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Bob Marley in der Lausitz

Mitte der siebziger Jahre. Es spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Bob Marley ist im Land. Der große „Reggae King of the World“ besucht die kleine DDR. Inkognito eingereist mit einer „Jugendtourist“-Gruppe will er das Land hinter der Mauer entdecken. Im Gepäck seine Gitarre und jede Menge Gras. Marihuana ist für Rastas das „Heilkraut der Völker“. Robert Nesta Marley, so sein Geburtsname, ist ein großer Fußball-Fan und zu „90 Prozent der Zeit bekifft“. Heimlich setzt er sich von der Gruppe ab, organisiert einen Trabi.

Mit dem Zweitakter holpert er nach Cottbus. Dann weiter gen Süden. Irgendwo in der Lausitz streikt der kleine Stinker. Bob steht hilflos am Straßenrand. Plötzlich hält quietschend ein Wartburg. Ein junger schlaksiger Mann mit langen Haaren und einer großen Kassenbrille steigt aus. Er fragt den Fremden radebrechend auf Englisch: „Do you need some help? – Sure, Bro!“ Der junge Pannenhelfer ist Gundi Gundermann. Der singende Baggerfahrer aus der Lausitz. Wahnsinn, Brother! Die beiden düsen nach Hoyerswerda. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Kicken, Kiffen und Konzerte.

 

 

Wirklich? Stimmt das? – Leider nein! Wäre auch zu schön, diese Schnurre. Filmemacher Andreas Dresen erzählte sie vor kurzem beim Konzert im Festsaal Kreuzberg. Dort coverte er mit Schauspieler Alexander Scheer die besten Gundermann-Songs. Die Hütte war bis zum Umfallen voll. Was stimmt: 1976 tourte Bob Marley erstmals durch Deutschland, allerdings nur im Westen. Die damalige Tour startete in München, weitere Stationen waren unter anderem Offenburg, Düsseldorf und Hamburg. In Ludwigsburg, meiner Vaterstadt, ging abends der Stoff aus. Guter Rat ist teuer! In der Kleinstadt gab es damals weder Gras noch Dealer. Ständig dabei: Musikjournalist Teja Schwaner. Der Spiegel-Reporter konnte mit selbstangebautem Dope aushelfen.

 

 

Was er über Deutschland wisse, fragte Spiegel-Mann Bob Marley. Dessen Antwort: „Hitler, Müller, Beckenbauer“. Im Tourbus erkundigte sich die Band, wie es sich mit East-Germany und West-Germany lebe. Reporter Teja Schwaner erzählte von Mauer, Todestreifen und Teilung. Da antwortete einer aus der Band: „The wall is gonna fall.“ Im Jahr 1976 gab es keinerleich Anzeichen für ein Ende der DDR. Fröhlich sangen die Jungs von der Marley-Band: „Don’t  worry …. the wall is gonna fall, the wall is gonna fall.“

 

 

Im Mai 1981 verließ Reggae-Legende Bob Marley mit gerade einmal 36 Jahren für immer die Welt. Der Mann, dessen Lebenskerze stets an beiden Enden brannte. Vermutlich war das ein Grund, dass sein Körper der Krake Krebs schutzlos ausgeliefert war. Auch der Lausitzer Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann hat sich die Seele aus dem Leib gesungen. Geniale Texte. Ungewöhnliche Arrangements. Bodenständiges Auftreten im karierten Fleischerhemd. Sein Lebenslicht erlosch mit 43 Jahren. Gott sei Dank, Bob und Gundi, bleiben eure Lieder und Texte. Viel Spaß bei Eurer Session unterm Himmelszelt. Erfreut die Engel: Get up, stand up, don´t give up your fight.

 

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„Vom Wollen zum Können“

Er suchte die Harmonie der Farben. Die Heilung in der Kunst. Er fand seinen Lebenssinn in Natur und Landschaften. Sein Sonnenreich war die Malerei: Kurt Sonn. Unermüdlich arrangierte er seine Bilder in warmen, wohltuenden Farben und fließende Formen. Häuser, Kirchtürme, Höfe und Schuppen. Kantige Brüche oder dunkle Dissonanzen sind eher selten zu erkennen. Seine Sache war das Entdecken und Sehen. Einer, der genau hinschaute, das Spiel der Wolken und den Wechsel der Jahreszeiten. Seine in den Grundtönen rot, braun und gerne mit gelben Sonnentupfern versehenen Landschaftsmotive folgen der expressionistischen Schule. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky waren seine Vorbilder. Abstraktion der Natur auf Basis der Romantik. Tendenz zum Kontrast, dünne lasierende, tuschende Malweise. „Vom Wollen zum Können voranschreitend“, wie es im berühmten Manifest von 1916 heißt.

 

Kurt Sonn. Bild Nr. 639. Der Maler ließ die Bilder namenlos.

 

Kurt Sonn fand seine Bestimmung in der Natur. Sein Gegenbild zur zerstörerischen Kraft der Menschheit in Zeiten von maximalen Gewinnstreben, Globalisierung und Digitalisierung. Harmonische Farben und Formen sind seine Antwort auf Ausplünderung des Planeten. Sein Atelier in der (noch) heilen Unberührtheit der lieblichen schwäbischen Heimat inspirierte und beflügelte ihn genau wie seine geliebten mediterranen Motive.

 

Bild-Nr. 553

 

Doch Sonn war kein weltfremder oder naiver Maler. Er suchte Halt im Glauben, erlebte dort Glück wie Verzweiflung. So malte er gegen das Scheitern an. Täglich neu. Immer wieder getrieben, suchend und fluchend. Nach Zeiten der inneren Qual machte er einen großen Sprung – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen des Inhaltes, zum Abstrahieren – um auf das Wesentliche und zum Kern seiner Kunst vorzustoßen.

 

Bild-Nr. 1381

 

Kurt Sonn (1933 – 2020) war kein medienerprobter Performer im lauten Kunstbetrieb. Zurückgezogen suchte er die richtige Komposition, die passende Mischung von Farben Formen und Figuren. Einer, der stets um den richtigen Ton rang. Ruhig und bescheiden, auf seine Arbeit konzentriert und äußerst konsequent. Er hinterließ mehr als dreitausend Bilder.

„Schau dir die Natur an! Jeder Sonnenuntergang zaubert jeden Abend ein anderes Licht. Sie ist unser größter Lehrmeister“. Einer seiner Sonn-Sätze. Der Künstler malte nicht nur mit Farben, auch mit Tönen und Worten. Am Klavier oder an der Schreibmaschine. Bis zu seinem Tod hat er nahezu jeden Tag ein neues Bild gemalt. In den warmen Kurt-Sonn-Farben, die er so geliebt hat.

 

Bild-Nr. 726

 

Transparenzhinweis: Kurt Sonn war mein Patenonkel. In seinem Atelier posierte ich als Knirps zum Beispiel für eine Märklin-Werbekampagne, mit der er unter anderem den Lebensunterhalt für seine achtköpfige Familie verdiente. Dank dieser Brotjobs konnte er sich die Malerei leisten.

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„Den Armen eine Stimme geben“

Was tun, wenn das Geld ausgeht? Vor zwei Jahren habe ich schon einmal in Berlin nach Antworten gesucht. Viele wollten nicht über das leidige Thema reden. Bloß nicht! Mit Hilfe des Diakonischen Werks konnte ich einige wenige Menschen finden. Celin ist Mutter und Grundsicherungsbezieherin. Ihr Sparalltag: „Wir schneiden den Gürtel einfach enger. Sparen da, wo wir können. Man sieht einfach zu, dass man mit den Lebensmitteln besser, länger klarkommt, eben mal mehr Eintöpfe kocht, auf Fleisch und auf einige Sachen, die sehr teuer geworden sind, verzichtet.“

Verzicht heißt das: Auf Fleisch, Reisen, Klassenfahrten, neue Klamotten Theater, Kino, Konzerte, Restaurantbesuche, kurzum auf Teilhabe am Leben. Dazu hoffen, dass die Waschmaschine durchhält oder nicht schon wieder die Miete erhöht wird. Herr K., so nennen wir ihn, sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl und ist gleichfalls Grundsicherungsbezieher. Er verrät uns einen seiner Spartricks. Er kocht montags Eier für die ganze Woche vor: „Ich habe gerne ein Frühstücksei auf dem Tisch, was ich mir früher jeden Tag gekocht habe. Da habe von meiner Grundsicherung noch den Strom zahlen können und jetzt koche ich halt vier Eier und esse drei Tage halt ein Kaltes, so spare ich zum Beispiel dreimal das Eierkochen.“

 

Eier für die ganze Woche vorkochen. Ein Spartipp von einem, der mit jedem Cent rechnen muss.

 

Die neuen Zahlen müssten eigentlich eine Gesellschaft wachrütteln. 17,5 Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik in Armut oder sind armutsbedroht. Sechzig Prozent der Tafeln müssen mittlerweile Lebensmittel rationieren. Weil die Nachfrage drastisch steigt, aber das Angebot permanent sinkt. 2025 wird für viele eine Herausforderung. Große Unternehmen bauen Jobs ab, Kosten der täglichen Daseinsvorsorge wie Wohnen, Lebensmittel, Strom, Benzin, Gas, Krankenversicherung oder Pflegekosten steigen. Nicht nur gefühlt, sondern in Euro und Cent. Die Lebensmittelkosten sind im Vergleich zu 2023 um +41% nach oben geschnellt. Die Energiekosten nehmen mit +37% Teuerung nur eine Richtung ein: nach oben. Wer an der Armutsgrenze lebt, muss genau rechnen: Einmal Duschen kostet 1,10 Euro, einmal Wäschewaschen 1,20 Euro. „Das können sich viele nicht mehr leisten“, sagt Thomas de Vachroi, Armutsbeauftragter der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

 

„Der Armut eine Stimme geben“. Das ist die Mission von Thomas de Vachroi. Er kümmert sich als Armutsbeauftragter der ev. Kirche um Menschen in Not. NIcht nur an Weihnachten.

 

Der Kirchenmann versteht sich längst als Sozialarbeiter. Er rechnet für das neue Jahr „mit einem Sozial-Tsunami, der auf uns zurollt“. Seit einiger Zeit müsse er „einen kompletten Wechsel“ von Menschen in Not feststellen. „Neu sind viele Jüngere und Frauen, ihr Anteil ist auf ein Drittel gestiegen. Das gabs früher nicht“. Was zudem immer vergessen werde, ist die grassierende Altersarmut. „Die Alten verstecken sich, ihre Armut ist unsichtbar. Sie leben in Einsamkeit“. In der Neuköllner Tee- und Wärmestube in der Weisestraße sei das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten 40:60. Was hat sich noch verändert? – „Es gibt kein Lächeln mehr. Das Land befindet sich in einer depressiven Phase.“ Die Betroffenen hätten keine Hoffnung auf Besserung. Von der Politik erwarte man rein gar nichts mehr. Herr Vachroi, was ist zu tun? – „Der Armut eine Stimme geben“, ist seine Antwort. Diese bundesweite Kampagne hat den engagierten Protestanten bis zum Papst geführt.

Was tut not? Es brauche Aufmerksamkeit, Spenden und gesellschaftlichen Druck, Armut endlich als Thema anzugehen. Das beginne damit, dass man Lebensmittel nicht in die Tonne wirft. „Wer so etwas macht, ist emotional und sozial arm.“ Der 63-jährige ist sichtlich empört. Gleichgültigkeit sei ein großes Problem.  „Menschen fragen sich: Kann man sich das Leben noch leisten? Wenn man in einem reichen Land eine solche Frage stellt, dann müssen wir uns in Grund und Boden schämen.“ Zum Schluss noch eine Frage: Wann wird der Armutsbeauftragte überflüssig? – „Wenn wir unsere Einrichtungen schließen könnten.“ Vachroi setzt eine Pause: „Aber ich werde es in meinem Leben nicht mehr erleben.“

 

Einer der Wärmestuben-Besucher bat mich, einen Song von Bruce Springsteen zu spielen. Gerne geschehen. „The Ghost of Tom Road“ nach der Vorlage aus John Steinbecks Roman: „Früchte des Zorn“.

 

Wer helfen will oder wer Hilfe braucht. Die Tee- und Wärmestube in Neukölln ist eine gute Adresse in Berlin.

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Adam, der Wundergeiger

Adam Bałdych gilt als „Wunderkind an der Violine“. Als „der größte lebende Geigentechniker der Welt“ (FAZ). Der polnische Jazzgeiger entlockt seiner „geliebten Braut“ sehnsuchtsvoll-ungewohnte, verzaubernde Töne. Er balanciert, zupft, zwickt, streicht und stürmt über die vier Saiten seiner Geige wie ein Seiltänzer ohne Netz und doppelten Boden. Der 38-jährige mit dem Hipster-Zopf hat sich in die erste Liga der Solisten gespielt. Stets auf der Suche nach einem neuen Mix aus Jazz-, Folk-, und Klassik. Von zart bis rau, von melancholisch-verträumt bis teuflisch-wild. Ausgebildet im polnischen Katowice und am Berklee College in den USA legt der vielfach ausgezeichnete Warschauer mit Portraits ein neues, sehr persönliches Album vor. Bałdych interpretiert in fünfzehn Liedern Zeitzeugenberichte des II. Weltkrieges – aus seiner Heimat Polen.

 

 

„Mit neun Jahren entschloss ich mich, eine Musikschule zu besuchen“, erzählt Bałdych: „Polen hat große Musiktradition, speziell beim Klavier.“ Zur Violine greift Bałdych mit elf. Seine Vorbilder: „Ich war sehr von den berühmten osteuropäischen Komponisten beeinflusst: Rachmaninoff, Chopin und Tschaikowski.“ Mit dreizehn entscheidet sich Adam für den Jazz: „Er gab mir die Freiheit, die ich suchte.“ Besonders gerne geht Bałdych mit dem norwegischen Pianisten Helge Lien, „dem Meister der nordischen Kammermusik“, auf musikalische Reisen.

Bałdychs Album „Portraits“ greift Schicksale aus dem II. Weltkrieg auf. Der Künstler entdeckte sie in zahlreichen Archiven, mitbeteiligt das Berliner Pilecki-Institut. In der polnischen Erinnerungskultur nehmen der Überfall Hitlers auf Polen am 1. September 1939 und besonders der blutige Warschauer Aufstand einen wichtigen Platz ein. Der verzweifelte Kampf des polnischen Widerstands gegen die NS-Besatzer von August bis Oktober 1944 steht für Mut und Hoffnung, Tragik und Trauma. Das Scheitern des Aufstands wirkt bis heute nach. Die Lernkurve bedeutet schlicht und einfach: Freiheit gibt es nicht umsonst.

Wiegenlied.

 

Wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart besser. Dieses Motto treibt den Ausnahme-Geiger um. Bałdych beschäftigt sich mit der „Musik in Auschwitz“. Ein Standardwerk des Komponisten Szymon Laks aus dem Jahre 1967. Dessen Buch erzählt in erschütternden Briefen, Fotos und Dokumenten von der überlebenswichtigen Funktion der Musik im Alltag von Auschwitz-Birkenau. Bałdych: „Das Thema fühlt sich für mich sehr wichtig an, im Angesicht der wachsenden Konflikte in Europa und in der Welt. Ich habe Zeitzeugenberichte gelesen und ich wollte mich gegen das stellen, was Tausende heute wieder erleiden müssen. Ein Aufruf zum Frieden in der Welt. Es sind sehr emotionale Stücke entstanden, die versuchen, Menschen und Lebensbedingungen und die Zeit, in der wir leben, zu porträtieren“.

Adam Bałdych testet in seinen Episoden wie „Wiegenlied“ die Schnittstellen zwischen Jazz und klassischer Musik aus. Er mischt in seine fünfzehn eindrucksvollen „Portraits“ traditionelle polnische und jüdische Musik-Zitate. Weltmusik im besten Sinne, in dunklen, stürmischen Zeiten.

 

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Chemnitz 2025. Was geht?

„Chemnitz war und ist die Stadt der fischilanten Friemler. In ihrer Mitte thront der Nischl“, so trommelt das Land Sachsen für Europas künftige Kulturhauptstadt 2025. Alles klar? Fischilante Friemler? Das bedeutet ungefähr clevere, patente Tüftler und Bastler. Motto: Reparieren, statt wegwerfen. Aus alt macht neu. Weiter mit Sächsisch für Anfänger: Nischl ist der Spitzname für das 40-tonnenschwere Karl-Marx-Monument des russischen Bildhauers Lew Kerbel. Die einst regierende SED verpasste der sächsischen Malocherstadt erst den Namen Karl Marx. Später schenkte die Partei noch einen riesigen Schädel. Apropos: Karl Marx war nie in Chemnitz.

Den meisten fällt zu Chemnitz außer Karl Marx … gar nichts ein. Da wären noch Stefan Heym oder die erfolgreichen 99er-Basketballer, aber dafür begeistert sich nur eine Minderheit. Und sonst?

 

Welch ein Wandel. Knapp vierzig Jahre hieß die sächsische Stadt in der DDR: Karl-Marx-Stadt. Seit 1990 wieder Chemnitz. Ab 2025 die Europäische Kulturhauptstadt 2025.

 

Chemnitz heute: 250.000 Einwohner. Jede Menge Raum, viel Leere. Dazu Aufgegebenes und Zusammengestückeltes. Chemnitz hat die niedrigsten Mieten und den größten Leerstand von allen deutschen Großstädten. Vom „sächsischen Manchester“, einst Zentrum der Textilproduktion, sind Erinnerungen, leere Fabriken und jede Menge Industrieruinen geblieben. Nun feiert das graue Chemnitz ein ganzes Jahr lang seine Zeit als europäische Kulturhauptstadt 2025. Eine echte Challenge für die vielfach übersehene Stadt. So lautet das Kampagnenmotto, zeitgeistgestylt: „C the Unseen“. Chemnitz soll sichtbar werden. Als lebenswerte Stadt mit Ecken, Kanten und Brüchen. Als Plus der raue Charme des Unfertigen und Unvollkommenen. Chemnitz, das Aschenputtel. Eine Liebe auf den zweiten Blick?

 

„Twister again“ von der Bildhauerin Alice Ayrock. Ein Exponat des Kunst- und Skulpturenpark „Purple Path“ rund um Chemnitz. Foto: Kulturhauptstadt Chemnitz 2025

 

Als Höhepunkte im Kulturhauptstadtjahr werden Purple Path, ein Kunst- und Skulpturenweg angekündigt, dazu Friedensfahrten auf dem Rad, genannt European Peace Ride, eine Opernpremiere von „Rummelplatz“ nach dem Roman von Werner Bräunig und „Tales of Transformation“, eine neue Ausstellung im Industriemuseum. Hier soll ab April 2025 die Entwicklung ehemaliger europäischer Arbeiter-Hotspots wie Lodz, Manchester oder Chemnitz skizziert werden. Schließlich hieß Chemnitz in der DDR fast vierzig Jahre lang Karl-Marx-Stadt. Über allem leuchtet der von Konzeptkünstler Daniel Buren bunt gestaltete Schornstein des Kraftwerks Chemnitz-Nord.

 

 

Aus dem Schweiß und Staub von Karl Marx Kapital schlagen, für die Zukunft? Das bescheidene Chemnitz bietet denjenigen, die genauer hinschauen, eine Menge. Eine lebendige Musikszene mit den Local Heroes Kraftclub, Blond, Baumarkt und der jungen DJane Tereza mit ihrem Chemnitz/Detroit-Projekt. Lange Nächte werden im Kultclub Atomino gefeiert, mit Konzerten, Lesungen und Performances. Beheimatet in einer pittoresken alten Fabrikhalle auf dem Wirkbau-Gelände. Das Atomino-Team Beate Düber, Maria Tomas Llera Pérez und Jan Kummer steht für einen Kraftort, der unfertig, innovativ und aufgeschlossen ist – wie Chemnitz. Jenseits aller AfD- und Baseballschlägerjahre-Klischees. Jan Kummer: „Ich könnte jetzt nicht mit Gewissheit sagen, wie die Stadt in zehn oder fünfzehn Jahren aussieht. Das war schon immer so. Und das macht es natürlich spannend.“

 

 

Zuletzt noch eine lokale Spezialität zum Antesten: die Chemnitzer Platte. Maßstab 1 zu 30. Grau, aus einem besonderen Teig, Rezept bleibt geheim. Das Neubau-Gebäck soll für das drittgrößte Neubaugebiet der DDR in Chemnitz werben. Das Institut für Ostmoderne ist überzeugt: Wenn die Platte schmeckt, kann es ein Traditionsgebäck wie der Frankfurter Kranz werden. Motto: Man drehe einfach die üblichen Vorurteile über den grauen Osten stilsicher um. Und fertig sei mit der Chemnitzer Platte ein neues Erfolgsprodukt. Bereits gefeiert und genossen auf der Grünen Woche in Berlin.

Chemnitz 2025. Jede Menge Fragen, Erwartungen, Klischees und Vorurteile. Hier gibt es erste Anlaufstellen: Kosmos Chemnitz. Kunstfestival Begehungen 2025. Enter Kulturregion 2025. Hier noch das offizielle Programm mit dem Versprechen: „Es erwartet Sie ein Culture Clash zwischen Hochkultur und lebendiger Indieszene, zwischen Jugendstil, Industrie- und DDR-Architektur sowie postsozialistischer Moderne.“ Chemnitz – Kulturhauptstadt Europas 2025.

 

Noch ein Lesetipp:

Patricia Holland Moritz. Kaßbergen.

 

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„Vertraue immer deinem Bauchgefühl“

Der Mann mit dem Bauchgefühl heißt Joe Chialo. Der Mann ist Kultursenator von Berlin. Ein Job, um den ihn viele beneidet haben. Ein Job, den in diesen Tagen keiner haben will. Denn die Zeichen stehen auf Sturm. Jeder zehnte Euro, der für Kultur ausgegeben wird, soll gestrichen werden. Insgesamt rund 130 Millionen Euro. Die Kürzung trifft eine der wenigen Branchen, in der die 4-Millionen-Stadt gut funktioniert. Vom Grips-Theater über alle Spielarten der freien Szene bis zur renommierten Staatsoper. Mittlerweile hat Chialo öffentlichen Termine abgesagt. Der 54-jährige CDU-Politiker will retten, was noch zu retten ist. Viele machen ihn, den Quereinsteiger für das Kürzungsdesaster verantwortlich. Der Vorwurf: Er habe den Sparhammer nicht verhindert, sich nicht ausreichend gewehrt.

 

Joe Chialo an der Tuba. Er bläst in das „Instrument des Jahres“, angeleitet von Tuba-Ass Fabian Neckermann.

 

Stimmt das? Wofür steht Joe Chialo? Er ist alles, nur kein Berufspolitiker. Sein Leben steckt voller überraschender Wendungen. Als Diplomatenkind in Tansania aufgewachsen. Mit neun Jahren Ankunft in Deutschland. Trennung von den Eltern, die nach Schweden weiterziehen. Katholischer Internatsschüler. Lehre als Zerspanungsmechaniker. Türsteher. Abgebrochenes Studium. Cross-Metall-Sänger. Musik-Manager. Unternehmer. Ein und Austritt bei den Grünen. CDU-Hoffnungsträger. Joe Chialo ist in seinem Leben 23mal umgezogen. Er sagt: „Ich habe Bock Moves zu machen.“ Und „Jammern und Lamentieren nervt mich.“

Seit April 2023 leitet Chialo das Kulturressort der Hauptstadt. Einer der spannendsten und aufreibendsten Jobs überhaupt. Als Musikmanager beim Universal-Konzern (u.a. der Kelly-Family) folgte er der „Just-do-it“-Maxime und „Geh ins Risiko“-Logik. Nun agiert er als Politiker. Schnell musste er die Spielregeln kennenlernen. Keine Kontrolle über den eigenen Kalender. Dafür täglich Lobbyisten, Netzwerke und Querschüsse aus allen Richtungen. Seine unkonventionelle Idee im leerstehenden Luxus-Kaufhaus Lafayette Berlins Zentralbibliothek zu etablieren, verpufft. Kein Geld, keine politische Unterstützung. Mit seiner „Anti-Diskriminierung-Klausel“ in Sachen Antisemitismus erfährt er heftigen Widerstand. Die Klausel scheitert. Chialo wird körperlich angegriffen. Sein Haus mit Farbbeuteln attackiert.

 

Der schwarz-rote Senat will der Kultur 11,6%, das sind rund 130 Millionen Euro, im kommenden Jahr streichen. Die Kulturszene ist alarmiert. Droht für viele das aus? Foto: Club der schlimmen Dichter.

 

Nun also der Rotstift. Berlin geht das Geld aus. Der gesamte Kulturbetrieb der Hauptstadt schlägt Alarm. Oder ist es Alarmismus? Kahlschlag heißt es. Insolvenzen drohen, wird behauptet. Berlin amputiere sich um seine weltweit anerkannte vielfältige Szene, lautet die Klage. Der Sündenbock ist gefunden: Joe Chialo. Er habe zu wenig dagegengehalten, sich über den Tisch ziehen lassen. Droht nun für Chialo ein weiterer Turning Point in seinem Leben? Chialo will nachverhandeln, um „Kulturräume zu erhalten“. Das letzte Wort sei noch nicht gesprochen.

 

Joe Chialo. Ein Mann mit vielen Gesichtern und überraschenden Geschichten. Afropäer. Internatsschüler. Türsteher. Cross-Metall-Sänger. Musik-Manager. Kultursenator in Berlin. Mitglied im CDU-Bundesvorstand. Buch-Autor: „Der Kampf geht weiter“. (2022)

 

Vielleicht hilft ihm jetzt sein Lebensmotto: „In der Mitte der Nacht steckt der Anfang eines neuen Tages.“ Chialo bezeichnet sich als einen, der sich nicht unterkriegen lässt. „Vertraue immer deinem Bauchgefühl. Hinterfrage es nicht“. Damit spielte er in einem Podcast mit Jana Simon auf seinen Job als Türsteher an. Fünf Jahre stand er in Nürnberg ganz vorne „an der Front“. In der Politik sei es wie an der Tür eines Clubs, sagt Chialo. Man müsse sich durchsetzen, sonst verliere man jeden Respekt.

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Aus Tausendundeiner Nacht

Wer hört nicht gerne Geschichten aus Tausendundeiner Nacht? Wegträumen, andere Welten entdecken und auf ein Happy End hoffen. Die franko-algerische Sängerin, Cellistin und Songschreiberin Nesrine Belmokh lädt zum Geschichtenerzählen ein. Sie ist eine perfekte Reisebegleiterin. Die 42-jährige Künstlerin verknüpft Jazz und Klassik, dazu Soul und traditionelle arabisch-andalusische Einflüsse zu ihrem ganz speziellen Nesrine-Mix. Mit „Kan Ya Makan“ hat sie in diesen Tagen ihr neues Album veröffentlicht. „Kan Ya Makan“ ist arabisch und bedeutet: „Es war einmal“. Auf geht´s. So fangen die besten Geschichten an. Nesrine „In diesem Album geht es um meine persönliche Geschichte. In „Dunia“, arabisch für „Leben“, erzähle ich meine ganze Lebensgeschichte, von der Kindheit bis zum heutigen Tag“.

 

 

Nesrines Songs in arabischer, französischer und englischer Sprache sind Spiegelbild ihrer turbulenten Biografie – zwischen Algerien, dem Herkunftsland ihrer Großeltern, und ihrer europäischen Heimat Paris. Klassisch ausgebildet ist die renommierte Cellistin mit Dirigenten wie Daniel Barenboim und Lorin Maazel aufgetreten. Als Gaststar hat sie Cirque du Soleil auf internationalen Tourneen begleitet. Doch das reichte ihr nicht. Sie wollte ihren Traum verwirklichen. Eine eigene Band, eine Karriere als Sängerin. So tritt sie mittlerweile auf den Bühnen der Welt auf: Mit Cello und Gesang. André Manoukian, der Kritiker von Radio France, gerät ins Schwärmen: „Mit Nesrine hören wir die Schönheit der Welt.“ Die Cellospielende Sängerin ist eine Entdeckung wert.

 

 

Noch ein Hinweis: Jazz ist in der Krise. Jazz ist „nur für Alte und eine kleine Minderheit“. Diese seit langem gepflegten Klischees sind nichts Neues. Tatsächlich: In Sparzeiten streichen Radiowellen ihre Sendungen, viele Clubs schließen. Nun heißt es wieder: Totgesagte leben länger. Wer mehr über Trends, Themen und News aus der Welt der Jazz erfahren will, sei der neue Online-Sender OneJazz  empfohlen. Das deutsche Label ACT unterstützt dieses Non-Profit-Projekt. Hier soll ‚The Spirit of Jazz‘ täglich und mit viel Leidenschaft zelebriert werden. Das neue Programm im Netz ist kostenlos.

 

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„Golden Age“

Berlin-Mitte. Es ist ein kalter Novemberabend. Ich folge einer Art Wandzeitung, die sich kilometerlang auf den Spuren der alten Grenzlinie schlängelt. Berlin feiert den 35. Jahrestag des Mauerfalls mit einem „Fest der Freiheit“. Wieder sind turbulente Zeiten wie 1989. Zeitenwende? Wendezeiten? Wohin geht die Reise? Zu sehen sind tausende Plakate. Vom ehemaligen Grenzübergang Invalidenstraße bis zum Checkpoint Charlie. Entworfen von Menschen aus allen Altersklassen, Regionen und Schichten. Einigendes Motto: „Haltet die Freiheit hoch!“  Ein Kontrast zum Sound der letzten Tage. Ein „Goldenes Zeitalter“ verspricht der neue, alte US-Präsident Donald Trump seinen Landsleuten. In Deutschland hat sich die fragile Fortschrittskoalition ausgeampelt. Neuwahlen stehen an. Was kommt?

 

Berlin, im November 2024. Tausende Botschaften entlang der alten Mauerlinie.

 

Der Mauerfall war für unsere Familie ein Glücksfall. Nach 10.315 Tagen Teilung war Schluss mit der Abschottung. Endlich wieder mit Familie und Freunden ohne Kontrolle und Passierschein zusammen sein. So viel Zukunft war nie! Was für eine Fügung. Ich war als junger ZDF-Reporter am Brandenburger Tor dabei. Von Aufbruch, Zusammenwachsen und blühenden Landschaften war die Rede. Was ist daraus geworden? Mittlerweile gibt es „Brandmauern“ und bei manchen die Mauer im Kopf. Andere neue Mauern sind unsichtbar: Die zwischen Arm und Reich. Aufsteigern und Abgehängten. Stadt und Land. Zwischen Nord- und Südhemisphäre der Welt. Die Spaltung in vielen westlichen Ländern geht quer durch die Bevölkerung. Von A wie Abtreibung über K wie Klimawandel bis Z wie Zuwanderung. Welche Mauern sind in diesen Tagen einzureißen? Der Kabarettist Jürgen Kuttner sagt: Für ihn verlaufe die eigentliche Grenze „zwischen Armleuchtern und Okay-Menschen“.

 

 

„Ist das alles nur ein Traum, aus dem es ein bitteres Erwachen gibt?“, fragte am 4. November 1989 der kürzlich verstorbene Wittenberger Pastor Friedrich Schorlemmer. Und weiter der DDR-Bürgerrechtler vor Hunderttausenden auf der Protestkundgebung am Alex – fünf Tage vor dem Mauerfall. „Oder sind wir mitten in einem wirklichen dauerhaften demokratischen Aufbruch?“

Die Schriftstellerin Christa Wolf appellierte einen Tag vor dem 9. November 1989: „Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen.“ Es sollte komplett anders kommen: Eine neue, gemeinsame Verfassung scheiterte. Bei der Volkskammer-Wahl im März 1990 erreichte die Bürgerbewegung 2,9 %.  Die große Mehrheit wollte so schnell wie möglich die Einheit. Aus der Traum von einem selbstbestimmten Neuanfang.

 

 

Viele Plakate machen Mut. Sie kreisen immer wieder um die Themen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Um das Recht, selbstbestimmt zu leben. Auch in Zukunft. Eine andere Welt ist machbar, ist oft zu lesen. So wird mir an diesem kalten Abend warm ums Herz. Zukunft ist möglich. Genau das erzählt die Geschichte vom 9. November 1989. Auch die stabilsten Mauern können kippen. Fröhlich, friedlich und mit Zuversicht statt Verzagtheit. Daran gemeinsam in Ost und West zu erinnern, ist keine vertane Zeit. Denn: Miteinander- statt übereinander zu reden macht in diesen Tagen mehr als Sinn. Das ist besser als jede neue Apple Watch.

 

Brandenburger Tor im November 2024.

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Die Welt neu denken

Nase voll von schlechten Nachrichten? Lust auf Fantasie und überraschende Eindrücke und Kompositionen? Seit einiger Zeit montiert ein Künstler oder eine Künstlerin unter dem Pseudonym Fontanesi bekannte Alltagssituationen neu zusammen. Fontanesi ist bislang der große Unbekannte und wie Banksy ein neuer, geheimnisvoller Player in der Kunstwelt. Die Arbeiten bleiben bewusst anonym, um digitale Ideen und Arbeiten unerkannt ins Netz zu stellen. Einige Spuren führen nach Italien, nach Mailand. Dort wurden bereits einige der Collagen ausgestellt. Das Prinzip Fontanesi: Die Bilder schaffen andere, subtile und herausfordernde Realitäten. Vordergrund und Hintergründiges fließen ineinander über, verschmelzen und kommunizieren miteinander. Wie heißt es so schön: Kunst entsteht im Auge der Betrachtenden. So kann sich jede/r die Fontanesi-Bilder neu im Kopf zusammensetzen.

 

Quelle: Fontanesi.

 

„Das Bild ist nicht Ausdruck des Denkens, sondern das Denken selbst“. Ein Gedanke des Altmeisters des Surrealismus, René Magritte (1898-1967). Der Belgier war ein Pionier auf dem Feld der vielschichtigen Illusionen in der Malerei. Der belgische Künstler beeinflusst bis heute viele Popart- und Collagenwerke. Sein Motto: „Ein Gegenstand lässt vermuten, dass es andere hinter ihm gibt.“ Das heißt: Auf ins Land der Fantasie und der neuen Entdeckungen. Kunst soll und will überraschen.

 

Vor sechzig Jahren. René Magritte. Son of Man, 1964.

 

Sind Fontanesi-Bilder KI-generiert? Gut möglich. Wir wissen es nicht. Selbst das seriöse ZEIT-Magazin zeigt die Bilder, hält sich aber mit Spekulationen zum Fontanesi-Projekt zurück. Wie auch immer: Vielleicht sollten wir unvoreingenommen diese Collagen-Welt betrachten. Werke, die sich an der Grenze zwischen realem Raum und surrealen Elementen bewegen. Kurzum: Mit offenen Augen und wachem Verstand einfach überraschen lassen. Hier mehr zum Entdecken in Sachen Fontanesi.

 

Quelle: Fontanesi

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Wenn Mauern fallen

Donnerstag, 9. November 1989. 11 Grad. Ein trüber Tag. Leichter Nieselregen. Wie jeden Tag fuhr ich morgens in die Redaktion. Abends war die Welt eine andere. So schnell kann es gehen, wenn ein System implodiert. Von heute auf morgen. Der 9. November 1989 vor 35 Jahren war ein Urknall. Friedlich, fröhlich und ohne Fanatismus. Ohne falsches Pathos, Hass und Blutvergießen. Tausende machten sich auf zur Grenze, stimmten mit den Füßen ab und … siegten. Am Brandenburger Tor und an vielen Grenzübergängen. Wenn es eine Lektion gibt, dann diese: Selbst höchste Mauern haben nur eine begrenzte Haltbarkeit. Die Berliner Befestigungsanlage stand genau 10.315 Tage. Dann war sie fällig.

In dieser Nacht der Nächte war ich als junger ZDF-Reporter in Berlin unterwegs. Nach der Ankündigung von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski kurz vor 19 Uhr, Reisen seien nun möglich … „nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“…  passierte erst einmal nichts. Am Brandenburger Tor skandierten auf der Westseite ein paar Menschen lautstark: „Die Mauer muss weg“. Ansonsten war Normalität an den Grenzübergängen. Wir schickten die ersten Momentaufnahmen nach Mainz zum heute journal. Dann machten wir uns ein zweites Mal zum Brandenburger Tor auf. Kameramann Michael Koltermann, Assistent Hartmut Pauls und Lichttechniker Marco Mangelli. (Ja, so einen Kollegen gab es damals noch). Wir waren ohne Smartphone, Internet und LiveU unterwegs. Dafür mit offenen Augen, Herzklopfen und ungläubigem Staunen. Selten haben wir so viel Glanz in den Augen der Menschen gesehen.

 

 

Der 9. November 1989 einmal aus einer anderen Perspektive. DDR-Grenzer erzählen, wie sie die Nacht erlebt haben. Meine ZDF-Doku aus dem Jahre 2014.

 

Es war kein Einsatz wie jeder andere. Wir spürten das von Anfang an. Es lag etwas in der Luft. Wir erreichten gegen 23 Uhr das Brandenburger Tor. Dort hatten sich einige Hundert Menschen versammelt. Wir standen auf westlicher Seite an der Straße des 17. Juni. Über der äußeren Mauer baumelten Feuerwehrschläuche. Die Grenzer hatten zuvor erste Mauerstürmer mit kaltem Wasser abgewehrt.

Plötzlich stürmten erst einige, dann immer mehr junge Leute die sogenannte Panzermauer. Ich sah mit eigenen Augen, wie West-Berliner Polizisten die Erstürmung zu verhindern versuchten. Dann war alles großes Kino. Hunderte eroberten die Mauer, rissen die Arme hoch und jubelten. Wir kletterten mit und drehten alles.

 

Wer in dieser Nacht dabei war, wird sie nicht vergessen können. Das Brandenburger Tor in der Nacht zum 10. November 1989. Foto: Andreas Schoelzel

 

Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Wir standen am Brandenburger Tor auf dem Bauwerk, das nach den Worten von SED-Chef Erich Honecker noch einhundert Jahre stehen sollte. Wir bewegten uns mitten auf der Mauer, die so viel Leid, Tränen und Tote gebracht hatte, die dieses Land so tief geteilt hatte. Auf der breiten Mauerkrone drängten DDR-Bürger vor unsere Kamera, wollten unbedingt etwas loswerden und diskutierten lebhaft das Für und Wider einer Einheit.

Überall ausgelassene, fröhliche, friedliche Menschen. Es wurden immer mehr. Sie kamen von überall her. Von Ost und West. Ein spontanes Volksfest. Kein Schuss fiel. Nur und ab und zu krächzte es aus Armee-Lautsprechern, „die Bürger“ sollten sofort die Staatsgrenze der DDR verlassen. Doch keiner reagierte. Das Grenzregime war am Ende und das Wort des 9. November 89 geboren: Wahnsinn. Der friedliche Verlauf war übrigens auch ein Verdienst der Grenzer. Unsere Bilder von der Erstürmung der Mauer am Brandenburger Tor sind vieltausendfach gezeigt worden.

 

Mauergespräche am Brandenburger Tor mit Reporter (rechts) in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. Quelle: ZDF

 

Seriöse Journalisten sollen nüchtern und distanziert berichten. In diesen Stunden fiel das schwer. Meine Frau ist in der DDR aufgewachsen. Unsere Familien waren durch die Grenze getrennt. Ich spürte in dieser Nacht, dass sich eine einmalige Chance auftat. So war ich am 9. November 1989 nicht nur Reporter und Augenzeuge. Ich war dabei, als Geschichte geschrieben wurde. Was allerdings aus diesem Glücksfall wurde, ist eine andere Geschichte…

Berlin erinnert an den 35. Jahrestag des Mauerfalls am 8. und 9. November 2025 mit einer zweitägigen Party im Stadtzentrum entlang der ehemaligen Grenze. Hinzu kommen zahlreiche weitere Veranstaltungen. Motto: „Haltet die Freiheit hoch!“