Archive for : Oktober, 2015

post image

Die Shanghai-Boys

Sonntagabend. Punkt Sieben. Sechs alte Herren nehmen Platz. Weiße Sakkos, schwarze Fliege. Die dünnen Haare gegelt, Strähnen sorgfältig über das blanke Haupt gefaltet. Die Herren geben sich gelassen und abgeklärt. Der Älteste am Saxofon ist 94 Jahre alt. Der Schlagzeuger bohrt in der Nase. Der Trompeter checkt letzte Nachrichten auf dem Smartphone. Dann aber höchste Konzentration. Denn ihr Name verpflichtet: Old Jazz Band.

Auf geht´s. Die Show beginnt im Peace Hotel. Einst erstes Haus der Kolonialzeit mitten in Shanghai. Eine vornehme Adresse. Nun wieder schick saniert. Aber auf sympathische Art leicht verstaubt, ein wenig aus der Zeit gefallen. Que sera erklingt. Ein paar Besucher wippen mit den Füßen. Eine elegante Schönheit nimmt in der ersten Reihe Platz. Die junge Dame bestellt ein Glas französischen Rotwein. Das Viertel zu dreißig Euro. Die Preise im Peace Club sind gesalzen. Der teuerste Champagner kostet 17.000 Yuan. Das sind umgerechnet fast 3.000 Euro. Natürlich kommt die Flasche aus Frankreich, genau richtig gekühlt, versteht sich.

IMG_1220

Jeden Abend im Peace-Hotel in Shanghai. Die Old Boys geben sich die Ehre. Mister Zhou Wan Rong in der ersten Reihe. Mitte. Er ist 94 Jahre alt.

Überhaupt. Zwischen den Stücken machen die alten Knaben lange Pausen. Es folgt ein bizarres Schweigen. Aus dem Nichts gibt der Pianist ein Zeichen. Dann geht´s weiter. Oh, when the saints go marching on. Die Shanghaier Millionärstochter nippt an ihrem Weinkelch, produziert am laufenden Band Selfies. Schaut her, bin ich nicht schön! Sie bittet den Kellner Aufnahmen von ihr mit der Band zu machen. Sie wirft sich vor der Old Jazz Band in Positur, das Weinglas in der Hand. Der Kellner kommt ins Schwitzen. Er muss ausdauernd lange knipsen, bis Madame endlich zufrieden ist. Die Band spielt stoisch weiter.

Eine chinesische Touristengruppe füllt den Saal. Junge Chinesinnen schießen Fotos, widmen sich dann gleichfalls nur noch ihren Handys. Eine Schweizerin erklärt am Nachbartisch ihrer Familie, das sei doch hier ein echtes Erlebnis. Ganz authentisch.

IMG_1222

Das Hotel Peace wurde 1929 eröffnet. Es überlebte Krieg, Kulturrevolution und neureichen Tiger-Kapitalismus. Der Jazz lebt.

 

Zhou Wan Rong ist der älteste Musiker. 94 Jahre alt. Er ist älter als das Hotel. Eröffnet als Carthey Hotel 1929 entwickelte es sich zum glamourösesten Ort des neureichen Shanghais. Hier verkehrte die feine Gesellschaft. Abenteurer, Reisende, Geschäftsleute, Diplomaten. „Die Elite der Welt“, heißt es. Das Hotel steht heute wieder als Zeuge für „Stil, Energie und Würde“, verspricht der Werbeflyer.

Der Saxofonist Zhou war in der Mitte des Lebens, als Mao 1956 in diesem Haus eine Friedenskonferenz abhielt. Da war er 45 Jahre – im besten Alter. Mao machte aus dem kolonialen Treffpunkt das Peace Hotel. So heißt es noch heute. In der Kulturrevolution durfte in der Hotelbar kein Jazz gespielt werden. „Dekadent, kapitalistisch, Ausdruck einer untergegangenen Epoche“.

shanghai-fairmont-peace-hotel-295902_1000_560

Das Peace-Hotel am Bund. Neuer alter Glanz in Shanghai. Glamour ist alles.

Mit der Reform der neunziger Jahre kehrte der Jazz zurück. Seitdem spielt wieder die Old Jazz Band. Über fünfhundert Jahre Erfahrung. As times goes by. Jeden Abend um sieben. Der Beifall ist dünn aber höflich. Was soll´s? Zhou Wan Rong hat viele Gäste kommen und gehen sehen. Für einen Song steht er noch einmal auf. Samba braucht Bewegung. The show must go.

Mister Zhou setzt sich wieder. Er wartet auf seinen nächsten Einsatz. Als Saxofonist braucht er einen langen Atem. Das junge Fräulein winkt mit der Kreditkarte, begleicht ihren Rotwein, verschwindet in der Nacht von Shanghai. Sie will sich offenbar woanders weiter amüsieren. Mister Zhou spielt sein nächstes Solo. Auf einem Plakat vor dem Hotel Peace steht: „Die Rückkehr der Legenden“, während Touristen-Massen achtlos vorbeiziehen.

Sehnsucht nach der arschlochfreien Zone

Berlin leuchtet. Doch nur das Landleben verspricht Erfüllung. Viele gestresste Kopfarbeiter der Großstadt suchen in Brandenburg ihr Seelenheil. Es ist die ungestillte Sehnsucht nach dem einfachen, natürlichen Leben. Nach einer arschlochfreien Zone, so Max Moor, allseits präsenter TV-Moderator und märkischer Vorzeige-Aussteiger. Leitfigur vieler Schreiber, Sänger, Tänzer, Performer, Dokumentarmacher, Diskussionsingenieure, Lecture-Virtuosen, Postdramatisten und Gender-Aktivisten. Sie wollen offline gehen im Märker-Land. Im Land mit der geringsten Internet-Dichte. Das Netz ist hier noch analog.

 

Die Sehnsüchtigen möchten die Freiheit des Landes genießen, aber bloß nicht zum Landei mutieren. So verwandeln Berlin-Aussteiger ihr Leben in eine Doppelexistenz. Sie eint ihr Blick für das Besondere und der Wille, sich neben dem Job in Büros oder Banken handwerklich aktiv zu werden. So werden Herrenhäuser, verfallene Vierseithöfe oder ramponierte Gutshäuser umgebaut. Uckermark, Prignitz und Oderbruch sind Regionen voller Lehrer, Staatssekretäre oder Schriftstellerinnen, die mit der Schubkarre Ställe ausmisten und alte Scheunen in architektonische Gesamtkunstwerke verwandeln.

Meistens bleibt die Sehnsucht das, was sie ist. Sie soll sich nicht erfüllen. Während einheimische Brandenburger vom weltweiten Netzanschluss träumen, beackern Stadtmüde ihre Phantasien vom Ausstieg. Authentisch ist ihr Lieblingswort. Die Zugereisten geben Kühen Namen und funktionieren Schweineställe in Konzertsäle um. Die Zweitwohnsitzler entwickeln einen ausgeprägten Hang zur Romantik.

Zeitschrift_Die Schoenheit 2_1907_B300px

„Die Schönheit“. Eine der vielen Postillen aus der Lebensreform-Bewegung. In Werder bei Berlin funktionierte Karl Vanselow (1876-1959) seine Villa in einen „Garten der Schönheit“ im.

 

Es ist der Rausch in der Askese, eine sehr preußische Devise. Durch Geduld, Hingabe und Disziplin erschließen sich „wahre“ Schönheit und Fülle des Lebens. Beruhigend ist, dass sich die öden, sperrigen Dörfer einer Liebe auf den ersten Blick eher verweigern. Das Sperrige ist der beste Schutz der Märker. Andererseits: Ohne diesen Boom der Kunsthöfe oder Kulturscheunen versänken viele Dörfer in malerischer aber elender Eintönigkeit.

Die Raus aufs Land-Bewegung ist nicht neu. Schon Ende des 19. Jahrhunderts träumten Großstadtmenschen Aussteigerträume. Mehr über Landlust-Utopien im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam. „Einfach. Natürlich. Leben. – Lebensreform in Brandenburg 1890 – 1938.“ Bis 22. November 2015.

post image

Die an das Recht glauben

„Doch er war ein Held“, sagt Jacqueline van Maarsen nach längerem Zögern. „Ich hatte immer gedacht, meine Mutter hat uns das Leben gerettet.“ Die Niederländerin Jacqueline, heute 86-jährig, war die beste Freundin von Anne Frank. Sie überlebte, weil der zuständige NS-Rassereferent beide Augen zudrückte und ihre Familie verschonte. Seine Name: Hans Calmeyer. Ein deutscher Jurist. Ein ungewöhnlicher Mann.

jugendfoto-j_full

Jacqueline van Maarsen im Alter von vierzehn Jahren (* 1929). Die beste Freundin von Anne Frank. Eine der „Calmeyer-Juden“. Sie überlebte, weil ein deutscher Jurist seinem Gewissen folgte.

 

Sein stilles Wirken im besetzten Holland ist weitgehend vergessen. Dabei hat der Mann mehr Menschenleben gerettet als der berühmte Oskar Schindler, dem Hollywood ein Denkmal gesetzt hat. Seine Geschichte hat Jurist Hans Calmeyer in einem Lebenslauf selbst zusammengefasst. Geschrieben in der dritten Person kurz nach Kriegsende. Sachlich, distanziert, im Stile eines Chronisten. Hier einige Auszüge aus seinem Lebenslauf:

„Am 23.06.1903 zu Osnabrück als dritter Sohn eines Richters geboren, verdankt Hans-Georg Calmeyer seinem Elternhaus eine überdurchschnittlich vielseitige Erziehung. Ein ausgeprägtes Empfinden der Rechtlichkeit ist Erbgut der im hannoverschen Land bodenständigen Familie. Die disziplinierte Geistigkeit und logische Bestimmtheit des ältesten Bruders begleiten ihn auf seinem Bildungsweg als Jurist, die musische Empfänglichkeit und Begabung des zweiten Bruders erschließt ihm die Dichtung und Musik, Rilke und Bach.

Für den 15-jährigen wird der deutsch-polnische Grenzkampf in der Provinz Posen 1918 bis 1919 erstes Erlebnis und Problem. Die ersten Universitätsjahre in Freiburg i.B., Marburg und München bringen Begegnungen mit der Jugendbewegung, Kathedersozialisten, mit der Kunstgeschichte (Strich, Wölfflin) und der Geografie (Haushofer, Mendelssohn-Bartholdy). Der 9. November 1923 findet Calmeyer in München als Angehörigen einer Studentenkompagnie der schwarzen Reichswehr, nicht aber als Gefolgsmann Hitlers. Auslandsreisen nach Italien und der Schweiz und die das Studium abschließenden zwei Jahre an der Universität Jena machen C. für seine Freunde zum „unheilbaren Sozialisten“. Seine Neigungen nähern ihn dem Tagebuch-Kreis, Leopold Schwarzschild, Tucholsky, Ossietzky.

 

15_04_calmeyer2

Hans Calmeyer 1931.

1932 zieht er den freien Beruf des Anwalts einer Einspannung in die Enge einer Beamtenlaufbahn vor. Für die Nationalsozialisten in Osnabrück gilt Calmeyer als Salonbolschewist. Er wird als politischer Gegner aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Nach einem Jahr rehabilitiert und wieder zugelassen, aber bis 1936 von der Gestapo noch beschattet.
Den Juristen ruft im März 1942 das Reichskommissariat aus der Truppe als wissenschaftlichen Hilfsarbeiter des Generalkommissars für Verwaltung und Justiz nach Den Haag. Die ganz zufällig an C. fallende Aufgabe, in Zweifelsfällen aus der Verordnung des Reichskommissars über die Meldepflicht von Juden und Mischlingen zu entscheiden, gibt sogar in seine Hand (also in die Hand eines grundsätzlichen und erbitterten Gegners der deutschen Judengesetzgebung) die quasi-richterliche Einordnung von Grenzfällen.

 

Calmeyer Portrait 1940

Hans Calmeyer. Das Reichssippenamt in Berlin mit Sitz am Schiffbauerdamm 26 schöpfte Verdacht. Im Herbst 1944 sollte sein Fall näher untersucht werden. Die nahende Front rettete ihn.

 

Für die bösen Zungen des Reichskommissariats wird C. zum „Juden-Calmeyer“; der höhere SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, der Repräsentant Himmlers dort, nennt ihn „Beschützer aller Juden“ und „Saboteur der Judengesetzgebung“.
Vielleicht ist es aber gerade der uneingestandene Respekt, den die damals so zahlreichen Rückgratlosen vor dem Außenseiter und Nichtparteigenossen haben, der dazu führt, das C. seinen Posten behält, und der seinen Entscheidungen Dauer verleiht.

Der von Europa abgefallene Deutsche, der den Götzen Gewalt anbetete, kann zur abendländischen Gemeinschaft nur zurückgeführt werden durch Menschen, die nicht an Maschinengewehre, aber an das Recht glauben.“

Soweit Hans Calmeyer über sein Leben.

 

Der Ausnahme-Jurist hat über dreitausend niederländischen Juden vor der Deportation bewahrt. Er hat Juden einfach „arisiert“. In Deutschland ist dieser „Schindler“ vergessen. 1992 nahm ihn Yad Vashem in die Liste der „Gerechten der Völker“ auf. Die neue Biografie von Mathias Middelberg beschreibt eindrucksvoll sein Leben. „Hans Calmeyer. Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?“ Wallstein, 2015.