aus Nils Finch Asozial. Sein Debütalbum Dorfdisko schlägt 2019 voll ein. Es geht um harte Jungs, große Sprüche und scharfe Bräute; ferner um Disko, Trabis, Softeis. Pfeffi, Fliesentisch und Vokuliha.

 

 

Finch Asozial macht seinem Namen alle Ehre. Ein Ost-Proll der Extraklasse. Reden frei Schnauze. Chauvi-Sprüche am Fließband. Kostprobe: „Fick mich Finch … „Aua. Es tut so weh. Bitte schieb ihn nur zur Hälfte rein.“ Seine Texte sind alles, außer politisch korrekt. Seinen Sound beschreibt er selbst als „Klamauk-Ballermann-Rap“. Ein wilder Ritt, gewürzt mit Rap, Rave, Techno und Schlagermusik zum Mitsingen. Finch provoziert, Finch polarisiert. Ist er ein Rechts-Rapper, der AfD-Parolen zu Texten verhackstückt? Oder ein Rebell, der für eine neue Wende im Lande steht? Egal. Der Mann hat Erfolg. Und wie!

Finch erntet steile Shitstorms aus allen Empörungsgemeinden. Für die Linken ist er zu rechts, für die Rechten zu links. Die Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes bezeichnet ihn als „frauenfeindlich und sexistisch“.  In der späten Corona-Zeit ändert Finch sein Image. Den Zusatznamen „Asozial“ streicht er. Nun mache er Texte ohne „Meldefinger“, betont er. Rassismus sei im Übrigen eine gesamtdeutsche Realität. Im Song Wenn du dumm bist, kritisiert Finch rechtes Gedankengut. Nach einer Parodie durch Künstler des rechten Labels NDS kündigte Finch an, seine GEMA-Einnahmen der linken Punkband Feine Sahne Fischfilet zu spenden.

 

 

Finch spricht offenbar vielen aus dem Herzen, die einfach so reden wollen, wie sie denken. Ohne Angst vor Tugendwächtern und Besserwisserei. Lieder wie „Liebe ist ein Wir-Gefühl“ oder „Ostdeutschland“ werden bei Live-Konzerten in Berlin oder Stuttgart tausendfach mitgegrölt. In Onkelz Poster heißt es: „Ich saufe mich ins Koma, an der Wand hängt mein Onkelz Poster. Anfang zwanzig, mit Leberzirrhose/Schuld sind die oben. Der Hass in euch/und ihr hasst uns … Ich wünsch’ mir meine DDR zurück.“

Nils alias Finch ist mittlerweile 35 Jahre, genauso alt wie die deutsche Einheit. Finch hat die DDR nie erlebt. Genau wie die Schüler in Strausberg und die große Mehrheit seiner Fans. Aber der Junge aus dem verschwundenen Drei-Buchstaben-Land hat ein gutes Gespür für Widerspruch und Zeitgeist. Seine Fans sind dankbar, übrigens in ganz Deutschland. Vielleicht auch deshalb, weil der Rapper für Eigensinn, Stolz und Selbstbehauptung steht – gegen „die da oben“.

 

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Der Kunstmaler vom Heldenplatz

Wien. Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Habsburger Reich versprüht Prunk und Pomp. Kaiser Franz Josef schenkt seinem Volk imperialen Glanz und Gloria. Auf gut vier Kilometern und in sechzig Meter Breite reiht sich am Ring ein Monumentalbau am anderen: Börse, Universität, Rathaus, Burgtheater, Parlament, Hofburg, Kunst- und Naturhistorisches Museum, Staatsoper. Eine perfekt inszenierte Selbstdarstellung der k.u.k. Monarchie, heute von Millionen Touristen bestaunt. Im Zentrum Wiens die Hofburg. Residenz und Herzkammer des Habsburger Reiches. Heute Sitz von Museen mit Schatzkammer, Hofreitschule, Hof- und Volksgarten. Maria Theresa und Mozart-Denkmäler. Doch der unübersehbare Blickfang ist der Altan. Heiligtum der Habsburger und bis heute toxische Tabuzone der Republik. Das hat einen Grund.

 

Blick auf Altan und Heldenplatz in Wien. Der Name Altan hat verschiedene Bedeutungen: Er bedeutet „Gold“ auf Mongolisch und „rote Morgendämmerung“ auf Türkisch.

 

Die 200qm-große Terrasse mit dem grandiosen Blick auf den Heldenplatz heißt im Wiener Volksmund nur „Hitler-Balkon“. Hier verkündete am 15. März 1938 der Mann mit dem Schnauzer einer jubelnden Masse den „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland. Noch ein Jahr zuvor war auf dem Balkon probeweise eine große Holzschablone mit einem geplanten Denkmal für Kaiser Franz Josef platziert worden. Es kommt radikal anders! Auf die Habsburger Herrschaft folgt nach kurzer Republik das Hakenkreuz-Reich.

An der Balkontür heißt es: „Betreten verboten!“ Zunächst verfügte Hitler selbst, der Altan dürfe nicht mehr genutzt werden. Nach seinem Ende 1945 blieb die Terrasse weiter gesperrt. Eine No-go-Area bis heute. Offiziell aus baulichen Gründen, die Balustrade sei zu niedrig. Vermutlich wohl eher, um eine Wallfahrtsstätte zu verhindern. Erlaubt ist daher nur, durch die verriegelte Balkontür zu blinzeln.

 

Soll der Zugang zum „Hitler-Balkon“ geöffnet werden? Oder soll die Tür zum Altan in der Wiener Hofburg weiter geschlossen bleiben?

 

Was wäre, wenn? „Tja, wäre wohl besser gewesen, wenn’s ihn damals genommen hätten“, sagt die Museumsfrau im schönsten Wienerisch an der nicht weit entfernten Kunstakademie am Schillerplatz. Hier hatte sich 1907 der achtzehnjährige Adolf H. an der Malschule beworben. Die Akademie ist ein weiterer Habsburger Prachtbau. Italienische Hochrenaissance, im Innern eine beeindruckende Aula mit Deckenbildern von Anselm Feuerbach. Im Obergeschoss eine Galerie, prallvoll mit Meisterwerken aus fünf Jahrhunderten.  Von Cranach dem Älteren über Rembrandt bis Rubens. Adolf H., der Junge aus der Provinz und Schulabbrecher, dessen Mutter Clara mit Brustkrebs im Sterben liegt, scheitert zweimal. Das Prüfungsprotokoll von 1907 vermerkt sinngemäß: „Die Zeichnungen zeigen keinen ausreichenden Sinn für figürliches Gestalten.“

 

Wiener Staatsoper von Adolf Hitler. 1912. Viele seiner Bilder sind in den USA unter Verschluss.

 

Die Herren Professoren bescheinigen dem Kunsteleven immerhin eine gewisse „architektonische Begabung“. Tief enttäuscht zieht sich der abgelehnte Kunstmaler zurück, wohnt in einfachen Zimmern, zuerst in Mariahilf im 6., später im 15. Bezirk. Als die Mutter stirbt, reicht die winzige Waisenpension kaum zum Überleben. Von Februar 1910 bis Mai 1913 bezieht Hitler im 20. Bezirk in der Meldemannstraße in einem Männerheim eine Schlafstelle mit Gemeinschaftsküche. Heute wirbt dort das Pflegeheim „Seniorenschlössl“ mit dem Motto „Wie daham“ und einer Regenbogenfahne vor der Eingangstür.

 

Ehem. Männerwohnheim in der Meldemannstraße 27, Wien-Brigittenau, im 20. Bezirk. Einst eine Art Obdachlosenheim, heute ein Pflegeheim.

 

Kunstmaler Adolf fertigt in seinen Hunger- und Künstlerjahren selbstgemalte Postkarten und kleine Aquarell-Stadtansichten.  Hunderte, gar tausende Bilder malt er wie am Fließband, alle zum schnellen Verkauf. Von der Wiener Staatsoper bis zum Bergbauernhof, auch einmal Porträts wie das „Mutter Maria“-Motiv. Seine Käufer seien in der Mehrheit Juden gewesen, berichten Biografen. Ein Rechtsanwalt namens Josef Feingold, habe eine ganze Reihe von Bildern Hitlers gekauft, die das alte Wien darstellen. Von Pracht und Pomp des kaiserlichen Wiens mit glanzvollen Opernbällen, Sachertorte und Dreiviertel-Takt ist Kopist Hitler selbst Lichtjahre entfernt. Der Postkartenmaler malt, um zu überleben und das, was sich verkaufen lässt.

 

„Mutter Maria“ von Adolf Hitler, 1913. Eine seiner ganz seltenen Porträt-Zeichnungen.

 

Im August 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als Hitler im Zenit steht, vertraut er dem britischen Botschafter Nevile Henderson  in Berlin an: „Ich bin Künstler und kein Politiker. Sobald die polnische Frage geklärt ist, möchte ich mein Leben als Künstler beenden.“

 

Die Aula der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Immer einen Besuch wert. In der Gemäldegalerie werden Tradition und Moderne gepflegt. Hier wurde Hitler zweimal abgelehnt.

 

„Ach, es wäre uns viel erspart geblieben, hätten sie ihn an der Akademie aufgenommen“, betont noch einmal die aufgeweckte Wienerin, die in der Kunstakademie Rubens, Rembrandt und Hieronymus Boschs berühmtes „Weltgericht“ mit Himmel und Hölle beaufsichtigt. Währenddessen bleibt in der nahen Hofburg der „Hitler-Balkon“ weiter fest verschlossen. Auch achtzig Jahre danach. An einer Informationssäule auf dem Weg zum Balkon kann abgestimmt werden, ob der Altan gesperrt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Das Ergebnis ist eindeutig. Die Befürworter für eine Öffnung liegen Ende Oktober 2025 bei über 200.000 Stimmen, die Gegner bei rund 26.000. Und? Was denken Sie?

 

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Endstation Elbschlosskeller

In der Nacht ist der Mensch nicht gerne alleine! An der Macht allerdings ganz gerne. Was tun, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt? Netflix schauen, Dating-Portals checken oder Katzenvideos gucken? Es gibt Alternativen. Eine befindet sich in St. Pauli auf der Reeperbahn. Mitten im Kiez. Ein Laden mit viel Bier, Schnaps, Rauch, Paradiesvögeln, Gestrandeten und langer Tradition. Hier trifft sich rund um die Uhr das Bodenpersonal der Abteilung Lonely Hearts. 24/7 geöffnet, 365 Tage im Jahr, seit 1952. „Deutschlands immer noch härteste und sozialste Kneipe“, behauptet Wirt Daniel Schmidt, bald 41. Ein eloquenter, bunt tätowierter Kneipenchef eines Familienbetriebes der besonderen Art. Willkommen im Elbschlosskeller!

Daniel Schmidt ist ein Kraftpaket, ein Mann mit klarer Ansage, dazu ein perfekter Entertainer, RTL 2-gestählt. Er hat ein ausgesprochen sensibles Radar für Menschen, Situationen, Hoffnungen, Ängste und Sorgen. Keine Frage: Am Kneipentresen kommt nach dem fünften Pils die Wahrheit auf den Tisch, oder was man dafür hält. Jedes Leben ist wie ein Roman. In den durchzechten Nächten verbreitet sich das berühmt-berüchtigte Elbschlosskeller-Aroma: „Eine Mischung aus Alkohol, Rauch, Schweiß und einfach vielen Menschen und gelebtem Leben.“ So steht es im neuen Buch von Daniel Schmidt. „Löwengrube. Durch den Vorhof zur Hölle zu einem Leben in Liebe.“ Auf dem Buchcover ist ein kleiner Zusatz vermerkt: „Kein Roman“.

 

Daniel Schmidt. Zu Hause im Elbschlosskeller auf St. Pauli und auf vielen Bühnen dieser Welt.

 

Also ein Sachbuch? Von wegen. Daniel in der Löwengrube schildert höchst unterhaltsam sein abenteuerliches St-Pauli-Leben. Angeblich hinterm Tresen im Elbschlosskeller gezeugt, entwickelt er eine rasante Tour durch „Deutschlands sündigste Meile“. Es ist die filmreife Vita vom neunjährigen Bettnässer über den Hooligan zum achtzehnjährigen Jungkneipenwirt, der sich nach oben zapft. Nichts lässt er anbrennen. Sex, Drugs and Rock ‘n Roll.  Es geht um Elbschlosskeller-Schicksale wie Miss Piggy. Sie lässt ihr frisch entbundenes Baby draußen alleine im Kinderwagen, weil sie lieber sabbeln will und Durst hat. Oder Thomas alias Tamara. Er kündigt sein Leben als Unternehmer mit Familie auf. Aus dem Porschefahrer wird Tamara, „die immer aussah als käme sie frisch vom Friseur“. Er stirbt an Aids.

 

 

Der Tod ist Stammgast im Elbschlosskeller. „88 Tote“ zählt Daniel in den letzten fünf Jahren. Zu viel Alk, Drogen, Frust, Einsamkeit und Selbst-Zerstörungswut. Als Urgestein Lars, der 150-Kilo-Mann und Türsteher von rausgeworfenen Gästen mit einem Metallmülleimer erschlagen wird, bleibt selbst Daniel Schmidt einmal kurz die Sprache weg. Sein Wendung aus dem „Vorhof zur Hölle“ zu Jesus ist sicher überraschend und wirft neue Fragen auf. Ist das ernst gemeint? Sichtbar hat sich Daniel Jesus is King auf seinen Nacken tätowieren lassen.

 

 

Kneipier Schmidt gründet und organisiert auf St. Pauli seinen Hilfsverein „Wer, wenn nicht wir“. Dort hilft er Obdachlosen, Verzweifelten und Gestrandeten. Sein Traum für die Zukunft: Ein Reste- oder Gnadenhof auf dem platten Land. Ein Asyl für gequälte Menschen und Tiere. Das ist seine Vision, dank Jesus. Daniel steht weiter am Tresen, allerdings deutlich weniger als in seiner Sturm- und Drangzeit. Etwas anderes macht er mittlerweile täglich: Beten. Ja, richtig: Beten! Wer glaubt, wird selig. Nachzulesen in seiner Kellergeschichte, die sich wie ein Thriller liest, ständig auf hoher See zwischen Drama, Drogen, Herzschmerz, Freundschaft und Tragödie, genau wie seine Gäste in den langen Nächten. Daniel in der Löwengrube wird nicht müde zu wiederholen, alles sei so passiert in seinen berührenden Geschichten aus dem Keller der Gesellschaft. Alles, bloß kein Roman. Echt wahr!

Daniel Schmidt. Löwengrube. Kösel, 2025.

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Chemnitz, mon amour?

Die Blätter fallen. Bald ist das europäische Kulturhauptstadtjahr Geschichte. Chemnitz feiert die letzten Herbsttage mit viel Kunst und Kultur. Dieses geschundene „sächsische Manchester“ mit mehr Schornsteinen als Kirchtürmen. Mehr Fabriken als Schlössern. Ein lebendiges Industriemuseum, mit Gießereien, Webmaschinen, Erz, Fahrzeugen, Fit, Karl Marx, Kraftclub und Kati Witt. Die Hoffnungen der einstigen Malocherstadt für die Zukunft: Start-ups, E-Mobilität, Wasserstoff-Energie und KI. Alles Visionen und Versprechen, zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum.

In Chemnitz ist einiges zu entdecken: von der großen Edvard Munch-Ausstellung über die hochgelobte Operninszenierung „Rummelplatz“ bis zum Projekt Offener Prozess, dem Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen. Eine Ausstellung mitten im Wahlkreis von Alexander Gauland, dem Gründervater der AfD. Ohne Kulturhauptstadtstatus wäre dieses Projekt undenkbar.

 

„Handwerkertöchter“. Selbst ist die Frau. Zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum Chemnitz.

 

Die meisten großen Events enden im November 2025. Was hat das Projekt nun gebracht? Es gebe ein neues Wir-Gefühl, sagen viele. Ja, die herbe Schönheit hat sich aufgehübscht. Ja, die großen Straßen und Plätze wirken abends weiter leer und verlassen, aber in vielen Industrieruinen blüht neues Leben auf. „C the Unseen“, das Motto der 250.000-Einwohner-Stadt, hat die Sachsen-Stadt ein Stück sichtbarer gemacht. Als lebenswerter Ort mit Ecken, Kanten und Brüchen. Chemnitz, das Aschenputtel, leuchtet in der Nacht. Jeden Abend schickt der 300 Meter-hohe Schornstein eines Heizkraftwerkes wie ein Leuchtturm seine Signale in die Ferne.

 

Chemnitz leuchtet: Der 302 Meter hohe Schornstein des Chemnitzer Heizkraftwerks leuchtet bereits seit 2017. Insgesamt 168 LED-Leuchten erhellen das vermutlich höchste Kunstwerk der Welt. Foto: Peter Zschage

 

Wer kann, hat jetzt eine letzte Gelegenheit, die Kulturhauptstadt Europas kennenzulernen. Jenseits aller üblichen Ost-Klischees bietet der Stadtteil Kaßberg hohe Lebensqualität mit Jugendstilvillen und Gründerzeitchic. Ein Geheimtipp ist das kleine Café Supp-Kultur. Freundliches Personal, nettes Ambiente, preisgünstiger Mittagstisch. Die Tagessuppe zu 4,20. Dafür gibt’s in Berlin-Mitte nicht einmal mehr den üblichen Latte Macchiato. Übrigens, eine hübsche Drei-Zimmer-Altbauwohnung wird für 670 Euro Warmmiete angeboten.

Auf nach Chemnitz? Tja. Wir alle wissen: Nichts ist stabiler als ein Vorurteil. Dagegen versuchen die Kulturleute seit Anfang des Jahres anzugehen: Bei der Ost Vision, eine Art Messe für Menschen unter 30 mit Musik, Workshops und Gesprächen wurden zunächst alle Klischees eingesammelt: „Alles Nazis dort, hässliche Stadt, kein Fortschritt, das Chemnitzer Lächeln gehe nur mit Mundwinkeln nach unten.“ Debattiert wurde die alte Ost-Frage: Bleiben oder gehen? Junge Menschen wollen Treffpunkte, die nicht früh schließen oder unbezahlbar sind. Jede/r – auch in Chemnitz – will mal an die Sonne. Beginnt nun etwas zu keimen? Immerhin wollen heute nicht mehr alle sofort nach der Schule weg.

 

Neues Leben in alten Gemäuern. Der Wirkbau mit seinem Club Atomino. Ein Hotspot in Chemnitz.

 

Das andere Chemnitz. Seit 25 Jahren trommelt der Kultclub Atomino mit Partys, Konzerten, Lesungen und Quizabenden gegen die Tristesse an. Mit „Absurdität, Übermut, Ekstase und Selbstironie“, so die Eigenwerbung und „dem schönsten Dachgarten der Welt“. Alles beheimatet in einem einst stolzen Textilmaschinenwerk, heute Wirkbau genannt, eines von 350 Industriedenkmalen der Stadt. In der Stadt ist tatsächlich viel Raum für Neues. Die Hauptattraktion jedoch bleibt ein großer, schwarzer, massiver Granitschädel, der „Nischl“. Ja, er ist noch da: Karl Marx. Bis 1990 trug die Stadt seinen Namen. Dabei war der Mann nie in Chemnitz. Wie so viele, die eher Klischees über die oft übersehene Stadt in Sachsen im Kopf haben. Noch ist das Kulturhauptstadtjahr nicht zu Ende.

 

So wirbt Chemnitz für die Kulturhauptstadt Europas 2025. Ziel: ein neues Wir-Gefühl!

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Mein Opa, der Nazi

Was tun, wenn der eigene Großvater Teil des NS-Regimes war? Unabdingbar stellen sich Fragen. War er in Verbrechen verstrickt oder einer der vielen Mitläufer? Wie konnte es dazu kommen? Was war seine Rolle? In vielen Familien wird die Geschichte der Vorfahren bis heute eher beschwiegen. Einige wenige haben sich dieser Frage gestellt: Albert Speer-Tochter Hilde Schramm oder Niklas Frank, Sohn der NS-Größe Hans Frank. Ein zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher, genannt der „Schlächter von Polen“. Jetzt wagt sich Unternehmer Dominik von Ribbentrop mit seinem lesenswerten Buch „Verstehen. Kein Verständnis“ auf vermintes Gelände. Joachim von Ribbentrop war sein Großvater und Hitlers Außenminister. Er fädelte 1939 den Hitler-Stalin-Pakt ein. Persönlich kannten sie sich nicht. Der Großvater wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet.

Ribbentrops letzte Worte auf dem Schafott: „Gott schütze Deutschland!“ Enkel Dominik versucht auf 336 Seiten eine Annäherung an einen Diplomaten, den Hitler als „besten Außenminister seit Bismarck“ lobte. Die Geschichte sieht in ihm einen „Erfüllungsgehilfen, Vasall, Schergen und Lakai“ Hitlers. Ein Hardliner und Karrierist. Eisig, arrogant und abweisend. Getrieben von einer Eitelkeit, die stets mehr verlangte.

 

Joachim von Ribbentrop (1893 – 1946) NS-Außenminister. Er fädelte 1939 den Hitler-Stalin-Pakt ein. Die Aufnahme entstand in Nürnberg, nach Kriegsende am Rande des Kriegsverbrecherprozesses.

 

Enkel Dominik beschreibt seinen Großvater als sprachbegabten Abenteurer. Ein preußischer Offizierssohn aus Wesel. Geigenspieler mit englischem Hauslehrer und Auslandsaufenthalten in Kanada und der Schweiz. Er heiratet nach dem I. Weltkrieg in die Familie des Sektkonzerns Henkell ein. Kurzum: Ein „Feingeist, und empathischer Romantiker“, im turbulent-nervösen Babylon Berlin Schaumwein- und Whiskeyhändler. Wohlhabend mit Luxus-Villa in Dahlem. Fünf Kinder, sorgenfrei und eher unpolitisch. In der Weltwirtschaftskrise sympathisiert er mit der aufsteigenden nationalen Rechten. 1932 stellen sich entscheidende Weichen.

Der Unternehmer und Kommunistengegner Ribbentrop lernt im August 1932 Hitler auf dem Berghof kennen. Er sieht in seine „hypnotisch beschriebenen blauen Augen“. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. 1932 Eintritt in die NSDAP, wenig später SS-Standartenführer. Hitler wird Patenonkel von Ribbentrop-Sohn Adolf, der Vater des Buchautors Dominik. Im Januar 1933 treffen sich im Ribbentrop-Anwesen in der Dahlemer Lentzeallee Teile des künftigen Hitler-Kabinetts. Dort wird die Machtübernahme vorbereitet, deren drei Voraussetzungen „tiefgreifende nationale Kränkung, wirtschaftliche Abstiegsängste und ein mitreißender Demagoge“ waren, so Enkel Ribbentrop.

 

Vom unpolitischen, wohlhabenden Schaumweinhändler zum überzeugten Nazi in der ersten Reihe. Ribbentrop (vorne) 1941 im Reichstag.

 

Sein Großvater macht als Sondergesandter Hitlers Karriere. Er schließt 1935 ein Flottenabkommen mit den Briten, wird 1938 Außenminister. „Der Führer“ ist längst sein Mephisto, sein „gewissenloser Verführer“.  Wie lässt sich diese Radikalisierung erklären? Im Großvater würden sich „typisch deutsche Eigenschaften wie Idealismus und Angst, auch Genialität, Naivität und Radikalität auf schicksalhafte Weise“ verdichten. Ribbentrops Coup: Der „Hitler-Stalin-Pakt“ vom 23. August 1939, wenige Tage vor Ausbruch des II. Weltkrieges.

Ein großer Deal der beiden Diktatoren, „ein Ereignis welthistorischen Formats“, so der Enkel. Das Abkommen in Moskau über die Teilung Polens sei mit viel Wodka und einem schlecht gespitzten Bleistift besiegelt worden, „so dass der Strich auf der Landkarte in der Realität zwei bis drei Kilometer entsprach“. Ribbentrop fragte Stalin, wie er so viel Wodka vertragen könne. „Der lachte verschmitzt und antwortete, dass er seinen Dienern befohlen habe, sein Glas immer nur mit leichtem Wein zu füllen“.

 

Der Händedruck von Moskau besiegelt im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt. Danach beginnt der II. Weltkrieg. Rechts: Joachim von Ribbentrop.

 

Joachim von Ribbentrop war nicht Organisator der „Endlösung“, aber Mitmacher und Zuarbeiter. Sein Auswärtiges Amt war für Vorbereitung, Mitwirkung und Abschirmung des Holocaust verantwortlich. In den Jahren 1942 bis 1945 wird der großbürgerliche ehemalige Schaumweinhändler Ribbentrop kaltgestellt, er gilt im innersten Zirkel der Hardcore-Nazis als bürgerlicher Sonderling. „Für mich sind sein Gesichtsausdruck und seine verkrampfte Körperhaltung in den späten Kriegsjahren vielsagend“, meint der Enkel. Doch sein „Schweigen … ausblenden, ignorieren, wegsehen waren zentral für das Funktionieren dieses Regimes“.

In seiner Rechtfertigungsschrift, verfasst in der Nürnberger Gefängniszelle, schreibt Joachim von Ribbentrop: „Mit wem soll ich eigentlich noch über außenpolitische Fragen im Ausland reden? Alle in Fragen kommenden ausländischen Gesprächspartnern gehörten irgendwelchen Gruppen an, denen wir auf die Füße treten. Es war nicht nur die Judenfrage, die eine große Belastung für eine deutsche Außenpolitik darstellte. Zu den weiteren ideologischen Gegnern gehörten Sozialisten, Liberale, Kapitalisten, Freimaurer, Monarchisten, bestimmte Rassen, bestimmte Kunstrichtungen und Künstler, nicht zuletzt die Kirchen, Rotary Clubs und andere mehr.“

 

Adolf Hitler und Joachim von Ribbentrop. 1935. Quelle: Familienarchiv Ribbentrop

 

Großvater Ribbentrop hält an seiner Nibelungentreue bis zum Untergang fest. Im Januar 1945 ein letzter Versuch. Er bietet Hitler an, mit seiner Familie als Pfand nach Moskau zu fliegen, um Friedensgespräche mit Stalin zu führen. Hitler lehnt ab: „Ribbentrop, machen Sie mir keine Sachen wie Heß!“ Im Mai 45 taucht er mit falschem Namen unter, wird denunziert und rasch festgenommen. Die eigene Nazi-Geschichte verstehen, heißt nicht Verständnis zeigen, ist das Mantra des Buches. Enkel Dominik: „Der Spagat zwischen das Gute doch wollen und das Böse mitmachen, war ein teuflisches und unüberwindbares Dilemma für den Außenminister und vermutlich für einen Großteil seiner Generation.“

 

 

Wiederholt sich Geschichte? Nein, aber sie reimt sich, meinte Mark Twain. Dominik Ribbentrop versucht sich am Ende seines Buches mit Anmerkungen eines Enkels. Seine Schlussfolgerungen für heute – stabile Wirtschaft, Selbstverantwortung, „pazifischer Realismus“ – lesen sich wie eine gut gemeinte Bergpredigt. Hilfreicher wäre es gewesen, mehr über „die Banalität des Bösen“ in der eigenen Familie zu erfahren. Was tun, wenn der Opa ein Nazi war, noch dazu in herausragender Position?

Dominik von Ribbentrop. Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels. Inkl. eines Dialogs mit Rüdiger Safranski. Westend-Verlag. 2025.

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Der eiserne Gustav

Der Volksmund warnt: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ Gustav Hartmann aus Berlin-Wannsee ist Droschkenfahrer mit Leib und Seele. Er setzt auf Pferdestärke, PS genannt. Doch der knorrige Alte setzt stur aufs falsche Pferd. Autos hasst er. Sie sind laut, stinken und eine Zeiterscheinung, die bald vergeht. Gustav ist sich sicher: „Mit solchen Benzinstinkern mache ich mich nicht gemein! Das sind doch alles bloß Todeskandidaten, und in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr was von ihren Töfftöffs. Da ist die Mode vorbei“. Der kauzige Gustav weigert sich, die neue benzingetriebene Konkurrenz ernst zu nehmen. Warum? Ich bin “immer pünktlich auf die Minute, und dann im schlanken Trabe durch, und dabei kein Gejachter mit Peitschengeknall und Gejohle, und vor allem nie Streit mit diesen neumodischen Automobilen!“ Auch wenn Gustav nur noch Urinproben vom Krankenhaus ins Labor kutschieren darf.

 

„Der eiserne Gustav“ (1938) von Hans Fallada. Es brauchte fast achtzig Jahre, bis der Roman unzensiert erscheinen konnte.

 

Wir schreiben das Jahr 1928. Die Motorisierungswelle überrollt das Land. Das Pferd verkommt zum Kollateralschaden der Moderne. Schriftsteller Hans Fallada setzt dem unbeugsamen Kutscher im „Eisernen Gustav“ 1938 ein Denkmal: „Man muss nur in sein Gesicht sehen, dieses faltige Gesicht wie ein scholliger Acker, Jahr um Jahr säte neue Enttäuschung, schlimmere Niederlage, bitteres Entbehren ein. Aber die Augen sind hell geblieben, der Mund findet immer noch ein Witzwort. Alles, was geschah, hat ihn nicht weichschlagen können, er ist wahrhaft der eiserne Gustav, er hat das Hoffen nicht verlernt.“

Es kommt, wie es kommen muss. Der echte Gustav geht pleite. Er muss sich mit einem Kneipenjob durchschlagen. Plötzlich hat er eine Idee: Ich zeige allen noch einmal, was ein Pferdekutscher kann. Am 2. April 1928 bricht er mit Wallach Grasmus und Reporter Hans Hermann Theobald zu einer Marathontour nach Paris auf. Die französische Hauptstadt erreicht er nach gut tausend Kilometern Anfang Juni 1928. Mit seiner Protestfahrt will er sich gegen den Niedergang des Droschkengewerbes stemmen. Das macht ihn als Don Quichote des 20. Jahrhunderts berühmt. Seine Rückkehr nach 165 Tagen wird zum Triumphzug. Es scheint als könne er die Zeit anhalten, wenn auch nur für einen Moment.

 

Hans Fallada. Kurz vor 1936. Erfolgsautor in Weimarer- und NS-Zeit. „Kleiner Mann – was nun“; „Bauern, Bonzen, Bomben“ uva.

 

Die tragisch-kuriose Geschichte des Kurzzeithelden Gustav gießt Volksschriftsteller Fallada in ein 800-Seiten-Epos. Sein Roman „Der Eiserne Gustav“ wartet 1938 mit Figuren aus Zilles Milieu auf, gespickt mit Aufsteigern, Hasardeuren und traurig-gescheiterten Existenzen. Berlin aus erster Hand: vom dritten Hinterhof über Nachtklubs bis hoch zum Reichstag.  Doch Bestsellerautor Fallada, bürgerlicher Name Rudolf Ditzen, zahlt für seinen Erfolg einen hohen Preis. Um unter den Nazis veröffentlichen zu können, muss er den Schluss NS-freundlich umschreiben. Joseph Goebbels besteht auf Änderungen. Ihm fehlen Juden, die an allem schuld seien. Zudem verlangt der Propagandaminister ein Happy End, sonst könne der Roman nicht erscheinen. Zumindest den Schluss, den sogenannten „Nazi-Schwanz“, ändert Fallada. Der Sohn des Kutschers wird im Finale zum SA-Mann.

War Fallada ein feiger Opportunist? In seinen geheimen Tagebüchern, geschrieben in der Gestapo-Zelle 1944 rechtfertigt er den Kotau: „Ich liebe nicht die hohe Geste vor Tyrannenthronen, mich sinnlos, niemandem zu nutzen, meinen Kindern zum Schaden abschlachten zu lassen, das liegt mir nicht; nach drei Minuten Überlegung nahm ich den Zusatz-Auftrag an. Was ich dann freilich mit mir zu Hause abzumachen hatte, das steht auf einem andern Blatt. Der Monat, durch den ich an diesen n.[ationalsozialistischen] Schwanz schrieb, steht mit schwarzer Tinte umrandet in meinem Kalender, die Welt kotzte mich an, ich mich selbst aber noch mehr.“

 

 

Falladas Eiserner Gustav wird nach Kriegsende in der DDR ein weiteres Mal umgeschrieben. 1962 streicht Herausgeber Günter Caspar den „Nazi-Schwanz“. Doch auch weitere Passagen fallen einer neuen, zweiten „Umschreibung“ zum Opfer. Nur ein Beispiel: Eine Episode in der November-Revolution 1918. Fallada lässt den Eisernen Gustav sagen: „Die Matrosen? Diese Herren mit der nackten Brust bilden sich ein, sie haben die Revolution gemacht! Weil sie es nicht abwarten konnten? Weil sie eine Woche zu früh losgeschlagen haben? Die sind kein Problem, das sind alles Dummköpfe!“ Er schnippte verächtlich mit den Fingern. „Ich war heute früh bei ihnen im Schloss! Wie das da aussieht! Saufen, plündern, huren.“ Das wird gestrichen.

So gerät der Eiserne Gustav zum dreifach gehäuteten Roman. Erst vor vier Jahren erscheint Falladas 832-Seiten-Werk unverfälscht und unzensiert. Zweimal wird die Geschichte verfilmt. 1958 mit Heinz Rühmann und 1979 mit Gustav Knuth in der Hauptrolle.

 

 

Eine Frage bleibt: Wer erzählt die aktuelle Geschichte von Gustav oder Gustava? Stoff gebe es genug. Künstliche Intelligenz, Profitstreben und Chatbot-GPT gefährden laut seriöser Studien demnächst drei Millionen Arbeitsplätze. Menschen, die überflüssig werden. Wie einst Kutscher Gustav. Auf Ihr Angehörigen in den Maschinenräumen der Datenverarbeitung, Dienstleistungs- oder Medienbranche. Wann wagt jemand wie Gustav eine Protesttour? Triumphal begleitet, glanzvoll gescheitert, doch möglicherweise dank eines packenden, zeitlosen Romans unvergessen. Das Pferd ist gesattelt.