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„Hör zu!“

Bundestag. Eine hitzige Redeschlacht um das sog. „Zustrombegrenzungsgesetz“, das nach langer Debatte überraschend abgelehnt wird. Es geht um Migration und Integration. Um Sicherheit und Ordnung. Um Humanität und Kontrolle. Es geht giftig, gallig, gruselig zu. Es wird gebrüllt, gescholten und gegenseitig ausgelacht. Das Land steht vor dem Untergang, heißt es von rechts. Der Faschismus klopft wieder an die Tür, von links. Wer die Stunden im Reichstag verfolgt hat, kann im Wust der Angriffe und Unterstellungen zumindest einen roten Faden erkennen: Zuhören ist ein Fremdwort. Logisch, es ist Wahlkampf. Die Zeit der Fensterreden und Versprechen. So flattern Floskeln durch den Bundestag. Schlagworte purzeln: historischer Tabubruch, einstürzende Brandmauern, Remigration oder demokratische versus Kartellparteien.

 

 

Wie erreiche ich diejenigen, die einfach nicht mehr zuhören?

 

Was die Kameras manchmal in Nahaufnahme zeigen: Abgeordnete, die auf ihr Handy starren. Wer gerade persönlich attackiert wird, schaut wie gebannt auf sein/ihr Smartphone. Als würde dieses kleine Gerät die große Weltformel hervorzaubern können. Aber wie wäre es mit Zuhören? Mit Argumenten und Suche nach Lösungen? Fehlanzeige. Fensterreden gab es im Reichstag auch vor hundert Jahren. Nur: Heute verfügen wir über modernste Kommunikationstools in Echtzeit. Das Ergebnis: noch heftigere Empörungsrituale.

Google und andere Technikgiganten versprachen eine bessere Welt. Dieser Debattentag im Deutschen Bundestag wirkt ernüchternd. Wieder droht die politische Mitte auseinanderzufallen. Wieder könnten Extreme die Herrschaft übernehmen, wie am Ende der Weimarer Republik. Nur heutzutage mithilfe von TikTok, Algorithmen und YouTube-Propagandafilmchen.

 

 

Wer zuhört, hat mehr vom Leben? Unbedingt, meint Bernhard Pörksen, der Streiter für bessere Kommunikation. Zuhören sei mittlerweile eine Kernkompetenz, viel beschworen, nur ständig vernachlässigt. Die Leitfrage seines neuen Buches: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Existiert ein Gegenmittel gegen Ignoranz und Weghören? Wie geht geistige Offenheit in einer 24-Stunden-Onlinewelt? Der Medienwissenschaftler hat sich zehn Jahre mit diesen Fragen beschäftigt. „Es ist mein Thema.“

 „Jeder Skandal beginnt mit fehlendem Zuhören im System“. Pörksen bringt Beispiele, auch aus seinem eigenen Leben: Der lange vertuschte Missbrauch am Reformprojekt Odenwald-Schule. Ein „Seelenmord“ an Jugendlichen, schreibt Pörksen. Er selbst habe einen sadistischen Klassenlehrer an der Waldorfschule ertragen müssen. Wurde zugehört? Hat sich etwas geändert? Nein. Pörksen argumentiert u.a. mit der Situation in der Ukraine (Wem hört man im Krieg noch zu?) oder beschäftigt sich mit den Heilsversprechen der Jungs aus Silicon Valley. (mehr Kommunikation, mehr Austausch?) Ein typischer Fall für dieses Nicht-mehr-Zuhören-Wollen ist nach Pörksen eine Störaktion propalästinensischer Aktivisten bei einer Hannah-Arendt-Lesung in Berlin. Thema: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Was geschah? Die Aktivisten-Gruppe klagte an und brüllte alles nieder, statt Argumente auszutauschen und zuzuhören. Die Lesung der kubanischen Performance-Künstlerin Tania Bruguera musste abgebrochen werden. Pörksen: „Wir sind Profis der Ignoranz. Weghören stabilisiert uns.“

 

„It’s hard to listen while you preach“. Ein Song von U2. Every breaking wave.

 

Was tun? Der Professor aus Tübingen lobt die Kunst des Schweigens und der Stille. Besser eine Welt ohne X und Telegram? Unrealistisch, so Pörksen, aber vor der Einführung von TikTok & Co habe es „keine Anonymität, keine Werbung, kein Datamining“ gegeben. Bei einer guten Moderation seien „tiefere Gespräche, klügere Debatten, besseres Zuhören“ möglich gewesen. Sein Fazit: Wirkliches Zuhören sei „vielleicht nichts für die große Politik, nichts für die Arena der Talkshows … nichts für das Aufeinander-Eindreschen in sozialen Netzwerken“. Aber Zuhören bedeute „gelebte Demokratie im Kleinen“. Ein wenig Trost hält Pörksen parat. Man könne andere zum Schweigen bringen, aber sie „nicht zum Zuhören zwingen. Zuhören ist ein Akt der Freiheit“.

Bernhard Pörksen. Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser.

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„Tue deinen Mund auf“

Dieser Spruch Salomons „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“, steht am Anfang eines Augenzeugenberichts aus Auschwitz. „Die Todesfabrik“ ist ein Dokument des slowakischen Holocaust-Überlebenden Filip Müller, das unter die Haut geht. Sein Buch erschien bereits 1946, ein Jahr nach Kriegsende. Als wir im Herbst 2024 privat in Polen waren, wollten wir uns in Auschwitz ein eigenes Bild machen. Mit einer organisierten Tour wurden wir in einem Kleinbus von Krakau in einer Autostunde nach Oświęcim gebracht. Nach unzähligen EU-Kreisverkehren ging es durch das oberschlesische Städtchen mit McDonalds, Netto-Markt und einem Kinokomplex. Schließlich erreichten wir ein modernes Besucherzentrum mit einem großen Parkplatz.

 

Auschwitz. Besucherzentrum.

 

Auschwitz ist ein Besuchermagnet. An diesem späten Septembertag herrscht großer Andrang. Touristen, Schulklassen und Reisegruppen aus der ganzen Welt werden routiniert in vielen Sprachen der Welt eingecheckt. Das neue Empfangsgebäude erinnert ein wenig an das Berliner Jüdische Museum von Daniel Libeskind. Am Beginn der vierstündigen Tour öffnet sich im dunklen Untergeschoss ein großes Eisentor von Geisterhand. Wie in einer Art Disney World werden die Gruppen vorbei an hohen Betonwänden hinauf in das Stammlager Auschwitz geführt. Beklemmung stellt sich von allein ein. Die Fernsehbilder, die ich im Kopfkino mitgebracht habe, setzen sich zu einem realen Puzzlebild zusammen. Unser polnischer Guide startet sein Programm in einem eher entwicklungsfähigen Englisch. Selbst unser britischer Mitreisender schüttelt den Kopf, man könne diesen Mann kaum verstehen.

 

Auschwitz. Ankunft. Die berühmt-berüchtigte Rampe wurde erst im Mai 1944 fertiggestellt.

 

So entwickelt sich unsere geführte Tour mitten durch Touristenmassen im Gänsemarsch zu einem sehr speziellen Erlebnis. Der Guide spricht unentwegt, ist jedoch nur wenig zu verstehen. Zeit für eigene Betrachtungen ist nicht vorhanden. Die folgende Gruppe schiebt von hinten unerbittlich nach. Und doch befällt mich ein mulmiges Gefühl. Vorbei an Räumen mit gesammelten Schuhen und Haaren von Opfern. An den Wänden schreckliche Schwarz-Weiß-Bilder mit ausgemergelten Häftlingen. Das Gruselkabinett des Herrn Dr. Mengele. Höhepunkt ist die Erschießungswand. Nach einer kurzen Weiterfahrt erreichen wir das weitläufige KZ-Auschwitz-Birkenau mit dem markanten Torbau. Symbol der SS-Verbrechen, der Vernichtung und der Banalität des Bösen. Auschwitz ist ein Unort. Hier möchte man nicht lange bleiben.

 

Frauen und Kinder auf ihrem letzten Weg.

 

Vor achtzig Jahren, am 27. Januar 1945, hat die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Ein Moment, der das unfassbare Ausmaß des Holocausts sichtbar machte. Drei Jahre lang quälte die SS in Auschwitz unter unmenschlichen Bedingungen rund 1.2 Millionen Häftlinge. Etwa eine Million Menschen starb in der Todesfabrik, darunter weit über 900.000 Juden aus ganz Europa.

„Jederzeit erschießbar. Für die Häftlinge bedeutet Auschwitz Hunger, Krankheit und Angst vor dem Tod. Dagegen tun sich für die SS-Männer ungeahnte Möglichkeiten auf: Viele berauschen sich an der Grenzenlosigkeit ihrer Macht“, schreibt der Historiker Ernst Piper. Sein neues Auschwitz-Buch wird als erste umfassende deutsche Monografie über das Vernichtungslager demnächst erscheinen.

 

Die Männer, die das Zyklon B durch den Schacht in die Gaskammer geworfen haben, hießen Desinfektoren. Sie waren Angehörige der SS.

 

Filip Müller gehörte zu den gerade mal fünf Überlebenden des Sonderkommandos. Sie mussten vom ersten Tag an Kinder, Frauen und ganze Familien auf dem Weg ins Gas begleiten. Müller „arbeitete“ von 1942 bis Ende 1944 rund um Gaskammern und Krematorien. Seine Augenzeugenberichte, 2021 unter dem Titel „Sonderbehandlung“ erschienen, erschütterten die Nachwelt.

 

„Das Sterben von Gas dauerte etwa

von zehn bis fünfzehn Minuten.

Das Schrecklichste in dem allen war,

als man die Gaskammer aufgemacht hat,

die grausame Szenerie sich anschauen.

Wie die Menschen da angepresst wie Basalt,

wie Steine standen.

Wie sie herausfielen von den Gaskammern!

Einige Male hab ich das gesehen.

Und das war das Schwerste überhaupt,

aber auf das konnte man sich nie gewöhnen.“

 

 

Krematorium II 1943.  Hersteller war die Firma Topf & Söhne aus Erfurt. Werbemotto: „Qualitätsvolle Öfen für Feuerbestattung“. Die Krematorien wurden Ende 1944/Anfang 1945 gesprengt.

 

Filip Müller berichtet nüchtern und lapidar vom Vernichtungsalltag, der 1.689 Tage lang andauerte. Der Auschwitz-Überlebende starb am 9. November 2013 im hohen Alter von 91 Jahren. Sein Satz gilt weiter: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“.

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„Und wenn sie verbrennen…“

„Rechts oder Links?“ Wohin geht die Reise in Deutschland? Der Zeitgeist wähnt sich in einer gefühlten „Depression“. Die Trumps und Putins dominieren die Welt. Die Demokratie in den Farben des Nachwende-Deutschlands schwächelt, heißt es, die Eliten seien am Ende. National oder sozial, sind die einzigen starken Kraftfelder, und die politische Mitte sei erschöpft: „Das System mag in sich vernünftig sein, gut, aber wir wollen es nicht mehr. Dagegen ist kein Argument gewachsen.“ Dieser Satz ist fast hundert Jahre alt. Er stammt aus dem Oktober 1931, als die Weimarer Republik Richtung Abgrund rollt. Damals herrschte pure Endzeitstimmung. Beim Tanz auf dem Vulkan half auch die kulturelle Blütezeit nicht, mit Marlene Dietrich und vielen anderen herausragenden Künstlern wie Bert Brecht, Mascha Kaléko oder Kurt Tucholsky.

 

 

Der 32-jährige Hans Zehrer veröffentlicht seinen Text über das Ende der Demokratie in der „Tat“, eine „Monatszeitschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit“. Seine 45 Seiten  zum Thema: „Rechts oder Links?“ sind von hoher Aktualität. Der junge Autor fordert einen Neuanfang, eine „Dritte Gemeinschaft“. Jenseits von Faschismus und Kommunismus. Gedanklich ist der Weg zum Dritten Reich atemberaubend kurz. Diesen Begriff propagiert der „konservative Revolutionär“ Arthur Moeller van den Bruck 1923. Die Nazis kapieren den Begriff vom „Dritten Reich“ erfolgreich. Perfektes Wording würde man heute sagen.

Der Text in der „Tat“ analysiert: Das Land stehe vor dem „Selbstmord des Kapitalismus“. Die Menschen hätten die liberale Demokratie satt. Zehrer verleiht dem „Aufruhr der Mittelschichten“ Richtung und Stimme. „Die eigentliche Aufgabe“ sei nun die Führung zu übernehmen, in einem Deutschland, das vermeintlich nichts mehr zu verlieren habe außer seinen Ketten. Nur so sei Rettung und „Gestaltung neuer Wirklichkeit“ möglich – jenseits von Hickhack, Tagespolitik und Parteienkonkurrenz.

 

 

Ist die Lage Anfang 2025 tatsächlich so dramatisch wie Ende 1931? Nein, betont der Historiker Jens Bisky in seinem hochaktuellen Buch „Die Entscheidung“. Die Lage sei heute anders. Die Bundesrepublik kenne keine Massenarmut, keine Massen-Verelendung und nicht Millionen Menschen, die hungern. Es existiere keine „Dolchstoßlegende“ der Rechten nach dem verlorenen I. Weltkrieg. Trotz aller Haushaltslöcher sei die heutige Berliner Republik zahlungsfähig, und nicht bankrott wie damals in der Weimarer Republik. Zudem sei die Bundesrepublik in der EU integriert, es gebe keine unzufriedenen Militärs, die das System lieber heute als morgen abschaffen wollten. Bisky plädiert, einen kühlen Kopf zu bewahren und vor allem aus der Geschichte zu lernen.

 

Der neue Konsumtempel am Hermannplatz. Berlin-Neukölln. 1933

 

Je länger man sich in Biskys Panorama-Werk vertieft, desto mehr Parallelen drängen sich auf. 1930 implodierte nach zwei Jahren Dauerstreit eine Mehrparteienkoalition unter Führung der SPD. Danach folgte ein rigider Sparkurs der Regierung Brüning, der die Radikalisierung politischer Ränder geradezu befeuerte.

Und 2025? Die gescheiterte Ampel hinterlässt ein Land ohne gültigen Haushaltsplan. Der Milliarden-Investitionsstau schwächt alle Bereiche der Daseinsfürsorge. Vom Personalmangel in Kitas, Schulen und Verwaltung über einstürzende Brücken und einen öffentlichen Nahverkehr, auf den kein Verlass mehr ist, bis zum täglichen Kampf um Arzttermine, um eine Wohnung oder einen Platz in überteuerten Pflegeheimen.

Auch heute heißt es wieder: Die liberale Demokratie ist in der Krise. Und damals? Da rief die Monatszeitschrift „Tat“ mit Sitz in der Budapester Straße 1 dazu auf, „mit der Zeit zu gehen“. Die Demokratie habe versagt. Die neue Zeit jedoch führte keine vierzehn Monate später schnurstracks zu Hitler.

 

Die Tat unter Leitung von Hans Zehrer. Mit einer Auflage von knapp 30.000 Exemplaren erreichte das Blatt der nationalkonservativen Edelfedern 1932  doppelt so viele Leser wie die radikaldemokratische „Weltbühne“. Zehrer wurde 1933 entlassen.

 

Sehr empfehlenswert. Jens Bisky. Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934.

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„Ein Schritt vor, zwei zurück“

Ich wach auf, mein Haus ist kalt. Nichts funktioniert. Nicht das Feuer im Kamin. Nicht das Auto vor der Tür. Der Blues des Lebens. Vögel singen nicht. Kirchenglocken bleiben stumm. Die eigene Beziehung ist festgefahren, irgendwo zwischen Routine und Frust. Ach, dieser ständige miese Kleinkrieg. Szenen einer Ehe. Höchste Zeit für einen Schlussstrich? Also: „Ein Schritt vor, zwei zurück“. Die Sehnsucht tropft aus dieser Trennungsballlade, bald vierzig Jahre alt. Ein Song aus der Feder von Bruce Springsteen. 75-jähriger US-Milliardär mit Magengeschwür und seinen uramerikanischen Songs, in der es um die großen Geschichten der kleinen Leute geht.

 

 

Ein Schritt vor, zwei zurück. Musikalisch besteht das Lied aus drei Akkorden. Das kann man langweilig oder genial finden. Beim „Boss“ zählt etwas anderes. Es sind seine Geschichten, die er erzählt. Sein Spitzname „The Boss“ stammt aus den 70ern. Am Anfang der Karriere zahlte er nach den Auftritten seiner Band noch die Gage bar auf die Hand. Längst ist Bruce Frederick Joseph Springsteen aus New Jersey eine Art Anti-Trump der USA. Er gewinnt keine Wahlen, aber die Herzen seiner Fans.

Der Boss ist einer, der es geschafft hat. Der perfekte amerikanische Traum: Reich, aber unangepasst. Der Clou: Bruce gibt sich als einer aus, der für die einfachen Leute da ist. One Step up, two steps back: „Sitzt eine Frau hier in der Bar. Ich krieg die Nachricht, die sie sendet. Sie sieht nicht so verheiratet aus. Und ich mach so, als gings mir blendend.“

Ein Schritt vor, zwei zurück. Soll ich aus meinem Eheknast ausbrechen? Dieses Trennungslied hat er Julianne Phillips, seiner ersten Frau, gewidmet. In Springsteens Originalsong ist im Hintergrund eine weibliche Begleitstimme zu hören, die seiner künftigen Ehefrau Patti Scialfa.

 

 

Diese ewig alte, neue Frage: Bleiben oder Gehen?

„Ich sitz in dieser Bar heut Nacht. Alles, was ich denk ist, ich bin das gleiche alte Lied, dasselbe Stück. Gefangen ein Schritt vor und zwei zurück. Dieselbe Sache, Nacht für Nacht. Wer hat recht, wer hats falsch gemacht? Noch ein Streit und die Türe fliegt. Noch ne Schlacht in unsrem kleinen miesen Krieg.“

Die Liedermacherin Ulla Meinecke hat Springsteens Song 1991 gecovert. Eine wunderbare deutsche Version mit Rollentausch: Nun sucht sie den richtigen Prinzen. Der Kerl an der Bar sieht nicht verheiratet aus, oder?

Was für ein stimmiger, poetischer Schmachtfetzen! Dem Leben abgeschaut, zum Niederknien schön. Bei Ulla Meinecke klingt das so:

„Ich hab geträumt, ich hielt dich im Arm.
Die Musik ging nie zu Ende.
Wir tanzen Arm in Arm und Blick in Blick,
immer ein Schritt vor und zwei zurück…“

Ulla Meinecke ist derzeit auf Deutschland-Tournee. 17. Januar 2025: Göttingen. 18. Januar 2025: Mönchengladbach. Bruce Springsteen kommt am 11. Juni 2025 nach Berlin. Ort: Olympiastadion.

Hier noch eine der vielen weiteren Cover-Versionen:

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Fette Tropfen

Sieben Herren, ein famoses Live-Ereignis aus dem Land der Kiwis. Das sind Fat Freddys Drop. Die Band macht seit Jahren ihrem Namen alle Ehre. Die Jungs vom anderen Ende der Welt bringen ausreichend Gewicht auf die Waage. Ihr Konzept ist einfach. Sie machen Musik, die Spaß macht, die Kopf und Beine bewegt. Wunderbar! Statt Askese und Diät bieten die Jungs „im besten Alter“ Rhythmus und Lebensfreude. Die Truppe hat sich nach der Comic-Figur Fat Freddys Katze aus der US-Serie „The Fabulous Furry Freak Brothers“ benannt. Seit vielen Jahren spielt Neuseelands beste Live-Band, die Fat Freddys Drop, in einer eigenen musikalischen Liga. Jetzt liegt ihr neues Album Slo Mo vor.

 

 

Was ist ihr Geheimnis? Sie zelebrieren Dub-Reggae-Vibe mit Bläsern, okay. Das machen viele. Aber wenn das Licht auf der Bühne angeht, legen sie live los. Und wie! Fat Freddys steigern sich in einen cool-smarten Sound-Mix aus Roots-Reggae, Soul, Techno, Jazz, Dub und House. Garniert mit eingängigen Bläsersätzen, von der filigranen Posaune bis zur fetten Tuba. Anything goes! Die Musiker kommen aus verschiedensten Richtungen. Ein paar Gemeinsamkeiten verbinden die Fat Freddys. Sie kommen alle aus Wellington. Berührungsängste mit vielfältigen Musikstilen? Ein Fremdwort. Und natürlich: Die sieben Neuseeländer essen für ihr Leben gern. Keyboarder Iain Gordon – Bühnenname: „Dobie Blaze“ – kocht regelmäßig für die Band. Bandleader Fitchie schwärmt: „Wer gemeinsam isst, bleibt auch sonst zusammen.“ Seit über zwanzig Jahren begeistert die Band, mittlerweile weltweit.

 

 

Das 18.000 Kilometer entfernte Neuseeland hat außer Rugby, grünen Wiesen und atemberaubender Natur mit den Fetten Freddys nunmehr einen weiteren Exportschlager. Gut so!  Neuseeland ist mehr als Mount Everest-Erstbesteiger Sir Edmund Hillary oder Haka-Tänze der Maoris. Im Land der schrägen Vögel und störrischen Schafe gilt eine einfache Lebensphilosophie. Es wird schon! Auch nach schlimmsten Erdbeben. Wir lassen uns nicht unterkriegen!  Neuseeland ist ein kleines Land, das große Sehnsucht auslöst. Das sollte man wissen: Besucher sind nur erwünscht, wenn sie wieder gehen. Es sei denn, aus Krauts werden richtige Kiwis. Wie meinte einmal die große alte Dame der neuseeländischen Literatur Katherine Mansfield? Die Meisterin der Short Story aus Wellington: „Wir sind eine so glückliche Familie, seit mein lieber Mann gestorben ist.“

 

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Bob Marley in der Lausitz

Mitte der siebziger Jahre. Es spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Bob Marley ist im Land. Der große „Reggae King of the World“ besucht die kleine DDR. Inkognito eingereist mit einer „Jugendtourist“-Gruppe will er das Land hinter der Mauer entdecken. Im Gepäck seine Gitarre und jede Menge Gras. Marihuana ist für Rastas das „Heilkraut der Völker“. Robert Nesta Marley, so sein Geburtsname, ist ein großer Fußball-Fan und zu „90 Prozent der Zeit bekifft“. Heimlich setzt er sich von der Gruppe ab, organisiert einen Trabi.

Mit dem Zweitakter holpert er nach Cottbus. Dann weiter gen Süden. Irgendwo in der Lausitz streikt der kleine Stinker. Bob steht hilflos am Straßenrand. Plötzlich hält quietschend ein Wartburg. Ein junger schlaksiger Mann mit langen Haaren und einer großen Kassenbrille steigt aus. Er fragt den Fremden radebrechend auf Englisch: „Do you need some help? – Sure, Bro!“ Der junge Pannenhelfer ist Gundi Gundermann. Der singende Baggerfahrer aus der Lausitz. Wahnsinn, Brother! Die beiden düsen nach Hoyerswerda. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Kicken, Kiffen und Konzerte.

 

 

Wirklich? Stimmt das? – Leider nein! Wäre auch zu schön, diese Schnurre. Filmemacher Andreas Dresen erzählte sie vor kurzem beim Konzert im Festsaal Kreuzberg. Dort coverte er mit Schauspieler Alexander Scheer die besten Gundermann-Songs. Die Hütte war bis zum Umfallen voll. Was stimmt: 1976 tourte Bob Marley erstmals durch Deutschland, allerdings nur im Westen. Die damalige Tour startete in München, weitere Stationen waren unter anderem Offenburg, Düsseldorf und Hamburg. In Ludwigsburg, meiner Vaterstadt, ging abends der Stoff aus. Guter Rat ist teuer! In der Kleinstadt gab es damals weder Gras noch Dealer. Ständig dabei: Musikjournalist Teja Schwaner. Der Spiegel-Reporter konnte mit selbstangebautem Dope aushelfen.

 

 

Was er über Deutschland wisse, fragte Spiegel-Mann Bob Marley. Dessen Antwort: „Hitler, Müller, Beckenbauer“. Im Tourbus erkundigte sich die Band, wie es sich mit East-Germany und West-Germany lebe. Reporter Teja Schwaner erzählte von Mauer, Todestreifen und Teilung. Da antwortete einer aus der Band: „The wall is gonna fall.“ Im Jahr 1976 gab es keinerleich Anzeichen für ein Ende der DDR. Fröhlich sangen die Jungs von der Marley-Band: „Don’t  worry …. the wall is gonna fall, the wall is gonna fall.“

 

 

Im Mai 1981 verließ Reggae-Legende Bob Marley mit gerade einmal 36 Jahren für immer die Welt. Der Mann, dessen Lebenskerze stets an beiden Enden brannte. Vermutlich war das ein Grund, dass sein Körper der Krake Krebs schutzlos ausgeliefert war. Auch der Lausitzer Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann hat sich die Seele aus dem Leib gesungen. Geniale Texte. Ungewöhnliche Arrangements. Bodenständiges Auftreten im karierten Fleischerhemd. Sein Lebenslicht erlosch mit 43 Jahren. Gott sei Dank, Bob und Gundi, bleiben eure Lieder und Texte. Viel Spaß bei Eurer Session unterm Himmelszelt. Erfreut die Engel: Get up, stand up, don´t give up your fight.

 

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„Vom Wollen zum Können“

Er suchte die Harmonie der Farben. Die Heilung in der Kunst. Er fand seinen Lebenssinn in Natur und Landschaften. Sein Sonnenreich war die Malerei: Kurt Sonn. Unermüdlich arrangierte er seine Bilder in warmen, wohltuenden Farben und fließende Formen. Häuser, Kirchtürme, Höfe und Schuppen. Kantige Brüche oder dunkle Dissonanzen sind eher selten zu erkennen. Seine Sache war das Entdecken und Sehen. Einer, der genau hinschaute, das Spiel der Wolken und den Wechsel der Jahreszeiten. Seine in den Grundtönen rot, braun und gerne mit gelben Sonnentupfern versehenen Landschaftsmotive folgen der expressionistischen Schule. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky waren seine Vorbilder. Abstraktion der Natur auf Basis der Romantik. Tendenz zum Kontrast, dünne lasierende, tuschende Malweise. „Vom Wollen zum Können voranschreitend“, wie es im berühmten Manifest von 1916 heißt.

 

Kurt Sonn. Bild Nr. 639. Der Maler ließ die Bilder namenlos.

 

Kurt Sonn fand seine Bestimmung in der Natur. Sein Gegenbild zur zerstörerischen Kraft der Menschheit in Zeiten von maximalen Gewinnstreben, Globalisierung und Digitalisierung. Harmonische Farben und Formen sind seine Antwort auf Ausplünderung des Planeten. Sein Atelier in der (noch) heilen Unberührtheit der lieblichen schwäbischen Heimat inspirierte und beflügelte ihn genau wie seine geliebten mediterranen Motive.

 

Bild-Nr. 553

 

Doch Sonn war kein weltfremder oder naiver Maler. Er suchte Halt im Glauben, erlebte dort Glück wie Verzweiflung. So malte er gegen das Scheitern an. Täglich neu. Immer wieder getrieben, suchend und fluchend. Nach Zeiten der inneren Qual machte er einen großen Sprung – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen des Inhaltes, zum Abstrahieren – um auf das Wesentliche und zum Kern seiner Kunst vorzustoßen.

 

Bild-Nr. 1381

 

Kurt Sonn (1933 – 2020) war kein medienerprobter Performer im lauten Kunstbetrieb. Zurückgezogen suchte er die richtige Komposition, die passende Mischung von Farben Formen und Figuren. Einer, der stets um den richtigen Ton rang. Ruhig und bescheiden, auf seine Arbeit konzentriert und äußerst konsequent. Er hinterließ mehr als dreitausend Bilder.

„Schau dir die Natur an! Jeder Sonnenuntergang zaubert jeden Abend ein anderes Licht. Sie ist unser größter Lehrmeister“. Einer seiner Sonn-Sätze. Der Künstler malte nicht nur mit Farben, auch mit Tönen und Worten. Am Klavier oder an der Schreibmaschine. Bis zu seinem Tod hat er nahezu jeden Tag ein neues Bild gemalt. In den warmen Kurt-Sonn-Farben, die er so geliebt hat.

 

Bild-Nr. 726

 

Transparenzhinweis: Kurt Sonn war mein Patenonkel. In seinem Atelier posierte ich als Knirps zum Beispiel für eine Märklin-Werbekampagne, mit der er unter anderem den Lebensunterhalt für seine achtköpfige Familie verdiente. Dank dieser Brotjobs konnte er sich die Malerei leisten.

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„Den Armen eine Stimme geben“

Was tun, wenn das Geld ausgeht? Vor zwei Jahren habe ich schon einmal in Berlin nach Antworten gesucht. Viele wollten nicht über das leidige Thema reden. Bloß nicht! Mit Hilfe des Diakonischen Werks konnte ich einige wenige Menschen finden. Celin ist Mutter und Grundsicherungsbezieherin. Ihr Sparalltag: „Wir schneiden den Gürtel einfach enger. Sparen da, wo wir können. Man sieht einfach zu, dass man mit den Lebensmitteln besser, länger klarkommt, eben mal mehr Eintöpfe kocht, auf Fleisch und auf einige Sachen, die sehr teuer geworden sind, verzichtet.“

Verzicht heißt das: Auf Fleisch, Reisen, Klassenfahrten, neue Klamotten Theater, Kino, Konzerte, Restaurantbesuche, kurzum auf Teilhabe am Leben. Dazu hoffen, dass die Waschmaschine durchhält oder nicht schon wieder die Miete erhöht wird. Herr K., so nennen wir ihn, sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl und ist gleichfalls Grundsicherungsbezieher. Er verrät uns einen seiner Spartricks. Er kocht montags Eier für die ganze Woche vor: „Ich habe gerne ein Frühstücksei auf dem Tisch, was ich mir früher jeden Tag gekocht habe. Da habe von meiner Grundsicherung noch den Strom zahlen können und jetzt koche ich halt vier Eier und esse drei Tage halt ein Kaltes, so spare ich zum Beispiel dreimal das Eierkochen.“

 

Eier für die ganze Woche vorkochen. Ein Spartipp von einem, der mit jedem Cent rechnen muss.

 

Die neuen Zahlen müssten eigentlich eine Gesellschaft wachrütteln. 17,5 Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik in Armut oder sind armutsbedroht. Sechzig Prozent der Tafeln müssen mittlerweile Lebensmittel rationieren. Weil die Nachfrage drastisch steigt, aber das Angebot permanent sinkt. 2025 wird für viele eine Herausforderung. Große Unternehmen bauen Jobs ab, Kosten der täglichen Daseinsvorsorge wie Wohnen, Lebensmittel, Strom, Benzin, Gas, Krankenversicherung oder Pflegekosten steigen. Nicht nur gefühlt, sondern in Euro und Cent. Die Lebensmittelkosten sind im Vergleich zu 2023 um +41% nach oben geschnellt. Die Energiekosten nehmen mit +37% Teuerung nur eine Richtung ein: nach oben. Wer an der Armutsgrenze lebt, muss genau rechnen: Einmal Duschen kostet 1,10 Euro, einmal Wäschewaschen 1,20 Euro. „Das können sich viele nicht mehr leisten“, sagt Thomas de Vachroi, Armutsbeauftragter der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

 

„Der Armut eine Stimme geben“. Das ist die Mission von Thomas de Vachroi. Er kümmert sich als Armutsbeauftragter der ev. Kirche um Menschen in Not. NIcht nur an Weihnachten.

 

Der Kirchenmann versteht sich längst als Sozialarbeiter. Er rechnet für das neue Jahr „mit einem Sozial-Tsunami, der auf uns zurollt“. Seit einiger Zeit müsse er „einen kompletten Wechsel“ von Menschen in Not feststellen. „Neu sind viele Jüngere und Frauen, ihr Anteil ist auf ein Drittel gestiegen. Das gabs früher nicht“. Was zudem immer vergessen werde, ist die grassierende Altersarmut. „Die Alten verstecken sich, ihre Armut ist unsichtbar. Sie leben in Einsamkeit“. In der Neuköllner Tee- und Wärmestube in der Weisestraße sei das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten 40:60. Was hat sich noch verändert? – „Es gibt kein Lächeln mehr. Das Land befindet sich in einer depressiven Phase.“ Die Betroffenen hätten keine Hoffnung auf Besserung. Von der Politik erwarte man rein gar nichts mehr. Herr Vachroi, was ist zu tun? – „Der Armut eine Stimme geben“, ist seine Antwort. Diese bundesweite Kampagne hat den engagierten Protestanten bis zum Papst geführt.

Was tut not? Es brauche Aufmerksamkeit, Spenden und gesellschaftlichen Druck, Armut endlich als Thema anzugehen. Das beginne damit, dass man Lebensmittel nicht in die Tonne wirft. „Wer so etwas macht, ist emotional und sozial arm.“ Der 63-jährige ist sichtlich empört. Gleichgültigkeit sei ein großes Problem.  „Menschen fragen sich: Kann man sich das Leben noch leisten? Wenn man in einem reichen Land eine solche Frage stellt, dann müssen wir uns in Grund und Boden schämen.“ Zum Schluss noch eine Frage: Wann wird der Armutsbeauftragte überflüssig? – „Wenn wir unsere Einrichtungen schließen könnten.“ Vachroi setzt eine Pause: „Aber ich werde es in meinem Leben nicht mehr erleben.“

 

Einer der Wärmestuben-Besucher bat mich, einen Song von Bruce Springsteen zu spielen. Gerne geschehen. „The Ghost of Tom Road“ nach der Vorlage aus John Steinbecks Roman: „Früchte des Zorn“.

 

Wer helfen will oder wer Hilfe braucht. Die Tee- und Wärmestube in Neukölln ist eine gute Adresse in Berlin.

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Adam, der Wundergeiger

Adam Bałdych gilt als „Wunderkind an der Violine“. Als „der größte lebende Geigentechniker der Welt“ (FAZ). Der polnische Jazzgeiger entlockt seiner „geliebten Braut“ sehnsuchtsvoll-ungewohnte, verzaubernde Töne. Er balanciert, zupft, zwickt, streicht und stürmt über die vier Saiten seiner Geige wie ein Seiltänzer ohne Netz und doppelten Boden. Der 38-jährige mit dem Hipster-Zopf hat sich in die erste Liga der Solisten gespielt. Stets auf der Suche nach einem neuen Mix aus Jazz-, Folk-, und Klassik. Von zart bis rau, von melancholisch-verträumt bis teuflisch-wild. Ausgebildet im polnischen Katowice und am Berklee College in den USA legt der vielfach ausgezeichnete Warschauer mit Portraits ein neues, sehr persönliches Album vor. Bałdych interpretiert in fünfzehn Liedern Zeitzeugenberichte des II. Weltkrieges – aus seiner Heimat Polen.

 

 

„Mit neun Jahren entschloss ich mich, eine Musikschule zu besuchen“, erzählt Bałdych: „Polen hat große Musiktradition, speziell beim Klavier.“ Zur Violine greift Bałdych mit elf. Seine Vorbilder: „Ich war sehr von den berühmten osteuropäischen Komponisten beeinflusst: Rachmaninoff, Chopin und Tschaikowski.“ Mit dreizehn entscheidet sich Adam für den Jazz: „Er gab mir die Freiheit, die ich suchte.“ Besonders gerne geht Bałdych mit dem norwegischen Pianisten Helge Lien, „dem Meister der nordischen Kammermusik“, auf musikalische Reisen.

Bałdychs Album „Portraits“ greift Schicksale aus dem II. Weltkrieg auf. Der Künstler entdeckte sie in zahlreichen Archiven, mitbeteiligt das Berliner Pilecki-Institut. In der polnischen Erinnerungskultur nehmen der Überfall Hitlers auf Polen am 1. September 1939 und besonders der blutige Warschauer Aufstand einen wichtigen Platz ein. Der verzweifelte Kampf des polnischen Widerstands gegen die NS-Besatzer von August bis Oktober 1944 steht für Mut und Hoffnung, Tragik und Trauma. Das Scheitern des Aufstands wirkt bis heute nach. Die Lernkurve bedeutet schlicht und einfach: Freiheit gibt es nicht umsonst.

Wiegenlied.

 

Wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart besser. Dieses Motto treibt den Ausnahme-Geiger um. Bałdych beschäftigt sich mit der „Musik in Auschwitz“. Ein Standardwerk des Komponisten Szymon Laks aus dem Jahre 1967. Dessen Buch erzählt in erschütternden Briefen, Fotos und Dokumenten von der überlebenswichtigen Funktion der Musik im Alltag von Auschwitz-Birkenau. Bałdych: „Das Thema fühlt sich für mich sehr wichtig an, im Angesicht der wachsenden Konflikte in Europa und in der Welt. Ich habe Zeitzeugenberichte gelesen und ich wollte mich gegen das stellen, was Tausende heute wieder erleiden müssen. Ein Aufruf zum Frieden in der Welt. Es sind sehr emotionale Stücke entstanden, die versuchen, Menschen und Lebensbedingungen und die Zeit, in der wir leben, zu porträtieren“.

Adam Bałdych testet in seinen Episoden wie „Wiegenlied“ die Schnittstellen zwischen Jazz und klassischer Musik aus. Er mischt in seine fünfzehn eindrucksvollen „Portraits“ traditionelle polnische und jüdische Musik-Zitate. Weltmusik im besten Sinne, in dunklen, stürmischen Zeiten.

 

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Chemnitz 2025. Was geht?

„Chemnitz war und ist die Stadt der fischilanten Friemler. In ihrer Mitte thront der Nischl“, so trommelt das Land Sachsen für Europas künftige Kulturhauptstadt 2025. Alles klar? Fischilante Friemler? Das bedeutet ungefähr clevere, patente Tüftler und Bastler. Motto: Reparieren, statt wegwerfen. Aus alt macht neu. Weiter mit Sächsisch für Anfänger: Nischl ist der Spitzname für das 40-tonnenschwere Karl-Marx-Monument des russischen Bildhauers Lew Kerbel. Die einst regierende SED verpasste der sächsischen Malocherstadt erst den Namen Karl Marx. Später schenkte die Partei noch einen riesigen Schädel. Apropos: Karl Marx war nie in Chemnitz.

Den meisten fällt zu Chemnitz außer Karl Marx … gar nichts ein. Da wären noch Stefan Heym oder die erfolgreichen 99er-Basketballer, aber dafür begeistert sich nur eine Minderheit. Und sonst?

 

Welch ein Wandel. Knapp vierzig Jahre hieß die sächsische Stadt in der DDR: Karl-Marx-Stadt. Seit 1990 wieder Chemnitz. Ab 2025 die Europäische Kulturhauptstadt 2025.

 

Chemnitz heute: 250.000 Einwohner. Jede Menge Raum, viel Leere. Dazu Aufgegebenes und Zusammengestückeltes. Chemnitz hat die niedrigsten Mieten und den größten Leerstand von allen deutschen Großstädten. Vom „sächsischen Manchester“, einst Zentrum der Textilproduktion, sind Erinnerungen, leere Fabriken und jede Menge Industrieruinen geblieben. Nun feiert das graue Chemnitz ein ganzes Jahr lang seine Zeit als europäische Kulturhauptstadt 2025. Eine echte Challenge für die vielfach übersehene Stadt. So lautet das Kampagnenmotto, zeitgeistgestylt: „C the Unseen“. Chemnitz soll sichtbar werden. Als lebenswerte Stadt mit Ecken, Kanten und Brüchen. Als Plus der raue Charme des Unfertigen und Unvollkommenen. Chemnitz, das Aschenputtel. Eine Liebe auf den zweiten Blick?

 

„Twister again“ von der Bildhauerin Alice Ayrock. Ein Exponat des Kunst- und Skulpturenpark „Purple Path“ rund um Chemnitz. Foto: Kulturhauptstadt Chemnitz 2025

 

Als Höhepunkte im Kulturhauptstadtjahr werden Purple Path, ein Kunst- und Skulpturenweg angekündigt, dazu Friedensfahrten auf dem Rad, genannt European Peace Ride, eine Opernpremiere von „Rummelplatz“ nach dem Roman von Werner Bräunig und „Tales of Transformation“, eine neue Ausstellung im Industriemuseum. Hier soll ab April 2025 die Entwicklung ehemaliger europäischer Arbeiter-Hotspots wie Lodz, Manchester oder Chemnitz skizziert werden. Schließlich hieß Chemnitz in der DDR fast vierzig Jahre lang Karl-Marx-Stadt. Über allem leuchtet der von Konzeptkünstler Daniel Buren bunt gestaltete Schornstein des Kraftwerks Chemnitz-Nord.

 

 

Aus dem Schweiß und Staub von Karl Marx Kapital schlagen, für die Zukunft? Das bescheidene Chemnitz bietet denjenigen, die genauer hinschauen, eine Menge. Eine lebendige Musikszene mit den Local Heroes Kraftclub, Blond, Baumarkt und der jungen DJane Tereza mit ihrem Chemnitz/Detroit-Projekt. Lange Nächte werden im Kultclub Atomino gefeiert, mit Konzerten, Lesungen und Performances. Beheimatet in einer pittoresken alten Fabrikhalle auf dem Wirkbau-Gelände. Das Atomino-Team Beate Düber, Maria Tomas Llera Pérez und Jan Kummer steht für einen Kraftort, der unfertig, innovativ und aufgeschlossen ist – wie Chemnitz. Jenseits aller AfD- und Baseballschlägerjahre-Klischees. Jan Kummer: „Ich könnte jetzt nicht mit Gewissheit sagen, wie die Stadt in zehn oder fünfzehn Jahren aussieht. Das war schon immer so. Und das macht es natürlich spannend.“

 

 

Zuletzt noch eine lokale Spezialität zum Antesten: die Chemnitzer Platte. Maßstab 1 zu 30. Grau, aus einem besonderen Teig, Rezept bleibt geheim. Das Neubau-Gebäck soll für das drittgrößte Neubaugebiet der DDR in Chemnitz werben. Das Institut für Ostmoderne ist überzeugt: Wenn die Platte schmeckt, kann es ein Traditionsgebäck wie der Frankfurter Kranz werden. Motto: Man drehe einfach die üblichen Vorurteile über den grauen Osten stilsicher um. Und fertig sei mit der Chemnitzer Platte ein neues Erfolgsprodukt. Bereits gefeiert und genossen auf der Grünen Woche in Berlin.

Chemnitz 2025. Jede Menge Fragen, Erwartungen, Klischees und Vorurteile. Hier gibt es erste Anlaufstellen: Kosmos Chemnitz. Kunstfestival Begehungen 2025. Enter Kulturregion 2025. Hier noch das offizielle Programm mit dem Versprechen: „Es erwartet Sie ein Culture Clash zwischen Hochkultur und lebendiger Indieszene, zwischen Jugendstil, Industrie- und DDR-Architektur sowie postsozialistischer Moderne.“ Chemnitz – Kulturhauptstadt Europas 2025.

 

Noch ein Lesetipp:

Patricia Holland Moritz. Kaßbergen.